Die gescheiterte Hoffnung
Denke nicht ans Gewinnen, doch denke darüber nach,
wie du nicht verlierst.
Funakoshi Gichin,
Die 20 Regeln
Denke nicht ans Verlieren, doch denke darüber nach,
wie du nicht gewinnst.
Unbekannter Mann
Als ich vielleicht zehn, elf Jahre alt war, fiel mir ein Buch über Segelboote in die Hände. Dieser Bildband war sicher der Ausgangspunkt vieler in meiner Jugend angefertigter Zeichnungen derartiger Boote, so wie dieses Buch vielleicht auch sehr viel später dazu beigetragen hat, dass einige Segelszenen in meinen Romanen auftauchten. Ich selbst war allerdings nur ein einziges Mal segeln, so mit vierzehn etwa, ein Wochenendausflug mit meinem oft absenten Vater und meinem Bruder. Ein Ausflug, der seinen Höhepunkt darin fand, dass wir auf dem für seine geringe Wassertiefe bei gleichzeitiger Gefährlichkeit bekannten Neusiedler See kenterten. Wir waren nicht die Einzigen. Überall auf dem von starkem Wind aufgepeitschten Wasser sah man die liegenden Boote von Ausflüglern. Es hatte etwas von einer Regatta für Waagrechtsegler.
Mein Vater war ein aus vielen Demütigungen heraus entstandener Mann des Siegens, den dieses Missgeschick schrecklich ärgerte und der keinesfalls vom Bootsverleiher gerettet werden wollte, welcher an diesem Tag sein Geschäft weniger mit dem Verleih der Boote als ihrer Rückholung machte.
Wir standen da im Wasser, die Füße im weichen Schlamm wie in einer saugenden Muschel, und versuchten unter den Anweisungen meines Vaters, das Boot wieder in die Senkrechte zu befördern. Ich meine, mich an meine Angst zu erinnern, Angst vor dem Wasser, Angst, etwas falsch gemacht zu haben, Angst, dieses Boot nie und nimmer zum »Aufstehen« bewegen zu können. Eher schien mir das Boot wie eines dieser in Wildwestfilmen umgeschossenen Pferde, einerseits. Andererseits empfand ich mit großer, berauschender Plötzlichkeit, wie sich hier ein ersehnter Zustand einstellte: Familie zu sein. In diesem Moment des Scheiterns und der Angst spürte ich eine große Nähe zu dem während seiner seltenen Besuche mir stets so fremden Erzeuger. Einen verrückten Moment lang dachte ich mir, dass dieser »Unfall« uns auf ewig zusammenschweißen würde. Aber klar, wir mussten natürlich zusehen, der Schmach des Abgeschleppt-und-aus-dem-Wasser-gezogen-Werdens zu entkommen, schafften es tatsächlich, das »Pferd« wieder auf die Beine zu befördern, wären dann aber beim Hineinklettern beinahe erneut gekentert … Fast wünschte ich mir eine kleine, uns verbindende Komödie wiederholten Kenterns.
Doch wir blieben oben und begannen, mit einem Eimer und bloßen Händen das Wasser aus dem Inneren des Boots zu schöpfen. Um in der Folge unter einigen Mühen an einen Ufersteg zu gelangen, ein Abflauen des Windes abzuwarten und schließlich die Rückfahrt anzutreten. Es gelang. Sehr zum Erstaunen des Bootsverleihers, der gehofft hatte, uns kostenpflichtig retten zu müssen. Nachher erhielt diese Geschichte innerhalb der Familienhistorie diverse Ausschmückungen, die den Sturm heftiger, die Situation dramatischer und den Ärger des Bootsverleihers ärgerlicher erscheinen ließen. Ich dachte noch lange an diese gewisse familiäre Verbundenheit, als wir da mit einem Mal im Wasser standen. Das Glück im Moment des Scheiterns und weniger im Moment des Gerade-noch-davongekommen-Seins.
Es war also drei, vier Jahre davor, als ich auf besagtes Buch übers Segeln stieß, einen Band mit vielen tollen Bildern, auf denen die Ozeane, über welche die Schiffe fuhren, wie eine Bühnenfassung des romanhaften Neusiedler Sees wirkten. Was mich dabei am meisten faszinierte, waren gar nicht so sehr die großen Jachten und gewaltigen Dampfer, sondern die im wahrsten Sinne handlichen Boote der Einhandsegler. Wobei ich noch lange vermutete, dies würde eben nicht nur bedeuten, dass hier ein Mann oder eine Frau ganz alleine segelte, sondern vor allem, dass er oder sie das Steuerrad immer nur mit einer Hand bediente. Dies hatte in meiner Vorstellung eine ungemeine Würde und Souveränität. Wie man sich einen großen Bildhauer denkt, der eine Figur mit nur einer Hand modelliert, in der anderen aber elegant eine Zigarette hält. Und zwar vor lauter Überheblichkeit mit seiner schlechteren Hand – also mit der schlechteren Hand die Figur modelliert, mit der besseren die Zigarette hält.
Eine der Abbildungen in diesem Buch ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Darauf ist ein kränklich blasses Boot bei ruhiger See zu erkennen. Blass und verlassen. Ich weiß noch, dass die Bildunterschrift irgendwelche Hinweise darauf lieferte, wie sehr das Einhandsegeln nicht allein den menschlichen Körper herausfordere, sondern eben auch den menschlichen Geist, und zu immensen psychischen Problemen führen könne. Man bedenke die Isolation über einen so langen Zeitraum.
