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Stress ganzheitlich verstehen und managen

Trainingsmanual für Gruppen - mit neurobiologischen Grundlagen und integrativen Ansätze

AutorAriane Orosz
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783456759081
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Dieses Manual wurde speziell für die Leitung von Stressmanagement-Gruppen entwickelt. Es bietet Coaches, Psychotherapeuten und anderen Fachpersonen umfassende Unterstützung bei der Durchführung von Gruppentrainings in ganzheitlicher Stressbewältigung, bei der das Erleben und Interventionen in der körperlichen, emotionalen und kognitiven Dimension einbezogen werden. Neurobiologisches Hintergrundwissen wird nach vollziehbar vermittelt und praktische Anwendungen anschaulich erklärt. Ganzheitliche Methoden wie Körperwahrnehmung, Atmung, Imaginationsübungen etc. und deren neurobiologische Bedeutung im Zusammenhang mit Stressmanagement, Erholung und Resilienzentwicklung spielen eine wesentliche Rolle. Das Programm eignet sich sowohl als präventive Maßnahme, als auch als ambulantes oder stationäres Angebot.

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Leseprobe

2 Von Reizen und Stressoren


2.1
Modulziele


  • Den Unterschied zwischen Reizverarbeitung und Stressreaktion kennen
  • Die Stressreaktion als Anpassungsprozess und Bewältigungsstrategie anerkennen
  • Kennenlernen des Aktivierungs- und Deaktivierungsmodells
  • Einführung und Selbsterfahrung des autonomen Nervensystems

2.2
Hintergrund


2.2.1
Der Organismus als dynamisches Reizverarbeitungssystem: die Homöostase


Unser Gehirn verarbeitet in jedem Augenblick eine Fülle an unterschiedlichsten Informationen, allem voran Sinneswahrnehmungen, d.h. visuelle, auditorische, olfaktorische und somatosensorische Reize aus der Umwelt sowie Signale vom eigenen Körper, die alle einem Bewertungsprozess unterzogen werden ([14], [38]). Bei „positiv“ bewerteten Reizen wird Energie aufgewendet, um mehr davon zu bekommen und bei „negativen“ Reizen wird Energie zu deren Vermeidung investiert [39]. Einerseits wird angenommen, dass diese Evaluation von Reizen nicht auf bewusster Wahrnehmung beruht, sondern ausschließlich von evolutiv alten Gehirnstrukturen, d.h. durch das limbische System gewährleistet wird [40]. Andererseits steht dieser Annahme das transaktionale Stressmodell von Lazarus entgegen, gemäß dem eine Situation kognitiv als positiv, neutral oder potenziell gefährlich bewertet wird [41].

Bei neutralen und positiven Reizen bleibt der Organismus in einem physiologischen Fließgleichgewicht, in dem Energiegewinn und Energieaufwand sich die Waage halten. Dieser Zustand wurde von Walter Cannon Homöostase benannt [18]. Ursprünglich beschreibt Homöostase ein dynamisches, durch interne regelnde Prozesse sich selbst regulierendes Gleichgewicht. Homöostatische Systeme sind in der Biologie überall zu finden, Beispiele dafür sind der Säure-Base-Haushalt (PH-Wert) oder der Zuckergehalt des Blutes, der Salzhaushalt, das Immunsystem, hormonelle Regelkreise oder die Stressantwortsysteme, d.h. das autonome Nervensystem und die hormonelle Stressachse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse) sowie auch unser Organismus als Ganzes. In der Homöostase ist ein System optimal anpassungsfähig und kann Störungen regulieren. Das bedeutet, dass, falls externe oder interne Reize die Homöostase vorübergehend destabilisieren, diese sich über Anpassungsvorgänge selbst wiederherstellen kann. Diese „organismische Selbstregulation“ ist ein grundlegender biologischer Mechanismus und wurde durch Kurt Goldstein beschrieben [42]. Goldstein hielt auch fest, dass der Endpunkt der Selbstregulation ein mittlerer Erregungszustand des Organismus ist und somit die Homöostase nicht mit Entspannung gleichzusetzen ist. Obwohl die Homöostase ursprünglich als ein physiologisches Prinzip beschrieben wurde, findet es ganzheitlich Anwendung. Gemäß dem Integrationsmodell nach IBP (s. Kap. 3 „Ein ganzheitliches Phänomen – die Erlebensdimensionen der Stressreaktion“; [1]) sind körperliche, emotionale und kognitive Prozesse miteinander vernetzt. Das impliziert, dass die Homöostase auch Repräsentationen in der emotionalen und kognitiven Erlebensdimensionen hat. Emotionale Homöostase ist beispielsweise durch Gelassenheit gekennzeichnet, während kognitive Homöostase als geistige Präsenz, Offenheit und Klarheit im Denken erlebt werden kann.

