KAPITEL 2 – DEUTSCHLAND BRENNT
26. August 2018. Deutschland brennt! Ganz Deutschland? Nein, nur eine Stadt: Chemnitz. Doch die dramatischen Umstände, die im Sommer 2018 zum Inferno in dieser Stadt führen, stehen symptomatisch für das Wiedererstarken des Nationalismus‘ in Deutschland. Eine Menschenmenge, die ihre Arme zum Hitlergruß erhebt, nicht 1938, sondern 2018, in einer deutschen Stadt. Wie kann es soweit kommen? Und vor allem: Wohin wird es Deutschland führen?
Das Debakel von Chemnitz
Am 26. August 2018 wird der 35-jährige Deutschkubaner Daniel H. gegen drei Uhr nachts in Chemnitz erstochen. Kurz darauf werden der Iraker Yousif A. und der Syrer Alaa S. verdächtigt, die Tat begangen zu haben. Nur wenige Stunden später marschieren rund 800 Demonstranten durch die Stadt.
Es kommt zu Rangeleien mit der Polizei und Drohungen gegenüber Menschen, die von der aufgebrachten Menge für Flüchtlinge gehalten wird. Einen Abend später versammeln sich etwa 6.000 Rechte und Sympathisanten in der Stadt, um für Rechts zu demonstrieren. Einige zeigen öffentlich den Hitlergruß und rufen: „Wir kriegen euch alle“, um ihre Gesinnung für jedermann deutlich zu machen. Neonazis, Hooligans, sogenannte besorgte Bürger und AfD-Anhänger vereinen sich in Chemnitz zu einem Mob, der für ein neues, unmenschliches Deutschland steht. Dieses Deutschland ist nationalistisch, monoethisch, autoritär und antiliberal. Es ist ein Deutschland, in dem Migranten durch die Städte gehetzt und Asylbewohnerheime angezündet werden. Ein Land, in dem die Menschlichkeit sämtliche Bedeutung verliert.
Was ist passiert? Chemnitz will im August 2018 seinen 875. Stadtgeburtstag begehen. Sechs Bühnen, mehr als 200 Buden, ein Riesenrad und bunte Lichtkegel rund um das Rathaus warten auf rund 250.000 Besucher. Auch der gelernte Tischler Daniel H., Sohn eines Kubaners und einer Deutschen, ist auf dem Festplatz mit Freunden unterwegs. Er ist in Chemnitz aufgewachsen, gilt als weltoffene und hilfsbereite Person und hat seit zwei Jahren einen festen Arbeitsplatz bei der Gebäudereinigung „Hausgeister“. Gegen drei Uhr nachts geht Daniel H., der aufgrund der väterlichen Abstammung eine dunkle Hautfarbe besitzt, mit seinen Freunden auf der Brückenstraße, vermutlich zu einem Geldautomaten. Dort kommt es zum Streit mit Yousif A. und Alaa S. Plötzlich sticht der 22-jährige Yousif A. auf Daniel H. ein, der kurz darauf im Krankenhaus seinen Verletzungen erliegt.
Wenn bald darauf ein „Wutausbruch des Volkes“ den Mob auf die Straßen bringt, dann hängt das sicherlich damit zusammen, dass – wieder einmal – Flüchtlinge diese Tat begangen haben, ein Iraker und ein Syrer. Der mutmaßliche Haupttäter Yousif A. lebt in einer Flüchtlings-WG in Annaberg-Buchholz mit einem Syrer, einem Iraker und einem Iraner zusammen. Allerdings hält er sich dort nur selten auf, denn die meiste Zeit wohnt er bei einem Freund in Chemnitz.
Nach Deutschland kommt er als Flüchtling Ende Oktober 2015, wie so viele Menschen, über die Balkanroute. Ursprünglich wollen die deutschen Behörden den 22-jährigen Iraker nach Bulgarien abschieben, weil er dort wohl schon Asyl beantragt hatte. Dazu kommt es jedoch nicht, aus Gründen, die bis heute ungeklärt sind. Umso rascher wird Yousif A. hierzulande auffällig. Schon wenige Monate nachdem er deutschen Boden betritt, gerät er in den Fokus der Justiz und wird anschließend immer wieder strafrechtlich auffällig. Im Februar 2016 rennt er nachts um halb vier volltrunken vor einen Schneepflug und vor andere Fahrzeuge, um sich umzubringen, wie die Staatsanwaltschaft vermutet. Bei einem anderen Vorfall sprüht er zwei Flüchtlingen im Asylbewerberheim in Annaberg-Buchholz Pfefferspray ins Gesicht. Zu dem Zeitpunkt, als er Daniel H. in Chemnitz das Leben nimmt, ist Yousif A. längst wegen Körperverletzung und anderer Delikte vorbestraft.
Nachdem es nicht zur Abschiebung nach Bulgarien kommt, wird Deutschland nach Ablauf einer Frist ab Herbst 2016 für ihn zuständig. Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wird er zweimal einer Befragung unterzogen, das letzte Mal wenige Wochen vor der Tat in Chemnitz. Da sind seit seiner Einreise immerhin schon drei Jahre vergangen. Verdächtigt kommt Yousif A. den Behörden schon lange vor, weil er zwei Personalausweise vorlegt, beides laut Bamf „Totalfälschungen“. Zudem erzählt er eine wenig glaubhafte Geschichte: Er musste aus der nordirakischen Provinz Ninive fliehen, weil er dort in ein Mädchen verliebt gewesen war und ihn dessen Vater und Onkel deshalb bedroht hätten. Er macht eine „Würdeangelegenheit“ als Asylgrund geltend. Am 29. August 2018 lehnt die Behörde den Asylantrag des jungen Irakers ab – drei Tage später tötet er Daniel H. mit einem Messer in Chemnitz.
