1. Woher kommt die Übelkeit?
Als Kleinkind war ich ein kleiner Wirbelwind. Ich war immer in Bewegung und liebte es, die kleine Welt um mich herum zu erkunden. Meine Eltern hatten Mühe, mir auf den Fersen zu bleiben, weil ich ständig weglief. Nicht aus Angst oder Unbehagen, sondern weil ich offenbar hinter der nächsten Straßenecke irgendetwas Spannendes vermutete und nichts verpassen wollte. Ich war wissbegierig und fragte den Erwachsenen Löcher in den Bauch. Mit fünf Jahren ging ich von Montag bis Freitag jeden Morgen in den Kindergarten, das war das Beste überhaupt. Auf jeden Fall ein guter Start ins Leben! Wir wohnten in ländlicher Umgebung, und mein Bruder und ich waren viel an der frischen Luft und spielten nachmittags meistens bei uns im Garten, in unserer kleinen Wohlfühl-Oase. Mir fehlte es an nichts, es ging mir fabelhaft.
Ich war ein aufgewecktes, fantasievolles Mädchen mit großen Zukunftsplänen! In der Grundschule träumte ich davon, Schauspielerin zu werden. Während meine Freundinnen sich wünschten, den Beruf der Hebamme oder der Tierpflegerin zu ergreifen, sah ich mich auf der Showbühne. Es machte mir Spaß, mich zu verkleiden und in andere Rollen zu schlüpfen und vor ein Publikum zu treten. Das Kreative lag mir. Mit meiner besten Freundin entwickelte ich ein Theaterstück, und wir verbrachten viel Zeit mit den Proben. In der Realschule fing ich an, Geschichten und Gedichte zu schreiben und hatte schließlich die hochtrabende Idee, Bestseller-Autorin zu werden. Als ich aus der Schule kam, entschied ich mich jedoch für etwas Solides. Ich machte Fachabi, fing an zu studieren und zog nach Bremen. 1991 machte ich meinen Diplom-Abschluss in Sozialpädagogik. Nach dem Anerkennungsjahr fand ich in Niedersachsen eine feste Anstellung in einem Kulturverein, in dem ich bis heute arbeite. Soviel zu meiner Vorgeschichte. Nun komme ich zu den Anfängen meiner gesundheitlichen Beschwerden:
Bereits als Grundschulkind habe ich mich des Öfteren übergeben. Besonders beim Karussell fahren und in diversen Fahrgeschäften auf dem Jahrmarkt wurde mir schnell schwindelig und fürchterlich übel. Auch wenn ich mich für längere Zeit auf einem stark schwankenden Boot befand, musste ich spucken. Häufig wurde mir schlecht beim Autofahren, und mit Eintritt in die Pubertät fast jedes Mal, wenn ich meine Periode bekam. Darüber hinaus hatte ich zu Beginn der Menstruation häufig starke Bauchkrämpfe. Übelkeit und Bauchweh dauerten meistens nur ein paar Stunden an, dann ging es mir wieder gut. Es kam auch damals schon vor, dass die Übelkeit unabhängig von der Menstruation mehrere Tage anhielt und mich komplett außer Gefecht setzte. Ich ging davon aus, dass ich einen empfindlichen Magen hätte.
Nach mehreren Wurzelresektionen beim Kieferchirurgen entwickelte sich im Frühjahr 1995 ein atypischer (idiopathischer) Gesichtsschmerz, der mich über Jahre hinweg permanent quälte. Nach einer aufwendigen Operation 1999 gingen die Schmerzen allmählich zurück, und 2002 kehrte endlich Ruhe ein ... Für mich war das ein kleines Wunder! Aber leider ließen weitere gesundheitliche Probleme nicht lange auf sich warten.
Mit Mitte dreißig vertrug ich plötzlich überhaupt keinen Alkohol mehr. Besonders stark reagierte ich plötzlich auf Sekt und Bier. Mir wurde unmittelbar nach dem Genuss von alkoholischen Getränken richtig schlecht, meine Konzentrationsfähigkeit ließ stark nach, und ich fühlte mich total schlapp und konnte mich überhaupt nicht mehr konzentrieren. Was stimmte nicht mit mir?
Ich ließ Leber- und Nierenwerte überprüfen und meine Schilddrüse untersuchen, aber alles schien in bester Ordnung. Meistens hatte ich zu den genannten Symptomen noch starke Verspannungen im Nacken. Die Übelkeit erlebte ich mal mit Erbrechen, mal ohne. Es gab immer häufiger Phasen, in den ich ein paar Tage hintereinander mit schwerer Übelkeit im Bett lag. Ich hielt das nach wie vor für Magen-Darm-Infekte.
