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Am Sonntag geht Gott angeln

Die Weisheit des keltischen Christentums

AutorDirk Grosser
VerlagClaudius Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783532600528
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Ausgehend von seinen Erfahrungen mit einem mehr als unkonventionellen irischen Priester stellt Dirk Grosser das keltische Christentum als einen Weg vor, die Verbindung zum Wunder der Schöpfung zu stärken und den eigenen Glauben zu einer spürbaren Wirklichkeit werden zu lassen. In den inspirierenden Begegnungen mit seinem Gegenüber wird hier ein tief empfundenes und lebendiges Christentum erlebbar, welches ein authentisches Verhältnis zum Heiligen pflegt, das das grundsätzliche Gutsein der Welt in den Vordergrund rückt und uns alle zur Feier an der großen Tafel Gottes einlädt. Ein wundervolles Buch, das humorvoll und zugleich tiefgründig eine uralte und fast vergessene Tradition vorstellt, die uns heute noch viel zu sagen hat.

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Leseprobe

Anfänge

Möge deine Welt grün sein

und vor Lebendigkeit schier bersten.

Mögest du dich fühlen wie ein Baum,

der seit Ewigkeiten seine Wurzeln in die dunkle Erde streckt,

auf die geflüsterten Geschichten des Landes lauscht

und dessen Äste sich darum ohne jede Angst und Scheu

in den Himmel ausbreiten können.

Wenn Seán seine Familie in Irland besucht, steht meist auch etwas Handwerkliches auf dem Programm. Seán nimmt sich irgendeinen Schmierzettel, berechnet flott die Dinge und dann wird munter drauflosgewerkelt, wobei keine Herausforderung zu groß scheint. Und so hörte ich schon oft frühmorgens Seán und seinen Bruder irgendwo hämmern, sägen und vor allem lachen. Ich schaute aus dem Fenster und sah sie entweder mit absurden Gerätschaften, die man auf einer Großbaustelle vermutet hätte, oder aber riesigen Bauteilen durch die Gegend laufen. Wenn ich fragte, ob ich helfen könne, sahen sie mich immer an, als hätte ich den Verstand verloren. Wahrscheinlich hatte sich die Kunde meines handwerklichen Ungeschicks schon weit über meine heimatlichen Gefilde hinaus verbreitet.

An einem fast sonnigen Morgen saß Seán ganz oben auf dem beinahe fertigen Holzgerüst des neuen Hauses, das sich sein Bruder baute, und hämmerte ein paar Balken zusammen, während Seamus herumbalancierte und wohl einfach die Aussicht genoss. Ich zog mich an, schnappte mir eine Tasse Tee und trat nach draußen. Zwei Männer, einer Mitte 60, der andere fast 70, die ohne jede Sicherung auf einem Holzgerüst herumturnten, das jedem deutschen Bauamt das Entsetzen gelehrt hätte.

„Wenn ich euch zwei schwarze Hüte besorge, könntet ihr auf eurer Scheune glatt als Amish durchgehen“, rief ich hinauf. „Interesse?“

„Ach, die würden mich noch schneller rausschmeißen als die Katholiken“, meinte Seán. „Calvin und ich – das wird nichts mehr in diesem Leben!“ Seamus lachte sich kaputt, versenkte aber trotzdem fachmännisch einen Nagel nach dem anderen. Seán packte indes sein Werkzeug ein und kletterte gewandt wie eine Bergziege von den Dachbalken herunter.

„Komm mit, ich will dir etwas zeigen“, sagte er.

Wir packten ein paar Sandwiches und eine Thermoskanne Tee ein, sprangen in seine Ludenkarre und machten uns auf den Weg.

„Wohin fahren wir?“

„Zum Anfang“, raunte er mit verstellter Stimme, die sich gut für einen Trailer zu irgendeinem drittklassigen Mystery-Thriller geeignet hätte.

Nach etwa 40 Kilometern auf lächerlich engen Straßen, die links und rechts von kleinen Steinmäuerchen begrenzt waren, hielt er plötzlich an. Ich war froh, dass wir endlich da waren, denn sein Fahrstil war nicht unbedingt dazu angetan, mich zu entspannen.

