Für die Beschreibung des Verhältnisses von Kirche und Recht ergibt sich beim ersten Hinsehen ein widersprüchlicher Befund. Auf der einen Seite wird ein fundamentaler Gegensatz zwischen Kirche und Recht artikuliert, wie er insbesondere bei Rudolf Sohm zu finden ist (Sohm 1923, 700):
Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass in der Kirche ständig und selbstverständlich Recht angewendet wird. Theoretische Bestreitung und empirische Normalität des Rechts können vor allem dadurch in einen Ausgleich gebracht werden, dass im Hinblick auf die Kirche differenziert wird, in welcher Weise jeweils von ihr gesprochen wird. Dies kann in soziologischer (→ 1.1.1), in ekklesiologischer (→ 1.1.2) und in kirchentheoretischer (→ 1.1.3) Perspektive geschehen.
1.1.1 Soziologisch
Ganz allgemein lässt sich die Kirche als Gemeinschaft von Menschen (→ 1.1.1.1) zur Pflege einer bestimmten Religion (→ 1.1.1.2) beschreiben. Im staatlichen Recht wird dies mit dem Begriff der Religionsgesellschaft erfasst (→ 3.2.2.3). Um die Situation einer Gemeinschaft zureichend zu erfassen, ist auch auf den gesellschaftlichen Kontext zu achten, in dem sie sich befindet (→ 1.1.1.3).
1.1.1.1 Gemeinschaft
Jede Gemeinschaft von Menschen ist durch die Polarität von Individuum und Gemeinschaft bestimmt. Es gibt gemeinsame Interessen, aus denen sich der Wille zur Gemeinschaft ergibt. Es bleiben aber stets auch individuelle Interessen, die teilweise mit den Gemeinschaftsinteressen zusammenstimmen, teilweise ihnen widerstreiten. So muss jede Gemeinschaft klären, wieviel Homogenität sie voraussetzen, wieviel Diversität und Pluralität sie zulassen will. Daraus ergeben sich die Anforderungen für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und die Erwartungen an ihre Mitglieder. Außerdem resultieren daraus unterschiedliche Grade der organisatorischen und rechtlichen Verdichtung (→ 1.5.1.3). Soweit eine Gemeinschaft organisatorische Gestalt gewinnt, tritt sie dadurch ihren Mitgliedern als eigenständige Größe gegenüber, die Kirche erscheint dann als »Amtskirche«.
Als eine bestimmte Gemeinschaft unterscheidet sich die Kirche von ihrer sozialen Umgebung und grenzt sich in gewisser Weise von ihr ab. Auch dabei sind unterschiedliche Grade denkbar. Die Bedingungen für den Ein- und Austritt markieren die Abgrenzung. Dabei spielen nicht nur die rechtlich fixierten Mitgliedschaftsvoraussetzungen, sondern auch die soziale Praxis, die mehr oder weniger Teilnahme ermöglicht, eine wesentliche Rolle. In unterschiedlichem Maße kann auch Menschen, die keine Mitglieder sind, die Teilnahme am Leben der Gemeinschaft eröffnet werden (→ 1.3.3).
Im Außenverhältnis tritt die Kirche durch Kommunikation, wirtschaftliche und Rechtsbeziehungen in einen Austausch mit anderen Akteuren. Ihr Handeln kann sich in der Gesellschaft produktiv oder destruktiv auswirken. Sie wird von außen wahrgenommen und kann Zustimmung und Kritik erfahren.
1.1.1.2 Religion
Von anderen Gemeinschaften unterscheidet sich die Kirche dadurch, dass es bei ihr um Religion in einer bestimmten Ausprägung geht. Das Gemeinwesen wiederum muss sich auf eine Vielfalt von Religionen (und Weltanschauungen) einstellen. Problematisch erscheint dabei die begriffliche Erfassung von »Religion«. In der Religionswissenschaft werden eine ganze Reihe von Definitionsvorschlägen gemacht. Dabei lassen sich neben philosophischen und hermeneutischen vor allem substantialistische und funktionalistische Ansätze unterscheiden (Pollack 1995).
Substantialistische Ansätze suchen Religion durch die Angabe ihres Bezugsgegenstandes zu erfassen. Religion kann dann als Glaube an einen oder mehrere Götter, als erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen oder als Beziehung zu etwas übersinnlichem, transzendentem oder absolutem beschrieben werden. Das Problem dieser Ansätze besteht darin, dass der Begriff entweder zu eng oder zu weit gefasst ist, um alle Phänomene angemessen zu erfassen. Und diese Bestimmungen sind in hohem Maß vom Erleben der religiösen Subjekte abhängig.
Funktionalistische Ansätze setzen demgegenüber bei dem Problem an, das durch Religion bewältigt werden soll, beispielsweise der Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Sozialisierung von Individuen oder deren Persönlichkeitsentwicklung. Diese Ansätze bergen das Problem, dass einerseits das Objektfeld damit zu weit gefasst und funktionale Äquivalente in den Blick kommen, die mit Religion nichts zu tun haben, dass andererseits Religionen polyvalent sind und nicht auf eine bestimmte Funktion reduziert werden können.
