1 Astrid aus Schweden, oder:
Erziehung zur Selbstständigkeit
Astrid ist meine erste Interviewpartnerin. Wir haben uns in einem kleinen Café in der Nähe ihrer Firma verabredet, in der sie manchmal ihre Mittagspause macht. Ich bin als Erste da und bestelle einen Tee. In diesem Moment fällt mir ein, dass ich ja gar nicht weiß, wie sie aussieht. Plötzlich sehe ich eine blonde Frau in Jeans und einer Sportjacke draußen vor der Tür stehen. Da sofort die klischeehafte Vorstellung bei mir aufkommt, dass Schweden meistens blond sind, spreche ich sie an.
»Astrid?«
»Ja, die bin ich«, sagt Astrid.
Als ich ihr erzähle, dass ich automatisch nach einer blonden Frau gesucht habe, muss sie lachen. Nicht alle Schweden seien blond, wie man immer meint, sagt sie. Ich solle nur mal an die schwedische Königsfamilie denken, da seien fast alle dunkelhaarig.
Wir setzen uns an einen kleinen Tisch. Astrid ist eine dynamische junge Frau, mit einem Vollzeitjob als IT-Expertin. Sie hat zwei Söhne, die elf und vierzehn Jahre alt sind. Ihr Mann arbeitet ebenso Vollzeit. Sie wohnt mit ihrer Familie am Stadtrand von München. Jeden Morgen muss sie in die Stadt pendeln. Doch das macht ihr nichts aus. Astrid lebt gerne ein wenig außerhalb, wo die Kinder viele ihrer Aktivitäten mit dem Fahrrad erreichen können und das Leben insgesamt nicht ganz so schnell und stressig ist. Sie und ihr Mann waren sich von Anfang an darüber einig, dass sie auf dem Land leben wollten, um ihre Kinder dort gemeinsam großzuziehen.
»Wir führen eine sehr schwedische Ehe«, sagt Astrid. »Was bedeutet, dass wir uns die Arbeit mit dem Haushalt und den Kindern teilen. Anders«, lacht sie, »wäre es wohl auch nicht gegangen.«
In der Tat rangieren schwedische Männer im europäischen Vergleich auf Platz eins der Liste des Engagements im Haushalt und in der Kindererziehung. Ob ich wüsste, dass Männer, die sich aktiv an der Haushaltsarbeit beteiligen, eine höhere Lebenserwartung haben? Nein, das wusste ich nicht. Was sich wie ein Witz anhört, ist aber keiner. Aus einer Studie des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung in Bremen aus dem Jahre 2018 geht nämlich in der Tat hervor, dass Männer, die sich Hausarbeit leisten, gesünder sind und länger leben als Haushaltsmuffel.
Ich frage Astrid, worauf sie bei ihrer Erziehung am meisten Wert legt. Sie muss nicht lange nachdenken: »Ich denke, das Wichtigste ist es, die Kinder dazu zu erziehen, selbstständig zu sein.«
Ich bitte sie, mir ein Beispiel zu geben.
»Sie können zum Beispiel selbst Frühstück vorbereiten. Oder ihre Zimmer selbst sauber machen. Ich denke, diese Dinge sind wichtig.«
»Ihre Kinder machen selbst ihre Zimmer sauber?«, frage ich nach.
»Ja«, lacht Astrid. »Sogar mit dem Staubsauger!«
»Auch die Betten?«, hake ich ungläubig nach.
»Ja, auch die Betten.«
Großartig, denke ich. »Wahrscheinlich muss ich nicht fragen, ob sie auch den Tisch decken, oder?«
»Klar decken sie den Tisch«, lautet Astrids Antwort. »Und räumen hinterher sogar die Spülmaschine ein.«
Ich gebe zu, spätestens jetzt bin ich neidisch. »Wie haben Sie das geschafft?«, will ich wissen.
Astrid denkt kurz nach. »Wahrscheinlich, weil ich mich einfach geweigert habe, diese Rolle zu übernehmen. Ich sehe mich einfach nicht in der Rolle der Putzfrau.«
Klingt einleuchtend. Ich sehe mich eigentlich auch nicht in dieser Rolle. Und trotzdem bin ich es, die zu Hause das meiste erledigt. Ich frage Astrid nach ihrem Trick, nicht ohne Hoffnung, gleich einen Zauberspruch oder etwas in der Art verraten zu bekommen, womit man Kinder in kooperative Haushaltshelfer verwandeln kann. Aber Astrid hat keinen Spruch für mich.
»Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich mache es jedenfalls einfach nicht. Dann sehen sie schon, dass sie es selbst machen müssen. Und wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumen, dann bleibt es eben im Chaos.«
In Schweden, erzählt mir Astrid, wird schon in den Grundschulen von den Kindern verlangt, dass sie zu Hause das Frühstück für die gesamte Familie vorbereiten und anschließend darüber schreiben. Dass Hausarbeit Frauenarbeit ist, denkt in Schweden niemand.
»Ich bin berufstätig. Da müssen sich meine Kinder nun mal selbst organisieren. Das klappt sehr gut. Mein ältester Sohn macht zum Beispiel all seine Kiefernorthopädietermine selbst aus. Und der Jüngere geht allein zu seinem Handballtraining.«
Ich seufze wieder und denke heimlich an meinen persönlichen Fahrdienst. Am Dienstag zum Taekwondo, am Montag und Mittwoch in die Ballschule für den Kleinen und am Donnerstag zum Ballett. Wenn meine Mutter nicht einen Teil der Fahrdienste übernehmen würde, würde ich wohl zusammenbrechen. Liegt es vielleicht daran, dass Astrid nur Glück gehabt hat mit ihrer Auswahl an Sportarten?