„Da sind wir“, sagte er und schwang sich aus seinem Ledersitz. Ich stieg aus und sah … nichts. Wobei „nichts“ nicht ganz richtig ist. Felder waren natürlich vorhanden, ein paar Sträucher und Bäume, die allgegenwärtigen Steinmauern. „Äh …“, machte ich, doch Seán winkte mich schon weiter: „Ein paar Meter zu Fuß.“

Wir latschten eine Weile über feuchte Wiesen, quetschten uns durch einen halb verfallenen Weidezaun und standen plötzlich auf einem Feld, in dessen Mitte ein beeindruckender Steinkreis zu sehen war. Einige Steine standen aufrecht, andere lagen am Boden, umgestürzt durch jahrhundertelange Bodenerosion, Seewind und die Arbeit ganzer Generationen fleißiger Wühlmäuse.

Eines muss man den Iren lassen: Sie machen kein großes Getue um ihre Kulturschätze! In Deutschland wäre dieser Steinkreis bestimmt von einem Sicherheitszaun umgeben gewesen, es hätte Infotafeln und eine kleine Holzhütte für den offiziellen Aufseher gegeben, der einem Eintrittsgeld abknöpfen würde. Hier jedoch lag dieser geschichtsträchtige Ort verlassen auf einem Feld, das irgendeinem Bauern gehörte, der mit seinem Trecker einfach immer einen kleinen Schlenker um die Steine fahren musste und sich nicht viel dabei dachte.

Die großen britischen Steinkreise in Stonehenge und Avebury waren mittlerweile zu Zirkus-Attraktionen verkommen, doch hier in Irland sahen die Leute ihr Erbe eher locker. Die Steinkreise gehörten ebenso dazu wie die Geschichten, die Pubs und die Kirchen.

Wir setzten uns in den Kreis und ließen die Atmosphäre auf uns wirken.

„Weißt du, was ich an diesen Steinkreisen am schönsten finde?“, fragte mich Seán.

Ich hatte keine Ahnung und zuckte nur mit den Schultern.

„Dass niemand so genau weiß, wozu sie wirklich dienten, was die Menschen glaubten, die sie bauten. Es gibt so viele Theorien, aber letztlich sind sie einfach da. Stehen hier herum wie eine Frage, die nur auf jemanden wartet, der sich von ihr davontragen lässt.“

Man muss vielleicht dazusagen, dass die Steinkreise nicht von den Druiden errichtet wurden, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Es gibt Hinweise darauf, dass die Druiden sie genutzt haben – vielleicht als Kultstätte, als Meditationsplatz, vielleicht als eine Art Observatorium. Aber wahrscheinlich haben auch sie sich schon gefragt, wer diese riesigen Steine hierhergeschafft hat und warum.

Ganz sicher war jedoch – und für mich auch spürbar –, dass die Steinkreise ähnlich wie die Geschichten und Mythen wirkten, denen ich so gerne lauschte. Sie sprachen etwas an, berührten eine Erinnerung in mir, die nicht in meinem Kopf, sondern eher in meinem Bauch verortet war.

„Sag mal, Seán, was sind diese Mythen für dich? Glaubst du sie?“

„Du meinst, ob ich sie für wahr halte?“

Ich nickte.

„Faktisch korrekt sind sie sicherlich nicht“, sagte Seán. „Bestimmt keine Texte, die man in den Nachrichten bringen würde. Aber wahr sind sie dennoch! Wie soll ich das erklären?“ Er blickte einen Moment nachdenklich zu Boden. „Für mich ist etwas wahr, was die Kraft hat, mich zu transformieren, mich in Einklang zu bringen mit einem tieferen Strom von Wahrheit, der fast unbemerkt diese Welt durchdringt. Du kannst diese Kraft Tao nennen – ich nenne sie Gott oder auch Göttin oder aber den kosmischen Christus. Aber das sind alles nur Worte.“

„Die heidnischen Mythen erzählen dir also etwas von deinem Gott?“

„Natürlich! Ich mag die Bibel – ist eine Berufskrankheit –, aber ich denke nicht, dass sich nur dort etwas Göttliches finden lässt. Jeder Mythos erzählt von Gott, erzählt vom Menschsein, von unserer Suche nach Menschlichkeit, unseren ganz grundsätzlichen Fragen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Dürfte dir doch bekannt vorkommen …“

Er grinste mich an und biss in sein labberiges Sandwich.

