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Der Weg in den neuen Kalten Krieg

AutorPeter Scholl-Latour
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783843701785
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nach dem Ende des Kalten Krieges trat der Westen als Sieger der Geschichte auf. Frühzeitig hatte Peter Scholl-Latour vor der Isolation Russlands, der Explosivität des Nahen Ostens und der Herausforderung durch China gewarnt. Auch die aktuellen Konflikte im Kaukasus, in Pakistan oder im Iran hatte er lange vorausgesehen. Sie alle sind die Vorzeichen eines neuen Kalten Krieges, den der Westen nur verlieren kann. Entdecken Sie auch das Hörbuch zu diesem Titel!

Peter Scholl-Latour, geboren 1924 in Bochum. Seit 1950 arbeitet er als Journalist, unter anderem viele Jahre als ARD-Korrespondent in Afrika und Indochina, als ARD-Studioleiter in Paris, als Fernsehdirektor des WDR, als Herausgeber des stern. Seit 1988 als freier Publizist tätig. Seine Bücher sind allesamt Bestseller. Zuletzt erschien von ihm bei Propyläen »Arabiens Stunde der Wahrheit«. Peter Scholl-Latour verstarb am 16. August 2014.

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Leseprobe

PROLOG


Zum »greisen König der Unken« hat mich einmal ein wohlgesinnter Kollege gekrönt. Ein solches Renommee sollte man pflegen, zumal wenn der Warner – wie die viel zitierte Cassandra beim Fall von Troja – mit seinen Voraussagen Recht behielt. Die übliche Kritik wird auch dieses Mal nicht ausbleiben, wenn ich ohne jede Emotion feststelle, dass wir in den »Kalten Krieg« zurückgefallen sind. Die Beschwichtigung von Politikern und von Publizisten, die sich daran gewöhnt haben, harte Realitäten zu leugnen oder schönzureden, bis das Unheil über sie hereinbricht, kann daran nichts ändern. Im Schwarzen Meer lagen sich auf dem Höhepunkt der Ossetien-Krise russische und amerikanische Flottenverbände gegenüber. Im September 2008 nahm eine von Moskau ausgesandte Armada, geschart um den Kreuzer »Peter der Große«, Kurs auf die Karibik und die Küste Venezuelas. Wenn das Pentagon in Ost-Polen ein Raketen-System aufbaut, das vom Kreml als Provokation, ja als Bedrohung aufgefasst wird, soll sich niemand wundern, wenn demnächst auf dem Boden von Belarus und jenes Oblast Kaliningrad, das einst Königsberg hieß, auch russische Lenkwaffen mit Nuklearsprengköpfen eingebunkert werden.

Gemessen an den Spannungen, die unsere gegenwärtige Situation einer enthemmten strategischen Globalisierung kennzeichnen, mag uns der »Kalte Krieg von gestern« – nachdem einmal der apokalyptische Höhepunkt der Kuba-Krise überwunden war – als eine relativ verlässliche Kohabitation von zwei konträren Machtsystemen erscheinen. Diese lieferten sich zwar in irgendwelchen entlegenen Gegenden Stellvertreterkriege – »war by proxies« –, aber gleichzeitig bewährte sich eine Übung der gegenseitigen Konsultation und Mitteilung, die gelegentlich an Komplizenschaft grenzte. Im Schatten des Potenzials atomarer Vernichtung, über das die beiden Supermächte verfügten und das ein strategisches Patt erzwang, genossen die übrigen Staaten niederen Ranges ein beachtliches Maß an Sicherheit und Stabilität. Die Westeuropäer zumal konnten sich in Ruhe der Häufung ihres Wohlstandes widmen und sich auf mehr oder minder schnöde Weise jeder schicksalhaften Verantwortung entziehen.

Dieser Zustand hat sich von Grund auf geändert, seit die Sowjetunion in sich zusammenbrach und zehn Jahre später die Todesengel einer finsteren, weit verzweigten Verschwörung die Wahrzeichen des westlichen Kapitalismus in Manhattan selbstmörderisch zum Einsturz brachten. Der Kalte Krieg von heute verfügt nicht mehr über die angespannte Verlässlichkeit des bipolaren Antagonismus zwischen Washington und Moskau. Auch die kurze Übergangsphase einer ausschließlich amerikanischen Hegemonie und die damit verbundene Hoffnung auf eine »pax americana«, die sich nach dem siegreichen Abschluss des ersten Irak-Krieges »Desert Storm« unter George Bush senior einstellte, haben nur eine Dekade gedauert. Der Begriff »new cold war«, vor dessen Formulierung die meisten zurückscheuen, bezieht seine Berechtigung nicht allein aus dem Wiederaufleben der gewohnten Gegnerschaft zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und einem wieder erstehenden russischen Imperium. Dieser jetzige Kalte Krieg ist multipolar, besser gesagt, multilateral geworden, entzieht sich jedem Kalkül und jeder heimlichen Abstimmung.