2.2.2
Das Erleben der Homöostase: das autonome Nervensystem und die Herzratenvariabilität


Das Prinzip der Homöostase ist keineswegs ein abstraktes, theoretisches Konstrukt, sondern lässt sich gut an den Strukturen und Funktionen des autonomen Nervensystems (ANS) veranschaulichen und am eigenen Leib erfahren. Das ANS, auch vegetatives Nervensystem genannt, reguliert autonom ablaufende, lebenswichtige Körperfunktionen, wie z.B. die Herzrate, den Blutdruck oder die Verdauung, die nicht durch unser Bewusstsein kontrolliert werden können – und müssen. Das ANS besteht aus zwei antagonistisch wirkenden Anteilen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus, die gemeinsam die Organfunktionen an die aktuellen Bedingungen anpassen. Der Sympathikus bewirkt, dass Energie im Körper mobilisiert wird und die Organtätigkeiten auf Aktivität eingestellt werden: In der Leber wird Glykogen abgebaut und Glukose ins Blut freigesetzt, die Herzrate und der Blutdruck werden erhöht, die Bronchien zwecks gesteigerter Sauerstoffaufnahme erweitert usw. Im Gegensatz dazu steuert der Parasympathikus regenerierende und aufbauende Vorgänge, wie die Speicherung von Glukose in Form von Glykogen in der Leber, Verlangsamung der Herzrate, Aktivierung der Verdauungsprozesse usw. Sympathikus und Parasympathikus sind stets und gleichzeitig aktiv und haben auf einander eine hemmende Wirkung. Bei Entspannung dominiert der Parasympathikus und bei Aktivierung und, wie später gezeigt, bei Stress der Sympathikus. Eine gängige Metapher vergleicht den Sympathikus mit dem Gaspedal und den Parasympathikus mit der Bremse eines Autos. Bezogen auf das ANS bedeutet Homöostase, dass der Organismus durch Sympathikus und Parasympathikus optimal an die jeweilige Situation angepasst werden kann. Es wird grundsätzlich gerade die Menge an Energie durch den Sympathikus mobilisiert, die zur kognitiven, emotionalen und physiologischen Verarbeitung und Adaptation eines Reizes benötigt wird. Nach erfolgreicher Anpassung führt eine erhöhte Parasympathikusaktivität zur Regeneration der Reserven.