Ich erinnere mich daran, dass ich bereits mit ca. dreißig Jahren extrem auf Wetterumschwünge oder Luftdruckveränderungen reagierte. Wenn ich eine Flugreise unternahm, brauchte ich zumeist einen Tag, bis ich mich wieder regenerierte. Ich hielt das für eine Art Jetlag. Die Übelkeit trat mit der Zeit häufiger in Erscheinung und nahm auch an Intensität deutlich zu. Während meiner Schmerzerkrankung hatte ich latent auch schon unter Übelkeit gelitten. Aber das war nicht mit der Übelkeit vergleichbar, die mir fortan zu schaffen machte. Immer, wenn ich bei meinem damaligen Hausarzt war und er mir eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) wegen einer ‚Magen-Darm-Infektion‘ ausstellte, sagte ich ihm, dass die Übelkeit mit zunehmendem Alter immer aggressiver würde. Er ging nie näher darauf ein, und ich war mir nicht mal sicher, ob er mir überhaupt abnahm, dass ich in gewisser Regelmäßigkeit so massiv unter Erbrechen litt. Vielleicht dachte er, dass ich nur darauf aus war, dass er mir einen gelben Schein ausstellte, oder womöglich war er auch der Meinung, dass ich psychisch labil sei. Dass jemand so häufig über starke Übelkeit klagte, war sicher ungewöhnlich. Ich wusste mir ja auch keinen Reim darauf zu machen, dass mir immer wieder so extrem übel wurde und mich zusätzlich dann auch noch eine bleierne Müdigkeit überfiel.
Meinem Arbeitgeber gegenüber hatte ich natürlich auch ein schlechtes Gewissen, weil ich empfindlicher auf bestimmte Reize reagierte und immer häufiger ausfiel. Mir war das richtig peinlich. Wer gibt schon gerne zu, dass er plötzlich Lärm und grelles Licht nicht mehr verträgt und alle paar Monate und schließlich sogar alle paar Wochen unter schwerem Erbrechen leidet?
Als ich wieder einmal zu meinem Hausarzt wollte, um mir eine AU ausstellen zu lassen, war er nicht in der Praxis und deshalb musste ich zu einem Vertretungsarzt gehen. Ich klärte diesen Arzt über meine Beschwerden auf und äußerte ihm gegenüber, dass ich mir langsam Sorgen machte. „Das ist doch nicht normal, dass ich mich so oft übergeben muss und dann immer gleich so heftig“, sagte ich. „Ich habe gestern Abend ein Bier getrunken. Aber das kann doch nicht der Grund für solch eine starke Übelkeit sein, oder?“ „Sind diese Beschwerden schon öfter aufgetreten, nachdem Sie geringe Mengen Alkohol konsumiert haben?“, fragte er. Ich nickte. „Sind Sie auch empfindlich gegenüber grellem Licht und Lärm?“ „In letzter Zeit schon“, erwiderte ich und fragte mich, worauf er hinauswollte. „Es ist möglich, dass Sie unter Migräne leiden. Ist das in der Vergangenheit schon einmal Thema gewesen?“, fragte er. Ich verneinte das. „Kommt Migräne bei Ihnen in der Familie vor?“, wollte der Arzt nun wissen. „Mein Vater hatte in seiner Jugend Spannungskopfschmerzen, soweit ich weiß. Aber seine Schwestern hatten beide Migräne. Kann die Krankheit denn vererbt werden?“, fragte ich erstaunt. „Ja, wer an Migräne erkrankt, hat die genetische Veranlagung dazu“, sagte er. „Aber ich habe in der Regel doch gar keine Kopfschmerzen“, wendete ich ein. „Das muss auch nicht zwangsläufig so sein“, sagte er. „Es gibt ganz unterschiedliche Migräneformen, mit ganz verschiedenen Symptomen. Die meisten Migränepatienten leiden unter starken, einseitigen Kopfschmerzen, die sich bei Bewegung verstärken. Aber Migräne kann auch beidseitig sein und durchaus auch ganz ohne Schmerzen auftreten.“ Ich war sehr überrascht, das zu hören, das war mir bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannt. „Wie kann man denn jetzt herausfinden, ob ich Migräne habe oder nicht?“, fragte ich. Der Arzt ging zu einem Arzneimittelschrank und drückte mir die Probepackung eines Medikaments in die Hand. „Das ist Sumatripan, ein Akutmedikament. Es wurde speziell für Migränepatienten entwickelt und hilft nicht nur gegen den Migränekopfschmerz, sondern verbessert auch die Begleiterscheinungen der Migräne wie Übelkeit und Licht- und Lärmempfindlichkeit, was in Ihrem Fall ja besonders wichtig wäre. Nehmen Sie das Triptan umgehend ein, wenn die Symptome wieder auftreten. Hilft es, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich um Migräne handelt. Sie sollten sich dann unbedingt bei einem Neurologen vorstellen. Gesetzt den Fall, dass das Medikament nicht helfen sollte, müssen wir weiter nach der Ursache Ihrer Beschwerden suchen.“ Ich bedankte mich bei dem fachkundigen Arzt und trat den Weg nach Hause an. Mir ging durch den Kopf, wie oft ich diese Beschwerden, diese vermeintlichen ‚Magen-Darm-Infektionen‘, im Laufe meines Lebens schon gehabt hatte. Im Grunde, seit ich denken kann. Wie es meine Freundin Angi, die mich seit der Grundschule kennt, einmal ganz unverblümt auf den Punkt brachte: „Mari, du hast schon immer viel gekotzt.“
Niemals zuvor ist ein Arzt auf die Idee gekommen, dass eine Migräne hinter dieser schweren Übelkeit stecken könnte. Aber da ich eben einen untypischen Verlauf hatte, muss ich zugeben, dass sich die Diagnosestellung in...