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E-Book

Tanzende Bären

Die Sehnsucht nach alten Hierarchien und die Herausforderungen der Freiheit

AutorWitold Szablowski
Verlagars vivendi
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl250 Seiten
ISBN9783747200452
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Viele Generationen lang hielten sich bulgarische Roma Tanzbären, um das Auskommen ihrer Familie zu sichern. Während der kommunistischen Ära und darüber hinaus geduldet, wurde diese ausbeuterische Praxis mit dem Beitritt des Landes zur EU endgültig verboten. Witold Szablowski hat sich nach Bulgarien begeben, um vor Ort mit den ehemaligen Bärenhaltern zu sprechen und die Bären in ihrem neuen Zuhause, einem eigens angelegten Wildpark, zu besuchen. Das irritierende Verhalten der Tiere dort erinnerte ihn an die Argumente ihrer einstigen Besitzer, die sich, in scheinbarer 'Freiheit' der jungen Demokratie lebend, die alten Strukturen zurückwünschten. Bestürzt und fasziniert von dieser Geschichtsverklärung, setzte Szablowski seine Reise in anderen postkommunistischen Staaten fort. Auch dort traf er viele, die den Untergang des Realsozialismus nicht verkrafteten. Seine Gespräche mit Stalin-Verteidigern in Georgien oder Castro-Anhängern in Kuba sind Zeugnisse dessen, dass ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit für uns alle keine Selbstverständlichkeit ist.

Witold Szab?owski, 1980 geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er hat in Warschau und Istanbul Politikwissenschaft studiert und bereits im Alter von 25 Jahren für die Tageszeitung Gazeta Wyborcza gearbeitet, für die er weltweit angelegte Recherchen betreibt. Für seine Reportagen und Bücher erhielt Szab?owski wichtige polnische und internationale Auszeichnungen, darunter den Journalistenpreis des Europäischen Parlaments, den Ryszard-Kapu?ci?ski-Preis sowie den britischen PEN Award.

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Leseprobe

 

VII. Löwen nach Afrika

1.

Seit ein paar Jahren ist bei Vier Pfoten bezüglich der Tanzbären Ruhe eingekehrt; inzwischen wurden alle von ihnen den Zigeunern abgenommen und im Bärenparadies in Belitsa untergebracht. Doch das bedeutet nicht, dass die Mitarbeiter des Parks sich woanders nach einer Arbeit umschauen müssen. Die Organisation hat nämlich ein neues wichtiges Ziel:

Sie schickt Löwen nach Afrika.

Dimitar Ivanov hat schon zwei von ihnen persönlich verschickt.

»Löwen kaufen Leute, die zu viel Kohle haben und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen«, sagt er. »Der Erste, von dem wir erfahren haben, war ein Typ, der in der Nähe der Stadt Mělník lebte und sein Geld mit Drogen gemacht hatte. Die Leute sagen, dass er früher eine Amphetaminfabrik besaß, und als er genug verdient hatte, gab er sie auf und eröffnete ein Hotel mit Restaurant im Norden des Landes, an einem wunderschönen See. Der Löwe fungierte dort als Attraktion.

Wie bei den Bären mussten wir uns ein klares Ziel setzen.

Ziel – Löwe.

Mission – Befreiung des Löwen.

Der Löwe, dem Löwen, des Löwen, mit dem Löwen, über den Löwen.

Zunächst bin ich zu diesem Hotel gefahren, um die Lage zu erkunden. Für so ein Vorhaben muss ich mich immer gut vorbereiten. Ich bin oft in den bulgarischen Medien zu sehen, und ich weiß nie, ob mich jemand aus dem Fernsehen oder der Zeitung kennt. Mein Grundsatz: Spiel den Dummen. Am besten: einen sehr Dummen.

Also setzte ich eine Sonnenbrille und einen Strohhut auf, nahm den Gesichtsausdruck eines unwissenden Touristen an und fuhr hin. Ich komme da an und sage, dass ich das Hotel auch mit meinen Kindern besuchen möchte und gehört hätte, es gäbe hier eine besondere Attraktion. Darauf die Leute vom Hotel: Oh ja, die gibt es.

