Wenn wir uns umblicken, haben wir gerade in diesem Tagen nicht unbedingt das Gefühl, als stünde alles zum Besten. Von den großen übergeordneten politischen Entwicklungen einmal abgesehen, scheint auch die persönliche Situation vieler Menschen krisenbehaftet zu sein. Wo man hinschaut: Probleme. Die Hälfte aller Ehen scheitert, emotionale Schwierigkeiten unter Jugendlichen nehmen immer weiter zu, der Rauschmittelgebrauch steigt genauso wie andere Süchte – bis hin zur Arbeitssucht. Seelische Erkrankungen, so hat es den Anschein, werden zu Volkskrankheiten, was neben den persönlichen Auswirkungen auf jeden Einzelnen auch bedenkliche volkswirtschaftliche Folgen hat. Immer mehr Menschen brauchen und suchen Hilfe. Warum aber ist das so? Können wir uns »schöne Gefühle« nicht mehr leisten? Und wenn das stimmt: Lohnt es sich dann nicht, in Überlegungen Kraft und Zeit zu investieren, wie dieser Zustand sich ändern lässt? Wären wir nicht viel zufriedener und gesünder, wenn wir unser Gefühlsleben in den Griff bekämen?
Zwei kurze Beispiele aus meiner Tätigkeit als Kardiologe sollen verdeutlichen, wie ich mit der Zeit immer stärker merkte, dass der Schlüssel zu Krankheit und Heilung – und zwar bei Weitem nicht nur zur seelischen Heilung –, in der genauen Kenntnis unserer Gefühle steckt. Die erste Schlüsselszene ereignete sich im Jahr 2000. Ich arbeitete in einem Herzzentrum und im Grunde war der 39-Jährige, mit dem ich dort zu tun hatte, ein Routinefall – auch wenn 39 eigentlich kein Alter war, in dem man normalerweise mit einem Herzinfarkt rechnet. Dieser Mann jedoch war rechtzeitig in die Klinik gekommen, sein Infarkt lag erst etwa zwei Stunden zurück, sodass wir handeln konnten.
Innerhalb von nur 90 Minuten gelang es unserem Team, ein fast völlig verschlossenes Blutgefäß mit einem Katheter, einer so- genannten Ballondilatation und dem Einbau eines Stents stabil wieder zu eröffnen. Zum Glück war es noch zu keiner dauerhaften Schädigung des Herzgewebes gekommen. Fast alles funktionierte wieder wie zuvor. Für mich als Mediziner war damals das erwünschte therapeutische Ergebnis erreicht. Aber sollte es damit wirklich schon getan sein?
Vier Tage später begegnete ich dem Mann im Park der Klinik, in seiner Hand: eine Zigarette. Wenige Tage, nachdem er dem Tod ins Auge geblickt hatte, frönte er den alten Gewohnheiten und fand sichtlich nichts Besonderes dabei. Offenbar war das Rauchen für ihn ebenso selbstverständlich wie in der Zeit vor dem Infarkt.
Ich war mehr als irritiert, denn hier passten die Dinge nicht zusammen. Ganz offensichtlich reichte es dem Patienten, dass wir an seinem Körper eine »Reparatur« vorgenommen hatten und zunächst einmal alles wieder so funktionierte wie vor dem Herzinfarkt. Ich jedoch spürte, dass mich dieser Vorgang in meinem ärztlichen Selbstverständnis zutiefst berührte. War ich nur der Meister in einer Reparaturwerkstatt? Genügte es, Funktions- fähigkeit wiederherzustellen und dann den Blick am Tellerrand abzuwenden? Oder lohnte es sich doch, weiter über diesen hi-nauszublicken, als das bisher der Fall gewesen war? Mehr noch: Musste ich nicht sogar darüber hinausblicken, um meinem medizinischen Anspruch auf Heilung wirklich gerecht zu werden?
Ich fühlte mein ärztliches Selbstverständnis grundsätzlich in Frage gestellt. Offenbar war es weder mir noch dem Patienten gelungen, die Weichen auf eine wirkliche Heilung zu stellen. Diese ist nämlich etwas ganz anderes, als rein symptomorientierte Reparaturarbeiten. Ich rief mir andere Beispiele aus der Vergangenheit in Erinnerung und stellte fest, dass dieser Fall gar nicht einmal so selten vorkam. Patienten wurden als gesund entlassen, weil der körperliche Schaden behoben worden war. In ihrem Gefühl für sich selbst jedoch hatte sich offenbar nichts geändert, sodass die nächste gesundheitliche »Panne« und der entsprechende neuerliche Besuch in der Reparaturwerkstatt vorprogrammiert schienen.
Der scheinbar simple Fall war für mich wie ein Startschuss. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet dieser eine Patient war, der ein solch einprägendes Erlebnis hervorrief, aber er geht mir bis heute nicht aus dem Kopf. Offenbar war mein Geist in diesem Moment bereit, eine neue Bewusstseinsstufe zu erklimmen. Dafür bin ich dem rauchenden Infarktpatienten im Nachhinein fast ein wenig dankbar.