Die Regulationstätigkeit von Sympathikus und Parasympathikus lässt sich einfach und elegant anhand der Herzratenvariabilität (HRV) beobachten und veranschaulichen. Die Herzrate wird von Herzschlag zu Herzschlag durch das ANS an die momentanen Erfordernisse angepasst. Das heißt, dass die Intervalle zwischen den Herzschlägen (im Millisekundenbereich) jeweils unterschiedlich lang sind. Je variabler die Intervallunterschiede sind, desto größer ist die HRV und desto effektiver ist die Anpassungsfähigkeit durch das ANS. Die Regulation der Herzrate durch das ANS kann man erleben, indem man den eigenen Puls in Abhängigkeit des Atems beobachtet. Einatmen ist mit Aktivierung verbunden, Ausatmen mit Entspannung. Dementsprechend ist beim Einatmen der Sympathikus im Vordergrund, der eine Erhöhung der Herzrate bewirkt. Beim Ausatmen bremst der Parasympathikus den Sympathikus und führt zur Verlangsamung der Herzrate. Das Erleben dieser so genannten respiratorischen Sinusarrhythmie, d.h. der an die Atmung gekoppelten Schwankung der Herzrate, ist für viele Personen sehr überraschend, da oft davon ausgegangen wird, dass der gesunde Herzschlag regelmäßig ist.

Nach neueren Erkenntnissen, wird die HRV vornehmlich durch den Parasympathikus gesteuert [43]. Beim Einatmen zieht sich der Parasympathikus zurück und es kommt zur Enthemmung des Sympathikus, wohingegen beim Ausatmen der Parasympathikus aktiviert ist und die Sympathikusaktivität am Herzen hemmt. Für eine vorwiegend durch den Parasympathikus kontrollierte HRV spricht auch die Tatsache, dass die Reizleitungsgeschwindigkeit des Vagus, dem Hauptnerv des Parasympathikus, schneller ist als die des Sympathikus und somit die Herzrate über Bremse und „Entbremsung“ gesteuert wird (Tabelle 2-1).

2.2.3
Das Verlassen der Homöostase – die Stressantwort


Während viele, vor allem neutrale und positive Reize innerhalb der Homöostase verarbeitet werden können, erfordert die Bewältigung und Adaptation von negativen oder potenziell bedrohlichen Reizen mehr Energie, welche durch erhöhte Sympathikusaktivierung bereitgestellt wird. Das Ausmaß der Aktivierung ist abhängig von der (wahrgenommenen und subjektiv bewerteten) Wirkungsintensität des Reizes bzw. des Stressors, welche sich auf einem Kontinuum von Reiz – Stressor – Trauma erstreckt. Analog dazu lassen sich die für die Bewältigung beanspruchten Strategien in Homöostase – Stressreaktion/Mobilisation – Immobilisation einstufen. Die Übergänge sind fließend. Die Stärke der Aktivierung und die entsprechende Adaptationsstrategie sind im Aktivierungs-/Deaktivierungsmodell dargestellt (Abbildung 2-1).

In der Polyvagal-Theorie von Stephen Porges ([44], [45]) werden den Adaptationstrategien spezifische Subsysteme des ANS zugeordnet (Tabelle 2-1). Die Polyvagal-Theorie erweitert die Zweiteilung des ANS in Sympathikus und Parasympathikus, indem er den Parasympathikus in zwei Untereinheiten – den dorsalen und ventralen Vaguskomplex – aufteilt. Diese Aufteilung basiert darauf, dass der Vagus, der Hauptnerv des Parasympathikus, aus zwei unterschiedlichen Kernen im Hirnstamm entspringt und verschiedene Entwicklungsstufen in der Phylogenese repräsentiert. Der dorsale Vaguskomplex, bestehend aus langsam leitenden Nervenbahnen, ist die urtümlichste Struktur des ANS und gewährleistet auch die älteste und primitivste Adaptationsstrategie: die Immobilisationsreaktion, auch „Freeze“ oder Totstellreflex genannt. Die Immobilisationsreaktion entspricht einem „shutdown“, der bei physiologischer und/oder emotionaler Überforderung den Organismus erstarren lässt und lediglich die wichtigsten Funktionen wie die des Herz-Kreislauf-Systems oder der Atmung aufrechterhält.

Im Verlauf der Evolution entwickelte sich zum dorsalen Vaguskomplex mit seiner passiven Adaptationsstrategie der Immobilisation eine Struktur hinzu, die einen aktiven Umgang mit Bedrohung möglich...

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