Genau das musste dem »einhändigen« Mann zugestoßen sein, der auf diesem Boot gewesen war, das mich, den Zehn- oder Elfjährigen, so fasziniert hatte. Ein trauriges Boot. Und erst sehr viel später würde mir der Anblick eines anderen Fahrzeugs der Meere ein ähnliches Gefühl vermitteln. Ein Schiff, das man kaum sieht, derart ist es von arktischen Eisblöcken zugedeckt. Und doch ist es gerade mittels seines Verschwindens das zentrale Objekt.
So, wie ich lange glaubte, Einhandsegler seien in lässiger Weise nur ihre Rechte oder Linke gebrauchende Gelehrte der Einsamkeit, so dachte ich auch lange, dass der Titel dieses bestimmten Bilds von Caspar David Friedrich Die gescheiterte Hoffnung laute. Und unter diesem Titel ist es ja auch heute noch bestens bekannt. Allerdings ist seit 1965 kunsthistorisch erwiesen, dass es sich bei diesem Titel um eine Verwechslung handelt und er, der Titel, sich eigentlich auf das bereits 1822 entstandene Polarbild Ein gescheitertes Schiff auf Grönlands Küste im Wonne-Mond (auch Misslungene Nordpolexpedition oder Die zertrümmerte Hoffnung) bezieht. Darauf ein ähnlich von Eisschollen zerdrücktes Schiff zu sehen ist. Ein Wrack, auf dessen Resten man den Schiffsnamen lesen kann: Hoffnung. Dieses Bild gilt allerdings sei 1868 als verschollen. Während das allgemein bekannte zweitgemalte seit 1905 in der Hamburger Kunsthalle hängt und nun Das Eismeer heißt. Was aber nichts daran ändert, dass man bei seinem Anblick meint, die »gescheiterte Hoffnung« zu sehen, möglicherweise sogar ein Schiff, das den gleichen Namen trägt wie jenes auf dem davor gemalten und nun verschollenen.
Ich glaube, es ist dies wirklich ein Gemälde, das in den Köpfen der Europäer festsitzt. Bewusst oder unbewusst. Sowohl in Kombination mit dem Namen des Malers und seiner Bedeutung als auch in Form einer irgendwo aufgeschnappten Abbildung. Es ist geradezu die gemalte Hymne auf das Scheitern. Im Falle des Künstlers selbst bezieht sich dies auf die vielen nicht erfüllten Hoffnungen in der Zeit des Vormärz sowie auf den Umstand von Friedrichs damals bereits verblassendem Stern. Es brauchte darum das 20. Jahrhundert mit seiner Begeisterung für die Leere, um die betörenden Einsamkeitsbilder dieses Künstlers wieder in den Blickwinkel eines großes Publikums zu rücken.
Ohne noch viel über den Hintergrund dieses Bilds zu wissen, empfand ich schon beim ersten Mal, als ich es in der verkleinerten Form einer Kunstkarte sah, dennoch die tiefe Wahrheit seiner Aussage. Wie sehr eben die Hoffnung an das Scheitern gebunden ist. Wie banal eine Welt wäre, in der sämtliche Hoffnungen sich erfüllten. Weil nämlich in einer solchen Welt Bilder wie dieses von Friedrich gar nicht entstehen würden. Es braucht das Unglück, um darüber berichten zu können. Und natürlich schafft das Unglück die Kunst und die Philosophie. Und eigentlich alles, was ständig damit beschäftigt ist, das Unglück zu verhindern oder es erträglich zu machen oder auch nur es zu begreifen. Unentwegt geschehen Fehler, erfolgen Irrtümer, passieren Missgeschicke.
Man wird mir entgegenhalten, dass doch auch vieles gut geht. Ja, es geht aber darum gut, weil wir so verzweifelt wie verbissen gegen die Natur des Schlechtgehens ankämpfen. Die Welt ist ununterbrochen dabei, auf einer Bananenschale auszurutschen. Und ununterbrochen dabei, Bananenschalen aus dem Weg zu räumen.
Als ich mich jetzt an dieses Bild einer verlassenen Segeljacht erinnere und dabei an die Traurigkeit, aber eben auch Rührung, die der Anblick in mir auslöste, beginne ich zu recherchieren und stoße auf einen Mann namens Donald Crowhurst. Und bin mir bald sicher, dass es sich bei ihm um jenen Einhandsegler handelt, dessen verlassenes Boot, ein Trimaran namens Teignmouth Electron, mir als Kind ein Gefühl gab für die bittere Süße des Scheiterns.
Obgleich ich also den Namen des Boots und den Namen des Mannes zu diesem Boot bald kenne, kann ich gleichzeitig in der Menge von Fotos, die das Internet anbietet, nicht das eine Bild aus dem Buch meiner Kindheit ausmachen. Viele ähnliche, aber nicht dieses eine. (Es bereitet uns zwischenzeitlich auch eine gewisse Freude, etwas nicht zu finden. Etwas nicht zu finden erscheint fast wie ein Beweis dafür, dass es wirklich existiert oder existiert hat.)
Was ich freilich gleich entdecke, sind die vielen Hinweise darauf, es komme soeben ein Film mit Colin Firth in der Rolle des Donald Crowhurst in die Kinos, ein Film nach einer wahren Begebenheit. Was immer ein wenig so klingt, als würde sich jemand für ein Ausweiden der Realität entschuldigen.
Spiegel Online hatte siebenundvierzig Jahre nach den Ereignissen getitelt: Der Mann, der sich um den Verstand segelte. Während die FAZ zwei Jahre später sich zu...