Prolog
Unmöglich?
Katholische Aufklärung*
«Aufklärung im wahren Sinn des Wortes ist gleichbedeutend mit Erkenntnis, und einen Menschen aufklären heißt, ihm eine richtige, mit der objektiven Wirklichkeit übereinstimmende Erkenntnis einer Sache mitteilen. In diesem Sinne ist die Aufklärung vollkommen berechtigt und notwendig, sowohl in profanen wie in religiösen Dingen. Von dieser wahren ist aber die falsche Aufklärung, welche sich im 18. Jahrhundert in Deutschland unter dem spezifischen Namen ‹Aufklärung› auf dem religiösen Gebiet geltend zu machen suchte, wohl zu unterscheiden. Sie ist nach der Definition Kants … ‹der Ausgang der Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit›, das heißt mit anderen Worten: die falsche Aufklärung ist die schrankenlose Herrschaft der menschlichen Vernunft mit Verwerfung einer jeden Auctorität, ihr letztes Ziel ist die Verherrlichung des Naturalismus in seinen verschiedenen Gestalten im Gegensatze zur übernatürlichen geoffenbarten Religion.» – Mit diesen Formulierungen beginnt der Kirchenhistoriker und spätere Mainzer Bischof Heinrich Brück seinen Artikel «Aufklärung, wahre und falsche» in der zweiten, 1882 erschienenen Auflage des Wetzer und Welte’schen Kirchenlexikons.[1] Brück fährt fort: «Diesen Zweck verfolgen mehr oder weniger alle Anhänger der falschen Aufklärung, mögen sie noch einige Reste des positiven Glaubens sich erhalten oder ganz mit demselben gebrochen haben. Diese naturalistische, höchst verderbliche, Glauben und Sitten untergrabende Richtung ging aus dem Schoße des Protestantismus hervor, drang aber auch in katholische Kreise ein und war überall von den schlimmsten Wirkungen begleitet.»[2]
Die «Pfützen der protestantischen Aufklärer»
Nach der Beschreibung der ganz und gar verderbten protestantischen Aufklärung kommt der Verfasser auch auf die «falsche» Aufklärung im Katholizismus zu sprechen. Er macht dabei folgende Ursachen für das Eindringen der Aufklärung in die katholische Kirche geltend: «Die gallikanisch-staatskirchlichen Grundsätze, welche an den Höfen herrschten, die sittliche Fäulnis des hohen Adels, welcher mit einer äußeren Glätte zugleich den Unglauben und die Frivolität der französischen Salons sich angeeignet hatte, die Verweltlichung eines Teils des höheren Klerus und insbesondere die Tätigkeit der geheimen Gesellschaften, wie der Illuminaten, hatten die Gemüter schon hinlänglich für das Gift der falschen Aufklärung empfänglich gemacht.»[3] Mittelschicht und Bauerntum seien kaum betroffen gewesen, stark dagegen die Theologen und vor allem zahlreiche gebildete Benediktiner. Anstatt aus den Quellen der Konzilien und Kirchenväter zu schöpfen, wandten sich die aufgeklärten Professoren der Theologie, so Brück wörtlich, «nur zu sehr den Pfützen der protestantischen Aufklärer zu, deren seichtes Geschwätz als der Inbegriff aller Weisheit gepriesen war».[4] Bald sei die gesamte theologische Landschaft Deutschlands davon infiziert worden. Die Aufklärung blieb laut Brück aber nicht auf die Theorie beschränkt, sondern richtete auch im kirchlichen Leben große Verheerungen an. «Recht augenfällig traten dieselben in der Liturgie hervor, die man ihres höheren, mystischen Elements beraubte.»[5] Die neuen Gesang- und Gebetbücher ließen nach Ansicht Brücks die echt christlichen und volkstümlichen Andachten vermissen und boten statt der glaubensvollen Gesänge und Gebete «verwässerte und langweilige Erzeugnisse der Aufklärung».[6]
Außerdem kritisiert Brück, dass die Aufklärer die lateinische Sprache durch die jeweilige Muttersprache ersetzen wollten. Und weiter: «Vermöge der inneren Verwandtschaft zwischen den katholischen und protestantischen Aufklärern, eiferten erstere auch für die religiöse Toleranz, das heißt den Indifferentismus, und gegen die Kontroverspredigten. Ein charakteristisches Merkmal der Aufklärer ist ihre Feindschaft gegen das Ordensleben, dem sie durch ihre Reformprojekte den Todesstoß versetzen wollten. Endlich schwärmten dieselben für Nationalkirchen, deren Grenzen mit den einzelnen Territorien zusammenfallen sollten.»[7] Insbesondere zahlreiche Fürstbischöfe der Reichskirche taten sich in Brücks Augen als schlimme Reformer hervor. Aber, so der Kirchenhistoriker abschließend, «zum Glück scheiterte das ganze Unternehmen an der Festigkeit des katholischen Volkes, der Treue des Klerus und an dem Widerstande, welchen, gleich dem römischen Stuhl, die Domkapitel den Plänen der neuerungssüchtigen Kirchenfürsten entgegensetzten».[8]