Gefühle sind ein Korrektursystem des Körpers
Wie wir von Psychotherapeuten wissen, ruft ein Herzinfarkt, bei dem ja unser zentrales Organ oder auch nur ein Teil davon abstirbt, bei dem Betroffenen ein Gefühl der Angst vor der totalen Vernichtung hervor, eine regelrechte Todesangst. Immerhin stirbt auch heute noch jeder zweite, wenn der Infarkt nicht möglichst schnell in einer Klinik behandelt wird. Alles, was jemand in solchen Stunden angesichts des möglichen Todes fühlt, müsste ihn doch dazu bewegen, sein Leben grundlegend zu verändern. So jedenfalls dachte ich damals. Doch bei diesem Mann schien dieser »Mechanismus« ganz offensichtlich nicht zu funktionieren. Hatte er den Zusammenhang zwischen seiner Katastrophe und seiner bisherigen Art zu leben gar nicht gefühlt oder zumindest nicht hinreichend stark, nicht klar genug? War es für ihn vielleicht nur eine leichte Ahnung gewesen, auf die man nicht unbedingt etwas geben musste? Und wenn das zutraf, trug dann nur er allein Verantwortung für diese Wahrnehmungsschwäche? Oder waren wir Mediziner mit in der Verantwortung? Gab es da Lücken, die auch ich bislang noch nicht gesehen hatte?
Seit diesem Schlüsselerlebnis beobachtete ich meine Patienten noch genauer und machte eine Feststellung, die meine Art, über Krankheit und Heilung nachzudenken, nachhaltig verändern sollte: Viele Patienten waren krank geworden, weil sie nicht auf ihre Gefühle gehört hatten. Müsste also nicht der entscheidende Ansatz sein, Gefühle stärker ins Leben einzugliedern, um sie als eine Art Frühwarn- und Korrektursystem des Körpers zu nutzen?
Nur kurze Zeit später begegnete mir ein Patient, der mir deutlich machte, dass es so einfach dann doch nicht war. Wir hatten die bedrohlich verstopften Herzkranzgefäße des 62-Jährigen bereits zum zweiten Mal an zwei verschiedenen Stellen mit einem Stent wieder »gängig« gemacht. Da ich, nicht zuletzt durch das Erlebnis mit besagtem rauchenden Infarktpatienten, noch neugieriger auf die Lebensumstände meiner Patienten geworden war als zuvor, interessierte ich mich auch in diesem Fall sehr dafür, was diese ernste Erkrankung beeinflusst haben könnte.
Wie erstaunt war ich, als ich zunächst feststellen musste, dass der Patient offenbar ein extrem gutes und ausgeglichenes Leben führte. Raucher war er nie gewesen, Hektik schien für ihn ein Fremdwort zu sein. Nie hatte er zu viel oder gar zu fett gegessen, und auf Wander- und Spazierwegen fand man ihn deutlich häufiger als vor dem Fernseher. Man sollte meinen, dass es ihm zumeist leicht ums Herz und dieses damit wenigen schlimmen Belastungen ausgesetzt war.
Dennoch plagte ihn diese Enge in der Brust (Angina pectoris), und ich stellte mir die Frage, wie das zusammenpasste. Bei einem ausführlichen Gespräch erfuhr ich dann, dass es in seiner familiären Umgebung immer wieder zu schwierigen Situationen gekommen war. Er erzählte intensiv von verschiedenen Krankheiten bei Angehörigen, von Jobverlusten, Scheidungen, auch von einem Autounfall war die Rede, darüber hinaus noch so manch andere Laune des Zufalls. Entscheidend schien dabei die Rolle zu sein, die er übernahm: Er war immer der Helfer, musste vermitteln, überreden und überzeugen, Auswege suchen, Zeit, oft auch Geld und nicht zuletzt Trost spenden.
Was ich in diesem Gespräch sehr deutlich spürte: Das Unglück der anderen war immer häufiger auch zu seinem persönlichen Unglück, fremdes Pech zu eigenem Pech geworden. Diesen Mann schien gerade seine Fähigkeit, Gefühle zuzulassen, in die Katastrophe geführt zu haben: Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes immer alles zu Herzen genommen. Viel zu sehr, wie ihm Freunde schon oft gesagt hatten, und wie wir Ärzte nun an seinen Herzkranzgefäßen sahen. Das gute und für unser soziales Zusammenleben unverzichtbare Gefühl des Mitfühlens hatte hier das erträgliche Maß überschritten und diesen Mann selbst krank werden lassen. Mitleid war zu herzergreifendem Mitleiden geworden.
Was ich gerade geschildert habe, sind nur zwei Beispiele aus meiner Tätigkeit als Kardiologe, die mich nie wieder losließen. Je länger ich nachdachte, desto mehr ähnliche Episoden fielen mir ein, und irgendwann fand ich dieses offensichtliche Missverhältnis zwischen innerem Erleben und äußerem Handeln so auffällig, dass ich mich gezielt auf die Suche nach Hintergründen und Lösungsansätzen machte.
Wonach ich suchte, war gewissermaßen der »Missing Link«, das Wissen darüber, welche Funktion und welche Folgen Emotionen wie zum Beispiel Wut, Empörung, Verachtung, aber auch Hoffnung, Zuversicht, Freude und natürlich Liebe für die Frage nach Krankheit und Gesundheit haben. Können sie uns wirklich krank machen? Und wenn ja, müssten sie dann im umgekehrten Fall nicht auch die Heilung unterstützen können?
Gefühle, so lernte ich mit der Zeit immer besser, sind nicht das Ungefähre, das nicht richtig Fassbare, mit dem sich aus Sicht eines »richtigen« Arztes besser die Psychologen befassen sollten und die in unserer auf Verstand ausgerichteten Gesellschaft häufig keinen guten Ruf haben – weil man sich nicht auf sie verlassen kann, weil sie zu wenig konkret sind, weil jeder einfach anders fühlt. Unsere Gefühle, davon bin ich...