Die neue Weltmacht China, die im Begriff steht, den Status quo im ostasiatisch-pazifischen Raum aus den Angeln zu heben, wäre ja noch einzuordnen in irgendeine Form von vorsorglicher Kooperation, die den Absturz in den Abgrund verhindert. Der scheidende amerikanische Präsident hat jedoch Feinde einer ganz anderen Kategorie auf den Plan gerufen und sieht sich mit einer Konspiration der »Kräfte des Bösen« konfrontiert, für die er den Ausdruck »Islamo-Faschismus« prägte. Unter dem vagen Sammelbegriff »Al Qaida« agieren seitdem bunt gescheckte Haufen von fanatischen Attentätern, die über den ganzen »Dar-ul-Islam« – von Marokko bis Indonesien – verstreut sind und in einer Masse von 1,3 Milliarden Koran-Gläubigen untertauchen können. Gegen diese kunterbunte Assoziation »teuflischer« Übeltäter, in die die Propaganda Washingtons so unterschiedliche und tödlich verfeindete Fraktionen wie die extremistisch-sunnitischen Wahhabiten Arabiens und die schiitischen Revolutionswächter der Islamischen Republik Iran einreiht, hat George W. Bush den weltumspannenden Kampf gegen den Terrorismus ausgerufen. Die zutreffende Feststellung Zbigniew Brzezinskis, des ehemaligen Sicherheitsberaters des US-Präsidenten Carter, dass man mit dem Wort »Terrorismus« keinen Gegner definieren kann, sondern eine Form der Kriegsführung, wie sie von Partisanen, Freischärlern oder Guerrilleros seit langem praktiziert wurde, hat wenig gefruchtet. Dass der Terror auch von durchaus ehrbaren Widerstandskämpfern angewandt wurde, passte nicht in die manichäischen Vorstellungen der neokonservativen Ideologen am Potomac.

Die Europäer, die Deutschen zumal, sollten zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht nur in eine unheimliche und ständig expandierende Abart des »Kalten Krieges« zurückgeworfen wurden. Laut Völkerrecht und Artikel V des Atlantischen Bündnisvertrages, dessen Beistandsverpflichtung nach dem Horror-Effekt von »Nine Eleven« durch die westlichen Alliierten einstimmig in Kraft gesetzt wurde, sehen sie sich in einen regelrechten »heißen Krieg« verwickelt und sind weit davon entfernt, sich aus dessen unerbittlichen Zwängen zu lösen. Die westliche Staatengemeinschaft operiert »out of area« gegen ein bluttriefendes Gespenst, gegen eine Hydra mit tausend Köpfen, und wenn die Gefahr einer klassischen Niederlage auch ausgeschlossen bleibt, so erscheint jede Perspektive eines siegreichen Ausklangs dieser Kampagne illusorisch.

Im vorliegenden Buch handelt es sich um ein Kaleidoskop von Kommentaren, Fernsehdokumentationstexten, Reportagen und Interviews. Sie sind in chronologischer Reihenfolge und ohne jede nachträgliche Berichtigung abgedruckt. Die Abfolge dieser Beiträge umfasst den Zeitraum zwischen den Jahren 2001 und 2008. Am Anfang steht der zunächst brillant geführte Eroberungsfeldzug »Enduring Freedom« in Afghanistan, der im Lauf der Zeit zum heillosen Abnutzungskrieg, »war of attrition«, verkam. Die Serie endet mit der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten. Letztere findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ratlosigkeit der US Army zwischen Mesopotamien und Hindukusch statt, während das Debakel von Wall Street den deutschen Finanzminister Peer Steinbrück zu der Feststellung veranlasste, die USA hätten ihren »Status als Supermacht des Welt-Finanzsystems eingebüßt«.

In der Zwischenzeit offenbart sich die Unzulänglichkeit der viel gerühmten Wertvorstellungen des Westens. Der hemmungslos spekulative Turbo-Kapitalismus liegt in Trümmern. Eine technisch extrem perfektionierte Militärmaschine wird durch die geschmeidige und einfallsreiche Partisanentaktik des sogenannten »asymmetrischen Kriegs« in Schach gehalten. Die Staatengemeinschaft des Westens muss sogar ihre Unfähigkeit eingestehen, ihrer Vorstellung vom demokratischen Pluralismus weltweit Geltung zu verschaffen. Wie viel verlockender klingt doch in weiten Regionen trotz der damit verbundenen Bevormundung die Doktrin vom »politischen Konsens«.

Der Sinn des sporadischen Rückblicks, den ich heute vorlege, lässt sich an der jüngsten Entwicklung im Kaukasus exemplifizieren. Die plötzliche Offensive der georgischen Armee gegen die abtrünnige autonome Republik Süd-Ossetien hat eine russische »Strafaktion« ausgelöst, mit deren Ausmaß niemand gerechnet hatte. Im Kreml und in breiten Schichten der russischen Bevölkerung wurde das Vabanquespiel des Georgiers Saakaschwili, sein Überfall auf die ossetischen Sympathisanten Russlands südlich des Kaukasus, als unerträgliche Provokation empfunden. Der Fall Ossetien symbolisiert einen bedrohlichen Wendepunkt und wird von Dmitri Medwedew, dem Präsidenten der Russischen Föderation, mit der Tragödie des 11. September 2001 gleichgesetzt, die Amerika zutiefst erschütterte und zur geballten militärischen Aktion veranlasste.

So unerwartet, wie manche das heute darstellen, wurde die jüngste kaukasische Krise übrigens nicht vom Zaun gebrochen. Im Herbst 1996, also zwölf Jahre vor den Kämpfen um Zchinwali, hatte ich unter dem Titel »Das Schlachtfeld der Zukunft – Zwischen Kaukasus und Pamir« einen Erlebnisbericht veröffentlicht, der damals als Schwarzmalerei bemängelt wurde. Deshalb erlaube ich mir, ein paar Impressionen zu zitieren, die sich mir im Frühjahr 1996 an Ort und Stelle aufgedrängt hatten und die heute wieder einen sehr aktuellen Klang gewinnen.

Süd-Ossetien im Rückspiegel


ZCHINWALI, IM FRÜHJAHR 1996


Um nach Zchinwali, dem Regierungssitz Süd-Ossetiens zu gelangen, bedurfte es einer Sondergenehmigung, die am besten bei der OSZE-Mission in Tiflis einzuholen war. Der örtliche Stab der Organisation für Sicherheit und...

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