Der mutmaßliche Mittäter Alaa S. ist erst zwei Wochen zuvor aus dem Nordirak zurückgekommen. Allem Anschein nach hat er dort seine Eltern besucht. Sein Vater engagiert sich für eine pro-kurdische Partei. Der Besitzer des Chemnitzer Friseursalons Zana, Mohamed Yousif, der sich wohl um ihn kümmert, weil beide aus derselben Stadt in Syrien kommen, sagt, Alaa S. sei zurückgekommen, weil er in Deutschland eine Zukunft für sich sah.
Die Nachricht über die tödliche Tat verbreitet sich rasch. „35-Jähriger stirbt nach Messerstecherei in der City“ titelt das Onlineportal tag24.de kaum fünf Stunden danach. Rasch kommen Gerüchte hinzu, vor allem die Geschichte, Daniel H. habe eine Frau vor sexueller Belästigung schützen wollen. Polizeiliche Hinweise darauf gibt es keine, aber das hindert das Gerücht nicht daran, sich weiter zu verbreiten.
Noch vor der ersten offiziellen Mitteilung der Polizei ruft die Hooligan-Gruppe „New Society 2004“ auf Facebook zum Protestmarsch auf, nach dem Motto: „Unsere Stadt – unsere Regeln“. Treffpunkt ist 16:30 Uhr vor dem Nischel, so nennen die Chemnitzer ihr Karl-Marx-Denkmal. Die Parole ist auch schon klar: „Lasst uns zusammen zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat!“.
Da schwant den Organisatoren des Stadtfestes schon Arges, sie brechen das Fest am Sonntagnachmittag ab.
Zu diesem Zeitpunkt haben sich bereits rund 800 Menschen nur wenige Meter vom Tatort entfernt versammelt. Sie marschieren und einige skandieren: „Wir sind das Volk“. Amateurvideos zeigen einen marodierenden Mob, der Flaschen wirft und Menschen bedroht. Die Polizei ist hilflos und fordert Verstärkung aus Dresden und Leipzig an.
Am nächsten Abend geht es weiter. Die rechte Vereinigung „Pro Chemnitz“ sieht ihre Chance gekommen und ruft zum Protest auf. Aus den 800 Menschen vom Vortag sind mittlerweile rund 6.000 geworden, die sich dem Aufruf anschließen und gegen Ausländer auf die Straße gehen. Es kommt zur Gegendemonstration „Chemnitz Nazifrei“, zu der sich etwa 1.500 Menschen einfinden. Eine Polizeikette mit 591 Einsatzkräften stellt sich zwischen die beiden Fronten, um sie auseinanderzuhalten. Einige Teilnehmer sind vermummt, andere recken die Arme zum Hitlergruß. Böller, Pflastersteine und Rauchgranaten fliegen. Die Polizei lässt den Pöbel gewähren, der immerhin einige hundert Meter durch die Stadt marschiert. Die Exekutive traut sich scheinbar nicht, die unangemeldete Demonstration aufzulösen, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Vermutlich aus Angst, dadurch eine nicht mehr beherrschbare Welle der Gewalt loszutreten. Stattdessen fordert die Polizei Migranten auf, nach Hause zu gehen.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer bezeichnet den Einsatz seiner Polizei knapp eine Woche später in der Talkshow von Anne Will als „kritisch“. Immerhin standen 591 Einsatzkräfte gegen rund 7.500 Empörungskräfte. „Die Polizisten haben diese Situation heldenhaft gemeistert“, gibt Kretschmer im Staatsfunk zu Protokoll. Auf die Frage von Moderatorin Anne Will, warum er „keine zusätzlichen Einsatzkräfte herbei geordert“ habe, bleibt er allerdings die Antwort schuldig und flüchtet sich in Allgemeinplätze: „Sie reden von Dingen, die Sie gar nicht kennen“ und fordert: „Wir sollten die Sache an dieser Stelle stehen lassen“.
Tatsächlich stehen sowohl am Montag als auch am Sonntag Verstärkung durch mehrere Hundertschaften der Bundespolizei parat. Durch eine verwaltungsinterne Panne werden sie jedoch schlichtweg nicht angefordert.
Ein Haftbefehl wird öffentlich
Pannen passieren, aber der Vorfall am 28. August 2018, ist einzigartig in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland: Ein Haftbefehl wird öffentlich.
An diesem Dienstabend stellen ein AfD-Kreisverband, der Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann und die Rechtsbewegung „Pro Chemnitz“ den Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Täter Yousif A. auf der Facebook-Seite von „Pro Chemnitz“ online.
Wie kann das geschehen? Ein Mitarbeiter der JVA Dresden fotografiert den Haftbefehl und reicht ihn weiter. Ein menschliches Fehlverhalten, das zur Suspendierung führt. Bemerkenswerter...