1. Einleitung: Faszination Schach
Dieses Buch richtet sich nicht an Schachgroßmeister oder solche, die es werden wollen. Es ist geschrieben für alle diejenigen, die sich für das «königliche Spiel», seine Geschichte und seine Bedeutung in der Politik, der Literatur oder der Informatik interessieren. Auch wer nicht die Regeln kennt, ist vom Psychogramm eines Schachspielers bei Stefan Zweig oder von einer Schachweltmeisterschaft fasziniert, dem Inbegriff eines geistigen Duells auf höchstem Niveau. Für alle «Schachneulinge» werden im Anhang die Regeln des Spiels und die Schreibweise der Züge erläutert.
Berlin, 10. Februar 1910. Im Hotel de Rome verfolgen die Zuschauer gebannt die zehnte und letzte Partie des Wettkampfes um die Weltmeisterschaft im Schach. Der Titelverteidiger, Dr. Emanuel Lasker aus Deutschland, war als klarer Favorit in das Match gegangen. Seit bereits 16 Jahren trägt er den Titel des Weltmeisters, ist Sieger zahlreicher Turniere und hat insbesondere noch nie einen Zweikampf verloren, da bei diesem Format seine variable und erfindungsreiche Spielweise besonders wirkungsvoll ist. Doch diesmal setzt ihm sein Herausforderer, der Österreicher Carl Schlechter, unerwartet zähen Widerstand entgegen. Gegen dessen solides Positionsspiel und präzise Verteidigung hat Lasker noch kein Gegenmittel gefunden und von den ersten neun Partien keine einzige gewonnen, ja sogar die fünfte Partie verloren, als er im Gewinnstreben seine Stellung überzog. Schlechter führt vor der letzten Partie mit 5:4; gewinnt er diese oder erzielt er ein Remis, ist er der neue Weltmeister. Gewinnt Lasker die Partie, behält er seinen Titel, so sieht es das Reglement im Falle eines unentschiedenen Ausgangs vor. Es hängt also alles von dieser einen Partie ab, ob Lasker oder Schlechter auf dem Schachthron sitzt, ob der Weltmeistertitel in Deutschland bleiben oder auf einen Österreicher übergehen wird. Denn es handelt sich nicht allein um einen Wettkampf zwischen zwei Menschen, sondern auch zwischen Wien und Berlin, den beiden wichtigsten Metropolen deutscher Kultur – auch schachlich. Die ersten fünf Partien haben in Wien stattgefunden, danach ist der Wettkampf nach Berlin umgezogen; zu Hause in Wien erwarten Schachenthusiasten ungeduldig telegraphische Nachrichten über die Partie ihres Vorkämpfers.
Diese zehnte Partie entwickelt sich ganz anders als die übrigen neun. Bislang standen ruhige Stellungen auf dem Brett, die von den Kontrahenten geduldiges Manövrieren erforderten. Nun aber kommt es zu einem wilden Schlagabtausch, bei dem beide Könige ihren schützenden Bauernwall verlieren und bedroht sind. Schlechter, mit Schwarz spielend, erlangt durch druckvolle Züge eine gute Stellung, kann mehrfach klaren Vorteil erlangen, greift dann aber zu einem zweifelhaften Opfer. Doch im 39. Zug könnte er das Remis erzwingen und den Wettkampf für sich entscheiden (Abb. 1).
Abb. 1: Lasker – Schlechter, Weltmeisterschaftskampf 1910, 10. Partie. Stellung nach dem 39. Zug von Weiß
Schwarz ist materiell leicht im Nachteil, doch von den weißen Figuren steht der Springer abseits, der Turm auf c8 ist ungedeckt, und der König ist den Schachgeboten der schwarzen Dame ausgesetzt. Nach 39… Dh2–h4+ hat Weiß nichts Besseres, als mit 40. Ke1–f1 Dh4–h1+ 41. Kf1–f2 Dh1–h2+ 42. Kf2–e1 Dh2–h4+ 43. Ke1–d2 Dh4–h2+ 44. Kd2–e1 Dh2–h4+ in die Zugwiederholung einzuwilligen. Versuche, davon abzuweichen, enden mit schwarzem Gewinn, 40. Tf3–g3 Dh4–h1+ 41. Ke1–d2 Tf4–f2+ oder 40. Ke1–d1 Dh4–h1+ 41. Kd1–e2 Tf4xf3 42. Dd3xf3 Sb5xd4+. Doch Schlechter wählt das falsche Feld für das Schachgebot und zieht schwächer 39… Dh2–h1+, dies gibt Lasker die Möglichkeit, mit dem Turm dazwischen zu ziehen und seine Königsstellung zu konsolidieren. Nach 40. Tf3–f1 Dh1–h4+ 41. Ke1–d2 Tf4xf1 42. Dd3xf1 Dh4xd4+ 43. Df1–d3 Dd4–f2 44. Kd2–d1 kommt Lasker in Vorteil, führt die Partie zum Sieg und verteidigt seinen Titel.