Mein zweiter Grundsatz ist: Wenn sie den ersten Köder geschluckt haben, lass sie so viel wie möglich reden. Ich selbst mache dann ein unschuldiges Gesicht, nicke und stelle höchstens hier und da eine Frage; Hauptsache, eine nicht allzu kluge. In diesem Hotel hat das hervorragend funktioniert, denn schon an der Rezeption bekam ich alle Details: was für ein Löwe es war, wie lange sie ihn schon hatten, was sie ihm zu fressen gaben. Am Ende machte ich noch ein paar Fotos von ihm.

Mit diesem Beweismaterial konnte ich zur Polizei fahren.

Doch da fängt es oft an, schwierig zu werden. In der bulgarischen Provinz kennt der Besitzer eines großen Hotels alle – Beamte, Polizisten, den Bürgermeister. Sie werden dir gegenüber mit den Köpfen nicken und sagen, das Halten eines Löwen auf einem Privatgrundstück sei gesetzeswidrig. Aber hintenrum werden sie alles in die Länge ziehen und sich irgendwelche Hindernisse einfallen lassen. Denn so etwas kann man doch nicht machen: einem Kumpel den Löwen wegnehmen! Also erzählen sie dir, die Polizisten seien für den Transport eines solchen Tieres nicht geschult. Ich soll in einem Jahr wiederkommen, oder noch besser in fünf Jahren – in dieser Zeit würden sie die Kollegen schulen lassen. Transformation schön und gut, aber es wird noch lange dauern, bis sich manche Dinge in Bulgarien geändert haben.

Was tun in so einer Situation? Man muss es eine Stufe höher versuchen. Nicht gleich in Sofia, aber in der Regionalhauptstadt. Dort sind diese lokalen Seilschaften nicht mehr so wirksam, und es wird sich jemand finden, der hilft. Die wissen ganz genau, dass unsere Organisation sowohl im Ministerium als auch im Parlament gute Kontakte hat und dass wir noch höher anklopfen können.

Das Umweltministerium hat seine Regionalabteilungen. Theoretisch sollten die Leute dort die ganze Arbeit machen, doch hätten wir auf sie gezählt, würden bis heute Zigeuner mit Bären an der Kette durch Bulgarien ziehen. Diese Leute bekommen ein Gehalt von achthundert Lewa, und ihre Hauptsorge ist, nicht unangenehm aufzufallen, um den Arbeitsplatz nicht zu verlieren.

Wir mussten also alles selbst erledigen.

Das Beschaffen des ganzen Beweismaterials, um den Löwen konfiszieren zu dürfen, dauerte ein paar Monate.

Endlich haben wir alle Papiere, haben die Polizei, die den Löwen konfiszieren wird, haben den Tierarzt, der den Gesundheitszustand des Tieres feststellen und alle notwendigen Dokumente abstempeln soll. Wir fahren hin und sagen zu dem Hotelbesitzer: ›Guten Tag, Sie besitzen einen Löwen. Laut bulgarischem Recht ist der Besitz eines Löwen illegal. Wir sind gekommen, um ihn zu konfiszieren. Bitte geben Sie das Tier heraus.‹

Der Typ schaut uns an, schaut die Polizisten an, schaut auf die Papiere. Betrachtet alles, wahrscheinlich überlegt er, wen er anrufen und ob er noch etwas dagegen ausrichten kann. Man sieht ihm an, dass er irgendetwas abwägt, schließlich öffnet er das Tor und sagt: ›Wenn es so ist, dann können wir nichts machen. Kommen Sie herein.‹

Du denkst, das ging ja ganz leicht, nicht wahr? Auch ich hatte anfangs diesen Eindruck und war überrascht. Doch der Typ war überzeugt, wir hätten nicht die notwendige Ausrüstung, um den Löwen mitzunehmen, und er würde noch einmal davonkommen.

Erst als er das Tor aufgemacht und den heranfahrenden Ambulanzwagen mit dem Tierarzt und unseren Mitarbeitern gesehen hat, begriff er, dass das kein Scherz war.

Der Typ bekam einen Tobsuchtsanfall und fing an zu brüllen. Solche Leute haben ein Gespür dafür, wen sie anbrüllen können und wen nicht. Er ging weder mich noch irgendjemand anderen von Vier Pfoten noch die Polizisten an. Er hatte sich den Tierarzt ausgesucht und wich nicht von seiner Seite, als dieser versuchte, den Löwen zu betäuben. Und er brüllte. Und brüllte. Und brüllte.