„Die Steinkreise, das Herdfeuer, die Küsten und Klippen, der Nebel und die Feenhügel – das sind die Geburtsorte dieser Geschichten. Deshalb habe ich dich nach Irland eingeladen. Weil du schon jede Menge Antworten gehört hast, aber keine Geschichten.“

Und genau das holte Seán nun nach. Wir blieben den ganzen Tag, während Seán erzählte, erzählte und erzählte. Wie er immer sagte: „Ich bin Ire. Gib mir ein Thema und ich höre nicht eher auf zu reden, bis du mich erdrosselst …“

Er war jedoch ein verdammt guter Erzähler, der keine Gefahr lief, körperliche Gewalt zu riskieren, sondern es schaffte, mit jeder Geschichte Bilder heraufzubeschwören, ein echtes Kopfkino. Offenbar bestand dieses Land nicht aus Erde, Felsen und Bächen, sondern aus Geschichten, Heldentaten, Irrfahrten, ritterlichen Questen und schamanischen Reisen. Zwischendurch gingen wir an der Küste spazieren, blickten aufs Meer, aßen die letzten Sandwiches (irgendwann bringe ich den Iren bei, wie man Vollkornbrot backt – versprochen!) und saßen bei Einbruch der Dunkelheit wieder im Kreis, in Stein gewordenen Geschichten, in den Nachthimmel aufragenden Fragen.

Der Blick zu den Sternen, umgrenzt von den tonnenschweren Steinen, ließ mich erahnen, wie die Menschen in alter Zeit versucht hatten, die Ordnung des Himmels auf der Erde abzubilden, sich einzufinden in das große Ganze. Schon immer hatten wir Versuche unternommen, HIER zu sein, unser Herz mit der Erde schlagen zu lassen, während sich unser Geist in den Himmel aufschwang. Von dieser Bewegung kündeten alle keltischen Mythen, die in der Landschaft um mich herum und in dem zaundürren Priester neben mir darauf warteten, lebendig zu werden, mich mitzunehmen auf eine Reise zu mir selbst.

Vielleicht ist Irland deshalb so ein Sehnsuchtsland für viele Deutsche: Weil hier etwas gegenwärtig ist, das unsere Tiefe anspricht. Weil der Wind uns die Flausen aus dem Kopf treibt, weil Volksmusik hier alles andere als peinlich ist und weil das Uralte gleichberechtigt neben dem Neuen existiert. Und weil die Wellen des Atlantiks rau sind, unsere inneren Klippen zernagen und unser Herz freilegen, das sich mit einer seltsamen Mischung aus melancholischer Zärtlichkeit und freudiger Zugewandtheit der schlichten Menschlichkeit widmen kann. Der Journalist und Reiseschriftsteller Alfred E. Johann sagte über diese emotionale Vermengung: „Wo auch immer ich mich aufhielt in Irland – dies war das Geheimnis seines Zaubers, dass das Land lächelte unter Wolken von Schwermut.“6

Seán und ich saßen im Steinkreis auf dem Boden, ließen den Blick und die Seele schweifen, sahen zum Himmel empor, spürten die Dunkelheit und die Weite, in der so vieles verborgen und alles enthalten war. Ich dachte an die Kelten, die von Schottland bis Spanien, von Frankreich über Deutschland und Österreich bis in die Türkei ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Spuren ihrer Weltsicht, die ohne analytische Philosophie, aber nicht ohne Geschichten auskam – die immer „sowohl als auch“ statt nur „entweder oder“ enthielt, die nie...

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