Wenn es nach dem Ende des 19. Jahrhunderts führenden katholischen Lexikon ginge, wäre die Frage nach der Bewertung der «katholischen Aufklärung» eindeutig negativ beantwortet. Dies fällt umso mehr ins Gewicht, als nicht nur der entsprechende Artikel im Lexikon für Theologie und Kirche[9] aus dem Jahr 1930 als Nachfolger des Wetzer und Welte, sondern auch die einschlägigen Hand- und Lehrbücher der Kirchengeschichte fast durchgängig bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an diesem eindeutigen Verdikt der Aufklärung als Epoche im Allgemeinen und der «katholischen Aufklärung» im Besonderen – wenn auch sprachlich mitunter etwas abgemildert – festhielten, wie Bernhard Schneider in seinem 1998 erschienenen großen Forschungsüberblick überzeugend nachgewiesen hat.[10]
Aufklärung ist demnach etwas dem Katholizismus und der katholischen Kirche grundsätzlich Wesensfremdes. Sie hat ihren Ursprung in der evangelischen Häresie: Sie ging – wie es der Tübinger neuscholastische Philosoph Ludwig Baur 1930 formulierte – «von der protestantischen Theologie aus», aber «der aufklärerische Geist drang auch in die katholische Theologie ein». Ihre theoretischen Kennzeichen waren laut Baur: unbegrenzter Rationalismus, Ablehnung aller Autorität in Staat und Kirche, Naturalismus und Moralismus, Streben nach dem falschen «Ruhm der Wissenschaftlichkeit», «Erschütterung des Glaubens an eine übernatürliche Offenbarung» und ein «platte[r] Utilitarismus». Auf dem Feld der Praxis «zersetzte und lähmte» die Aufklärung demnach alles, was katholische Frömmigkeit ausmacht: Wallfahrten, Heiligen- und Reliquienverehrung, Prozessionen, die wahre Mystik des Messopfers durch Bekämpfung des Lateins als Liturgiesprache, Zölibat und Mönchtum. Kirchenpolitisch galt die Aufklärung schon wegen ihrer vermeintlich protestantischen Ursprünge als eine Los-von-Rom-Bewegung.[11]
Rütteln am Tabu
Als Träger der falschen Aufklärung innerhalb der katholischen Kirche identifizierte die einschlägige katholische Forschung vor allem zwei Gruppen: katholische Theologieprofessoren, die sich durch die Lektüre gefährlicher protestantischer Autoren mit dem aufgeklärten Virus infizierten, und zahlreiche adelige Fürstbischöfe der Reichskirche, die nach dem Westfälischen Frieden von «gallikanischen» und «nationalkirchlichen» Ideen umgetrieben waren, die letztlich auf eine «gefährliche» konfessionelle Toleranz, auf eine unmäßige Betonung des episkopalen Selbstbewusstseins und die Verweigerung des dem Papst geschuldeten Gehorsams hinausliefen. Als Gegner der Aufklärung werden das einfache katholische Volk, der Großteil des niederen Seelsorgeklerus und vor allem die Römische Kurie und der Papst genannt. Ihnen sei zu verdanken, dass die katholische Kirche diese Infektion trotz einiger Krankheitssymptome im Letzten unbeschadet überstanden habe.[12]
Dass die Ansicht, die Aufklärung stehe «dem Christentum feindselig»[13] gegenüber und eine «katholische Aufklärung» sei prinzipiell unmöglich, bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts den Mainstream der katholischen Historiographie dominierte, mag einigermaßen überraschen, hatte es doch bereits kurz nach der Jahrhundertwende entscheidende Ansätze zu einer grundsätzlich neuen, positiven Bewertung der entsprechenden Entwicklungen gegeben. Federführend war der Würzburger Kirchenhistoriker Sebastian Merkle, der 1908 auf einer Historikertagung in Berlin eine viel beachtete Rede über «Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters» vortrug.[14]
Merkle hielt eine «schlechthinnige Verdammung» der Aufklärung als «einer missliebigen Epoche»[15] für historisch nicht tragbar. «Epitheta wie geistlos, fad, schal, seicht, wässerig, verschwommen, oberflächlich, armselig, frech, schamlos, widerwärtig, ekelhaft, frivol, blasphemisch» – wie sie die...