›Wer hat dir ein Diplom gegeben, verfickte Scheiße!?‹, schrie er. ›Weißt du, wie man einem Löwen eine Spritze gibt? Hast du überhaupt schon irgendwann mal einen Löwen gesehen?‹

Der Tierarzt begann zu zittern. Was mich nicht gewundert hat. Der Typ war zwei Meter groß und machte den Eindruck, dass er uns gleich schlagen würde. Und die Polizisten standen bei meinem Wagen und taten so, als ob gar nichts passierte. Klar: Wir nehmen den Löwen mit und fahren weg, doch sie werden in dem Ort bleiben und dem Mann auf der Straße begegnen. Der Tierarzt wusste: Wenn der es auf ihn abgesehen hat, wird ihm niemand helfen.

Ob ich ihm irgendwie helfen konnte? Leider nein. Für mich ist der Löwe das Wichtigste. Ich muss ihn möglichst gefahrlos in den Ambulanzwagen packen und mit dem Flugzeug nach Südafrika schicken. Und so kam es auch.

Ein ähnliches Dilemma erlebte ich ein paar Monate später, als wir versuchten, den zweiten Löwen zu holen, der auf einem privaten Gut gehalten wurde.

Sein Besitzer war über viele Jahre der Chef beim Zoll an der bulgarisch-türkischen Grenze gewesen. Zigarettenschmuggel, Benzinschmuggel, Menschenschmuggel – der hat sich für alles schmieren lassen. Und konnte sich dann ein wunderschönes Gut kaufen.

Aus ein paar unabhängigen Quellen erfuhren wir, dass er dort einen Löwen hielt. Es war schwierig, an ein Foto heranzukommen. Ich war bereits ein paar Monate an der Sache dran, doch niemand konnte helfen. Bis uns dieser Mensch auf unerwartete Weise entgegenkam. Er hatte sich so sicher gefühlt, dass er jemandem von der Regenbogenpresse ein Interview gab und Reporter auf seinem Gut herumführte. Der Höhepunkt des Programms war ein Fototermin mit dem Löwen. Den Zeitungsartikel schmückte dann ein Riesenfoto mit der Unterschrift »Unser schnurrender Freund«.

Da der Gutsbesitzer sich selbst ein Bein gestellt hatte, war keine Zeit zu verlieren. Innerhalb von ein paar Tagen organisierten wir ein Team.

Wir fahren vors Haus, die Polizisten stellen sich vor, wir zeigen das Konfiszierungsschreiben.

Der Typ ist nicht zu Hause, aber seine wirklich nette Frau. ›Wenn es illegal ist, dann natürlich, bitte nehmen Sie den Löwen mit‹, sagt sie. Als Gegenleistung verspreche ich ihr, dass sie und ihr Mann ein möglichst niedriges Bußgeld werden zahlen müssen. Sie dankt mir sogar, lässt uns ins Haus und sagt, dass sie nur noch ihren Mann über alles informieren muss.

Sie ruft ihn an, und plötzlich dreht sich die Situation um hundertachtzig Grad. Die Frau übergibt den Hörer an den Polizistenführer, ich sehe, wie er sich versteift, und höre nur einzelne ›Da. Da. Da. Da.‹

Schließlich gibt der Polizist der Frau den Telefonhörer zurück und sagt, dass es laut seinen neuesten Informationen keinen Löwen in diesem Haus geben würde. Einen Moment später sehen wir, wie hinter dem Gebäude ein Jeep losfährt.

Die Frau des Hausherrn verschwindet plötzlich, und in der Tür taucht jemand im Stil eines Majordomus auf. ›Löwe?‹, fragt er verwundert. ›Welcher Löwe? Sie wissen doch, meine Herren, dass der Besitz eines Löwen illegal ist …‹

Wir durchsuchen ohne große Hoffnung das Haus und das Gelände drumherum. Und finden sogar einen Käfig und Spuren, die davon zeugen, dass noch vor Kurzem ein Tier hier gewesen war; wir finden Essensreste, Exkremente. Aber die Polizisten denken nicht daran, Beweise zu sammeln. ›Die Anwesenheit des Löwen konnte nicht festgestellt werden‹, schreiben sie ins Protokoll. Und wir können wieder nach Belitsa fahren.

Nicht ganz eine Woche später ruft mich der Besitzer des Löwen auf meinem privaten Handy an. ›Ich werde ihn abgeben, aber ohne Polizei, ohne Zeugen und ohne Bußgeld.‹

Ich überlege keinen Moment. Der Löwe ist das Wichtigste. Wenn ich ihn nicht rette, könnte ihn der...

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