Die genannten Varianten sind für einen Spieler vom Kaliber Carl Schlechters problemlos zu berechnen, doch warum spielte er dann nicht 39… Dh2–h4+? Darüber ist in der Schachwelt oft und hitzig diskutiert worden. So wurde die Vermutung geäußert, laut Reglement habe Schlechter das Match mit zwei Punkten Vorsprung gewinnen müssen, um den Weltmeistertitel zu erringen, und aus diesem Grund habe er jede zum Remis führende Variante vermieden. Doch für eine solche Regel, die in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften ohne Parallele wäre, fehlen stichhaltige Belege. Eine literarische Verarbeitung des Matches und der letzten Partie hat Thomas Glavinic in seinem Erstlingswerk «Carl Haffners Liebe zum Unentschieden» (1998) vorgelegt. Glavinic, in seiner Jugend einer der stärksten österreichischen Spieler seiner Altersklasse, entwarf auf der Grundlage der Zeugnisse über Schlechters zurückhaltendes Auftreten das Psychogramm eines fast pathologisch bescheidenen Carl Schlechters, der die letzte Partie in glänzendem Stil gewinnen wollte, um des Weltmeistertitels würdig zu sein, und deshalb ganz gegen seine sonstige Gewohnheit scharf und riskant auf Sieg spielte.
Man benötigt solche Erklärungen nicht, um Schlechters Fehler zu verstehen. Schachspieler stehen während einer Partie unter permanentem starken Druck. Anders als ein Tennisspieler, der ein Match auch trotz einiger Fehler souverän gewinnen kann, muss beim Schachspieler jeder Zug gut sein, ein einziger Fehler kann eine bis dahin glänzend gespielte Partie ruinieren und zur Niederlage führen. In bedeutenden Partien ist der Druck noch höher, und ein Weltmeisterschaftskampf bedeutet für die Kontrahenten eine enorme psychische und auch körperliche Belastung. Schlechter ist nicht der einzige Großmeister, dem in einer entscheidenden Situation ein unerklärlicher Fehler unterlief. In seinem Fall aber hat es eine tragische Note, dass er den Titelgewinn um Haaresbreite verfehlte: Als professioneller Schachspieler verfügte er nicht über ein festes Einkommen, seine finanzielle Situation war prekär. Der Weltmeistertitel hätte ihm neben Ruhm und Ehre auch wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet, so aber musste er weiter von der Hand in den Mund leben. Der Erste Weltkrieg bedeutete einen weiteren Einbruch, denn die Unterstützung von Schachspielern durch wohlhabende Mäzene kam zum Erliegen. Schlechter hatte häufig nicht ausreichend Geld für Nahrung, er starb 1918 im Alter von nur 44 Jahren an einer verschleppten Lungenentzündung.
New York, 30. November 2016. Im Fulton Market Building im Süden Manhattans sitzen sich Magnus Carlsen und Sergei Karjakin zum Stechen um den Titel des Schachweltmeisters gegenüber. Wie einst Lasker ist auch diesmal der Titelträger als großer Favorit in den Wettkampf gegangen, der Norweger Carlsen trägt den Weltmeistertitel seit 2013 und steht bereits seit 2010 durchgängig an der Spitze der Weltrangliste. Sergei Karjakin gehört seit Jahren zur Weltspitze, dennoch war seine Qualifikation für den Titelkampf eine Überraschung gewesen. Als ein auf der Krim geborener Ukrainer, der 2009 zum russischen Verband übergetreten war und sich öffentlich für Präsident Putin und später auch für die russische Annexion der Krim ausgesprochen hatte, ist er für Moskau der ideale Repräsentant auf dem Feld des Schachsports, das lange Zeit eine russische Domäne gewesen war. Die Hoffnung darauf, die Schachkrone wieder nach Russland zu holen, macht den Weltmeisterschaftskampf aus russischer Perspektive zu einem auch politisch bedeutsamen Ereignis.
Wie 106 Jahre zuvor tut sich auch diesmal der Weltmeister schwer, denn Karjakins extrem defensive, auf Vermeidung jeglicher Risiken angelegte Matchstrategie trägt Früchte. Zwar gelingt es Carlsen in den ersten Partien des auf zwölf Partien angesetzten Wettkampfs mehrfach, durch sein überlegenes Positionsverständnis gewinnträchtige Stellungen zu erreichen, aber er scheitert immer wieder an Karjakins Verteidigungskünsten. So enden die ersten sieben Partien remis, und die achte Partie verliert der Weltmeister sogar, als ihm beim Spielen auf Gewinn das Gespür für eigene Gefahren abhandenkommt. Immerhin gleicht er mit einem Sieg in der zehnten Partie das Match aus, nach zwölf Partien steht es damit 6:6. Die Regel, dass der Weltmeister bei einem Unentschieden seinen Titel verteidigt, ist längst abgeschafft, und so muss jetzt ein Stichkampf entscheiden: vier Schnellpartien, bei denen jeder Spieler eine Bedenkzeit von 25 Minuten plus zehn Sekunden pro gespieltem Zug erhält. In diesen Schnellpartien setzt sich Carlsens Klasse durch; nach drei Partien führt er 2:1, und in der vierten Partie ergibt sich die oben gezeigte Stellung (Abb. 2).
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