Leistungsfähiger erscheint eine Kombination substantialistischer und funktionalistischer Aspekte (Pollack 1995, 184–190). Dann kann Religion begriffen werden als eine Form der Bewältigung von Kontingenz durch den Bezug auf ein transzendentes Absolutes, d. h. durch einen Akt der Überschreitung der verfügbaren Lebenswelt. Kontingenz meint dabei, dass etwas so ist, wie es ist, und doch anders sein könnte. Die Erfahrung von Kontingenz wirft die Sinnfrage auf, die in der Religion durch die Verbindung von Transzendenz und Immanenz beantwortet wird.
Lebenspraktisch betrifft Religion Menschen emotiv, kognitiv und konativ:1 sie ist mit starken Gefühlen wie Glück, Angst und Vertrauen verbunden; sie gibt Orientierung in der Selbst- und Weltwahrnehmung und dies vor allem in Grenzsituationen menschlichen Erlebens; und sie evoziert vielfältige Formen religiöser Praxis und prägt auch darüber hinaus das Handeln religiöser Individuen und Gemeinschaften. Religionsgemeinschaften sind der Ort gemeinsamen religiösen Lebens, an dem einzelne auch zu individueller Religiosität geführt und angeleitet werden (→ 1.5.3).
1.1.1.3 Kontext
Der gesellschaftliche Kontext, in dem sich die Kirche heute befindet, ist durch Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung bestimmt (Fechtner 2017, 32–35; Knoblauch 2018; Liedhegener 2018; → 5.5). Die religiös-weltanschauliche Lage ist von einer Vielzahl an Optionen bzw. einer zunehmenden Diffusität und wenig distinkter Religiosität bestimmt. Die einstmals bestehende Vorherrschaft der christlichen Kirchen ist passé. Die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche besteht nicht mehr. Stattdessen steht der Staat der Kirche als säkulare, religiös-weltanschaulich neutrale Ordnungsmacht gegenüber (→ 3.2).
1.1.2 Ekklesiologisch
Das Selbstverständnis der Kirche wird in der Ekklesiologie bestimmt. Mit dem Begriff »Kirche« wird eine äußerst komplexe Wirklichkeit bezeichnet. »Kirche ist die durch das Wort Gottes begründete Gemeinschaft der Glaubenden« (Härle 1989, 285). Diese Gemeinschaft kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Ekklesiologisch ist zwischen der Kirche als geistlicher Gemeinschaft (→ 1.1.2.1), in ihrer leiblichen Gestalt (→ 1.1.2.2) und in ihrer jeweiligen geschichtlichen Realität (→ 1.1.2.3) zu unterscheiden.2
1.1.2.1 Kirche als geistliche Gemeinschaft
Unter dem Aspekt der geistlichen Gemeinschaft gehören der Kirche alle wahrhaft Gläubigen an. Von dieser Gemeinschaft ist in den altkirchlichen Bekenntnissen ausgesagt:
»Credo … et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam.« [Ich glaube ... auch eine heilige, allgemeine und apostolische Kirche.]
Die Einheit der Kirche geht darauf zurück, dass sich alle Glieder auf einen Herrn, einen Glauben und eine Taufe gründen. Die Heiligkeit der Kirche folgt daraus, dass die Gemeinschaft der Glaubenden als communio sanctorum zu Gott gehört. Die Allgemeinheit oder Katholizität gründet in dem unbeschränkten Heilswillen Gottes, der allen Menschen gilt. Die Apostolizität bezeichnet den Zusammenhang mit dem Zeugnis der Apostel.
Diese Attribute kommen der Kirche als geistlicher Gemeinschaft zu. Es geht dabei nicht um empirische, sondern um Glaubensaussagen. Welche Menschen zu den wahrhaft Gläubigen gehören, ist nicht offensichtlich. Die Kirche ist insofern als ecclesia spiritualis verborgene Kirche.
1.1.2.2 Kirche in ihrer leiblichen Gestalt
Die Kirche als geistliche Gemeinschaft setzt ihrem Wesen nach voraus, dass sie erfahrbar wird und leibliche Gestalt annimmt. Die konstitutiven Merkmale der leiblichen Gestalt der Kirche ergeben sich aus der Bestimmung der Kirche als der durch das Wort Gottes begründeten Gemeinschaft der Glaubenden. In Artikel 7 des Augsburgischen Bekenntnisses (Confessio Augustana – CA) wird die Kirche darum als Versammlung der Gläubigen bestimmt, »bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden«. Diese Aussagen beschreiben einen praktischen Vollzug, durch den die Kirche jeweils zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort leibliche Gestalt gewinnt. Durch diese Grundvollzüge der Kommunikation des Evangeliums können Menschen zum Glauben kommen und so Anteil an der Kirche als geistlicher Gemeinschaft gewinnen (CA 5).
Die Bestimmung der Kirche nach CA 7 gilt universal, d. h. über alle zeitlichen und räumlichen Beschränkungen hinweg, denn die genannten Grundvollzüge sind konstitutiv für die Kirche und genügen zu ihrer wahren Einheit. Als Glieder der so bestimmten ecclesia universalis sind, da der Glaube menschlicher Überprüfung entzogen ist, alle anzusehen, die an der Kommunikation des...