1. Anstoß: Der Mensch
„Dies ist ein großer Augenblick in der Geschichte des Menschen, wo zum ersten Mal der Mensch seine Arme betend zum eigenen Schicksal erhebt.“
Franz Rosenzweig. Der Stern der Erlösung
Lebenslinien
Jeder Mensch trägt das Kreuz des Lebens auf seine Weise: Geheimnisvolle Wege und Straßen durchziehen die Landschaften der Erde wie Adern unseren Körper. Blutbahnen, Verkehrsadern – manchmal laufen sie parallel, dann verzweigen sie sich wie Äste an einem Baum. Zuweilen berühren sie sich. Manchmal kreuzen sich Wege wie Linien auf der Innenfläche der Hand.
Ob wir einen Straßenatlas aufschlagen oder eine beliebige Verkehrsverbindung im Internet aufrufen, ob wir eine Radkarte oder einen Wanderführer studieren – überall leuchtet das Bild des Kreuzes hervor. Selbst die vom Menschen unberührte Natur in den großen Wäldern dieses Planeten zeigt das Bild des Kreuzes: Elch und Reh suchen sich auf festen Pfaden den Weg durch das Dickicht. Ein Netz von Wegen und Wegkreuzungen durchzieht Birkenwälder und die mit Flechten und Moosen bewachsenen Hochebenen der hohen Breitengrade.
Der Weg ist eines der großen Symbole für den Lebenslauf. Jeder Mensch geht seinen Weg. Jeder hat seinen eigenen Auftrag, seine eigene Berufung, sein eigenes Ziel. Doch niemand geht allein. Noch auf den einsamen Pfaden und Pilgerwegen des Herzens finden Begegnungen statt. Wo sich zwei Wege berühren, da entsteht das Bild des Kreuzes. Das Kreuz markiert den Ort einer Begegnung. Sie wird nicht ohne Folgen bleiben.
Das Kreuz markiert eine Unterbrechung des Alltages. Wir machen Pläne. Wir haben ein Ziel vor Augen. Wir wollen etwas erreichen. Doch jederzeit kann das Unerwartete eintreten. Unser Lebensweg wird durchkreuzt. Jemand macht uns einen Strich durch die Rechnung. Wir werden zum Innehalten gezwungen. Jetzt öffnet sich der Raum. Die Mitte leuchtet auf. Eine Chance bietet sich. Etwas Neues kann sich ereignen. Doch vielleicht müssen wir auch das Alte loslassen. Etwas stirbt in uns, damit wir neu geboren werden können. Das Kreuz kennzeichnet die Mitte. Die Begegnung mit ihr ist immer ein Wagnis.
Ein Hase kreuzt Alexander Puschkins Weg
Das Bild der belebten Straßenkreuzung gehört zu unserem Alltag. In den Großstädten brandet der Verkehr mehrspurig auf die Kreuzung zu. Straßenschilder und Ampeln regeln den Verkehr. Sie steuern den raschen Verkehrsfluss, der selbst nach Mitternacht nicht erliegt. Nirgendwo treffen so viele Menschen aufeinander wie an einer Straßenkreuzung oder einem Autobahnkreuz. Zugleich findet nirgendwo so wenig Begegnung statt. Die Kreuzung ist ein Ort, der zügig durchfahren werden muss. Wer zögert oder gar verweilt, der behindert den Verkehr und gefährdet Leben. Straßenkreuzungen sind keine spirituellen Orte.
In den Märchen und Mythen gelten Kreuzweg und Weggabelung als magische Orte der Begegnung. Hier treffen Reisende aufeinander, verweilen, tauschen Informationen und Waren aus. Doch auch die Geisterwelt liebt diese entlegenen Stätten weit draußen auf den Feldern oder in den Wäldern. Hier blühen die bunten Blumen des Volksglaubens.
Den Weg, den eine schwarze Katze gekreuzt hat, soll man meiden. Das gilt auch für die Begegnung mit dunklen Gestalten auf den nächtlichen Straßen. In seinem humorvollen Versroman „Eugen Onegin“ (1833) lästert Alexander Puschkin über den Aberglauben der schönen Tatjana:
„Sprang unvermutet aus der Saat
Ein Häschen über ihren Pfad,
Dann schlug ihr Herz mit stärkren Schlägen,
Und sorgend eilte sie zurück:
Ihr ahnte künft’ges Missgeschick.“
Was der russische Nationaldichter an dieser Stelle verschweigt, ist der sehr persönliche Hintergrund der Hasengeschichte. Als man Alexander Puschkin zur Zeit des Dekabristenaufstandes nach Moskau rief, kehrte er sofort um, nachdem ein Hase seinen Weg gekreuzt hatte. So entging er der Hinrichtung, nicht aber der tödlichen Kugel bei einem Duell. Er hatte seinen Schwager herausgefordert, weil dieser Puschkins Frau öffentlich Komplimente machte. Ein Bauchschuss durchkreuzte alle weiteren Pläne.
Kreuzwege sind Orte der weißen und schwarzen Magie. Die sichtbare und die unsichtbare Welt geben sich am Kreuzweg ihr Stelldichein. Wo viele Menschen und Geister vorbeigehen, da kann man leicht etwas loswerden. Wer die rechte Zauberformel kennt, weiß der Volksglaube, befreit sich von einem Gebrechen und hext es einem Fremden an. Auch springt ein Fluch an dieser Stätte rasch auf einen Reisenden über und verschwindet in den fernen Weiten des Landes. So ist der Kreuzweg ein Ort der Beschwörung. Nirgendwo lässt sich unkomplizierter ein Bund mit dem Teufel schließen. Hier werden auch die Geister der Toten gerufen. Sie müssen Auskunft geben über Verborgenes und einen Blick in die Zukunft gewähren.