»Nein«, sagt sie. »Das liegt daran, dass ich für die Kinder das ausgesucht habe, was in der Nähe ist. Was vom Weg für sie nicht machbar ist, geht eben nicht.«
Sehr pragmatisch. Ich denke an mich selbst. Muss ich denn wirklich meine Tochter zum entfernten Handballtraining fahren? Hätte es nicht einen anderen Sport gegeben, der hier in der Nähe angeboten wird und zu dem sie alleine mit dem Fahrrad fahren könnte?
In Schweden würde sich das Problem sowieso nicht stellen, da der Staat dafür sorgt, dass an den Schulen immer genügend Sportarten angeboten werden. Gesundes Essen und Sport stehen an schwedischen Schulen ganz oben. Da gehen auch die Lehrer mit den Kindern mal zum Büfett und sorgen dafür, dass sie sich aus dem reichhaltigen Salat- und Gemüsebüfett genügend Vitaminreiches holen.
Überhaupt unterstützt der Staat Mütter und Familien enorm. Man erwartet nicht von den Eltern, dass sie alles in der Erziehung selbst übernehmen. Die Schulen und Kindergärten haben bis spätnachmittags oder bis zum frühen Abend auf, die Mütter können flexibel in ihren Buchungszeiten sein.
»Die Mütter wissen, dass sie eine super Betreuung in den Kitas und Schulen haben. Niemand macht ihnen ein schlechtes Gewissen, wenn sie selbst auch ihr Leben leben«, sagt Astrid.
Ich frage Astrid, wie es bei ihnen zu Hause mit dem Handykonsum aussieht. Ein Thema, das mich als Mutter einer pubertierenden Tochter besonders umtreibt. Astrid zögert keine Sekunde.
»Wir sind in Schweden nicht so panisch mit digitalen Medien. Wir setzen Computer schon im Kindergarten ein, und Kinder lernen früh selbst programmieren. Ich persönlich habe zu Hause kein Problem mit dem Handy. Der Ältere ist selbst so vernünftig, dass er weiß, dass man nicht andauernd mit dem Handy rummachen sollte. Und beim Jüngeren ist es so, dass er einfach so viel Sport macht, dass er gar keine Zeit fürs Handy hat.«
Ich nicke. Was für eine gute Idee, Handykonsum mit Sport zu bekämpfen!
Ich frage Astrid, wie ihre konkreten Erziehungsmethoden aussehen. Gibt es Belohnungen? Strafen? Astrid sieht mich an.
»Nein, Strafen gibt es nicht«, sagt sie. »Ich setze ganz auf Vertrauen. Wenn ich sehe, dass etwas nicht funktioniert, reden wir darüber.«
»Ist das typisch schwedisch?«, frage ich.
Astrid denkt kurz nach. »Ja, das mag sein. Wir Schweden vertrauen unseren Kindern. Dass sie sich schon richtig entwickeln werden und dass sie schon alles schaffen werden. Mein Motto lautet einfach: ›Keine Panik, alles wird sich schon lösen.‹«
In der Tat scheint Astrid so etwas wie die fleischgewordene Erziehungsphilosophie des dänischen Psychologen Jesper Juul[1] zu sein. Dieser rät Eltern, darauf zu vertrauen, dass ihr Kind die meisten Dinge in seinem Leben schon selbst und richtig entscheiden und tun wird. Er wendet sich gegen das veraltete und in seinen Augen falsche Konzept eines Familiensystems, in dem es um Macht und nicht um Kooperation geht.
Wenn eines wichtig sei, so schreibt Juul, dann sei es die gute Atmosphäre, die zwischen den Familienmitgliedern herrsche. Noch wichtiger als eine (demokratische) Auseinandersetzung sei, so Juul, dass alle sich an die demokratischen Spielregeln halten würden.
Nicht alle Schweden aber glauben an dieses partnerschaftliche Erziehungsmodell. So ist der schwedische Psychiater David Eberhard[2] davon überzeugt, das schwedische (partnerschaftliche) Erziehungsmodell sei zum Scheitern verurteilt, und zwar deshalb, weil es dazu führe, aus Kindern »Rotzlöffel« zu machen, die zu wenig Respekt vor Erwachsenen hätten. Was Eberhard ebenso kritisiert, ist, dass sich in Schweden der Staat vehement in erzieherische Belange einmischt. Wie etwa dann, wenn er Kinder ermutige, Eltern wegen Missbrauchs und Gewalt anzuzeigen. So sinnvoll das natürlich in jenen Fällen ist, in denen es tatsächlich Missbrauch gibt – das Ganze hat auch eine große Schattenseite, und das ist das Misstrauen, das damit zwischen Kindern und Eltern gesät wird. So haben sich etwa Anzeigen von Kindern gegen Eltern seit dem Jahr 2000 dramatisch erhöht – und das, obwohl Experten davon ausgehen, dass sich die Gewalt gegen Kinder de facto nicht erhöht hat, was bedeutet, dass viele Anzeigen ungerechtfertigt sind. Dass der Staat Gefahr läuft, einen Keil zwischen Kinder und Eltern zu treiben, ist für Eberhard eine desaströse Entwicklung.
Wie sehr körperliche Gewalt in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern zu einem Tabu geworden ist, kann man gut anhand des Falls eines italienischen Vaters sehen, der vor einigen Jahren in Schweden für viel Aufsehen gesorgt hat. Dort hatte er mit seinem Kind über die Straße gehen wollen. Als das Kind loslief, ohne nach rechts oder links zu sehen, riss es der Vater an der Schulter zurück und gab ihm einen Klaps. Der Mann kam vor ein schwedisches Gericht, musste Bußgeld zahlen und wanderte ins Gefängnis. Während...