Die Wahl des Herakles
In den Schlüsselsituationen des Lebens erscheint das Bild des Scheideweges. Herakles am Scheideweg – das ist nicht nur eine Geschichte aus griechischer Vorzeit, wie sie der Philosoph Prodikos von Keos berichtet.
Was Herakles einst erlebte, wiederholt sich in jedem jungen Menschen, der vor dem Tor des Lebens steht. Als sich Herakles darüber Gedanken macht, welchen Lebensweg er wählen soll, tauchen plötzlich zwei Frauen auf. Die eine bietet ihm lockere Versprechungen eines glückseligen Lebens:
„Herakles, ich sehe, dass du unschlüssig bist, welchen Weg durch das Leben du wählen sollst. Willst du nun mich zur Freundin wählen, so werde ich dich die angenehmste und bequemste Straße führen. Keine Lust soll dir versagt bleiben, jede Unannehmlichkeit bleibt dir erspart. Um Kriege und Geschäfte brauchst du dich nicht zu bekümmern. Du wirst dich mit den köstlichsten Speisen und Getränken laben, deine Sinne durch die angenehmsten Empfindungen ergötzen, auf einem weichen Lager schlafen und den Genuss aller dieser Dinge dir ohne Mühe und Arbeit verschaffen. Fürchte keine körperlichen oder geistigen Anstrengungen.“
Dann spricht die zweite Frau vom Pfad der Tugend:
„Auch ich komme zu dir, lieber Herakles, denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine Erziehung. Dies alles gibt mir die Hoffnung, dass du, wenn du mir folgst, ein Meister in allem Guten und Großen wirst. Doch will ich dir keine Genüsse vorspiegeln, will dir die Sache darstellen, wie die Götter sie gewollt haben. Von allem, was gut und wünschenswert ist, gewähren sie den Menschen nichts ohne Arbeit und Mühe. Wünschest du, dass die Götter dir gnädig seien, so musst du die Götter verehren. Willst du, dass deine Freunde dich lieben, so musst du deinen Freunden nützlich werden. Soll der Staat dich ehren, so musst du ihm Dienste leisten. Willst du ernten, so musst du auch säen. Willst du deinen Körper in der Gewalt haben, so musst du ihn durch Arbeit und Schweiß abhärten. Zu solchem Leben, Herakles, entschließe dich, und vor dir liegt das seligste Los.“
Kreuz und Körper
Das Kreuz ist in unsere Hände geschrieben. Es leuchtet aus den Falten im Gesicht der lächelnden Greisin. Die zarte Haut des Neugeborenen schenkt Durchblicke in das blau leuchtende Gewirr der Adern. Das Kreuzbein („Os sacrum“) bildet die hintere Wand des Beckens. Dieser Knochen entstand durch die Verschmelzung von fünf Wirbeln. Mit der Kreuzgegend („Regio sacralis“) wird die Rückenfläche bezeichnet. Die dumpfen, drückenden oder ziehenden Kreuzschmerzen treten in der Gegend der Lendenwirbelsäule oder des Kreuzbeines auf. Sie können durch Witterung, Ermüdung oder eine Fehlhaltung bedingt sein. Kreuzschmerzen bei Frauen beruhen oft auf krankhaften Vorgängen in den inneren weiblichen Geschlechtsorganen oder sind Begleitumstände der Menstruation. Akute Kreuzschmerzen treten auch bei Ischias und Bandscheibenschäden auf. Im Volksmund werden sie Hexenschuss genannt.
Wie in der Baukunst und im Handwerk, so verleiht das Kreuz auch in der Anatomie vor allen Dingen Stabilität an den Gelenkstellen des Körpers. Hier sind wir einer erhöhten Belastung ausgesetzt. So sichern die Kreuzbänder jede Bewegung des Knies ab.
Wenn Unterkiefer und vorderer Teil des Oberkiefers sich kreuzen, sodass sich die Schneidezähne nur noch unvollständig oder gar nicht mehr decken, wird von einem Kreuzbiss gesprochen. Ob sich Spender- und Empfängerblut bei einer Bluttransfusion vertragen, wird durch die Kreuzprobe ermittelt. Durch sie werden Fehler in der Bestimmung der Blutgruppen und des Rhesusfaktors ausgeschlossen. Verwundungen des Leibes werden mit einem kreuzförmig gewickelten Verband versorgt. Die Kreuzbinde ist eine Verbandtechnik. Sie wird auch Achtergang genannt. Verbände dienen dem Schutz von Wunden oder Hauterkrankungen und der Ruhigstellung verletzter Gliedmaßen. Das Anlegen von Verbänden ist eine besondere Kunst. Beim Verbinden von Gelenken wird der Achtergang verwendet. Die Bindengänge kreuzen sich dabei über dem Gelenk. Wenn die Kreuzungsstelle in die Länge gezogen wird und sich die Bindengänge im Spiralgang teilweise decken, spricht man von einem Kornährenverband. Brust und Rücken werden mit der Kreuzbinde verbunden. Auch hier werden Kreuzgänge gelegt.
Thomas von Kempen
Begegnungen bereichern das Leben. Begegnungen können aber auch gefährlich werden. Kleine Holzkreuze an den Straßenrändern kennzeichnen den Ort einer tödlichen Begegnung.
Wer unterwegs ist, der setzt sich Gefahren aus. Das gilt schon für den ersten Weg des Kindes vom Elternhaus zum Kindergarten. Wenn es die Straße überquert, so entsteht das Bild des Kreuzes. Wer über die Straße geht, so lernt das Kind in der Verkehrserziehung,...