1 Die depressive Gesellschaft?
Bernhard Grimmer
Einleitung
Nach einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) waren 2015 weltweit rund 322 Millionen Menschen von Depressionen betroffen, was einen Anteil von 4,4 % der Weltbevölkerung ausmacht. Vor zehn Jahren sind es noch 18 % weniger gewesen. Für den rasanten Anstieg werden vor allem das Bevölkerungswachstum und die höhere Lebenserwartung verantwortlich gemacht. Weltweit gelten Depressionen heute als die Hauptursache für Lebensbeeinträchtigungen (Spiegel Online 2017).
In Deutschland und in der Schweiz haben sich die Krankschreibungen und die Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund von Diagnosen psychischer Störungen in den letzten 15 Jahren in historisch einzigartiger Weise verdoppelt, auch die Frühberentungen haben sich deutlich erhöht. Dieser Anstieg geht fast ausschließlich auf depressive Erkrankungen, neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen zurück. Diese Entwicklung ist mit großem individuellem Leid und hohen gesellschaftlichen Kosten verbunden.
Schon seit mehr als 10 Jahren ist deshalb immer wieder die Rede von einer depressiven Gesellschaft (Haubl 2007), wozu Ehrenbergs (2004) Buch »Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart« einen maßgeblichen Beitrag geliefert hat. Depression wird auch als Leitkrankheit und »Pathologie des Globalisierungszeitalters« bezeichnet (Rosa 2011, S. 1056). Der Psychoanalytiker Bollas (2015, S. 154) spricht davon, dass sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine »ganze Generation nicht nur in Trauer, sondern in einer Art behindernder Melancholie« befinde.
1.1 Zur Psychopathologie der Gesellschaft
Auch wenn die Zahlen eindrucksvoll und besorgniserregend wirken, stellt sich die Frage, was genau gemeint ist, wenn von einer depressiven Gesellschaft gesprochen wird. Lässt sich aufgrund einer psychischen Erkrankung einer Vielzahl von Individuen auf eine entsprechende Pathologie der Gesellschaft schließen? Mehr oder weniger pathologische soziologische Zeitdiagnosen, die die Gesellschaft mit einem Leitbegriff charakterisieren, gab es schon verschiedene: Risikogesellschaft (Beck 1986), Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992), narzisstische Gesellschaft (Lasch 1979), Müdigkeitsgesellschaft (Han 2010) oder gar »Zeitalter der Verwirrung« (Bollas 2015).
Zunächst ist zu klären, wer eigentlich erkrankt sein soll, wenn man von einer depressiven oder einer narzisstischen Gesellschaft spricht: eine Vielzahl von Individuen, die Großgruppe der Gesellschaftsmitglieder als Kollektiv oder die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft selbst, deren soziale Einrichtungen und Organisationsprinzipien beeinträchtigt sind (Honneth 2014, S. 45)? Bei Freud (1930) beispielsweise ist die Rede von einer kollektiven oder sozialen Neurose, Ehrenberg (2004) bezieht sich auf die Häufung von Erschöpfungsdepressionen in der gegenwärtigen Gesellschaft als Folge einer chronischen Überforderung des Selbst.
Aus psychoanalytischer Sicht hat bereits Freud (1908) einen Zusammenhang hergestellt zwischen einer gesellschaftlichen Verschärfung der repressiven Sexualmoral im Bürgertum der Moderne und der Zunahme von Nervosität (Neurasthenie) und Psychoneurosen als Folge der Verinnerlichung der Moralvorstellung und der Triebunterdrückung. Aus seiner Sicht sind es kulturelle Entwicklungen innerhalb der Gesellschaft, denen sich die Individuen unterworfen sehen und die in der Folge zu einer Häufung neurotischer Störungen führen. Die Krankheit der Gesellschaft (zu repressive Sexualmoral) und die Erkrankungen der Individuen (Hysterie, Neurasthenie, Zwangsstörung) sind hier im Gegensatz zur Rede von der depressiven Gesellschaft nicht identisch. Eine ähnliche Unterscheidung nimmt Alexander Mitscherlich (1983) in seinem Aufsatz »Die Krankheiten der Gesellschaft und psychosomatische Medizin« vor. Er beschreibt in seiner Praxis gehäuft auftretende Fälle von unspezifischem Leistungsversagen, das er als Erlebnisstörung und Folge einer entweder über- oder unterregulierenden Wirkung gesellschaftlicher Normen und Prinzipien, einem Zu-viel oder Zu-wenig sozialer Integration versteht. Sowohl ein repressives als auch ein beliebiges Werte- oder Normensystem, das zu wenig Orientierung vermittelt, kann entsprechende kollektive Phänomene psychischen Leidens auslösen.
Ehrenberg (2004, S. 300) sieht in den gesellschaftlichen Prozessen der Zunahme von Freiheit, Individualisierung und Selbstverantwortung die Voraussetzung für steigenden individuellen Leistungsdruck, Verausgabung, Erschöpfung und Versagensgefühle. Die Multioptionsgesellschaft erfordert ständige Identitätsarbeit und erzeugt permanenten Optimierungsdruck, einhergehend mit der Gefahr zu scheitern und zu versagen: »Die Emanzipation hat uns vielleicht von den Dramen der Schuld und des Gehorsams befreit, sie hat uns aber ganz sicher diejenigen der Verantwortung und des Handelns gebracht. So hat die depressive Erschöpfung die neurotische Angst überflügelt.«
Die Gegenüberstellung der Theorie von Freud und Ehrenberg zeigt, wie beide davon ausgehen, dass sich unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse in je besonderer Weise auf die psychische Organisation, die Psychodynamik und die Symptombildung der in ihr lebenden Individuen auswirken. Ehrenberg (2004) versteht die Erschöpfungsdepression nicht mehr als eine konfliktbedingte Neurose, bei deren Entstehung triebhafte Impulse, Angst und Schuldgefühle eine Rolle spielen. Vielmehr geht es bei ihm um Unzulänglichkeitsgefühle, Versagensängste und Scham. Rosa (2011), der sich weitgehend auf Ehrenberg bezieht, sieht in der Depression die Pathologie der gegenwärtigen Globalisierungsgesellschaft aus drei Gründen: Ersten, weil sie massiv zugenommen habe. Zweitens trete sie gegenwärtig vor allem in Form der Erschöpfung als Folge eines Lebens in einer überfordernden Beschleunigungsgesellschaft mit zunehmenden Kontingenzen und fehlenden Sicherheiten auf. Und drittens verkörpere sie eine Zeiterfahrung »des rasenden Stillstands« (Rosa 2011, S. 1056): In der depressiven Erstarrung mit dem Verlust von Antrieb und Vitalgefühlen kommt es oft zu einem Erleben des zeitlichen Stillstands, Veränderungs- und Entwicklungsperspektiven gehen verloren. Rosa (2011) sieht in der Depression wie Ehrenberg (2004) die Rückseite der gegenwärtigen gesellschaftlichen Beschleunigungsdynamik sowie kollektiver und zugleich individualisierter überfordernder Ich-Ideal-Ansprüche. Dabei symbolisiert der depressive Erkrankte auch ein weit verbreitetes Leiden an den gesellschaftlichen Zuständen: Bei aller Beschleunigung und Erhöhung des Tempos gibt es keine wirkliche Weiterentwicklung und kein Ziel, sondern eben einen rasenden Stillstand. In dem Sinne sei auch ein Burnout die Folge eines »Dauerdrucks ohne Zielhorizont« (Rosa 2011, S. 1058).
Kritisch zu den pathologisierenden Zeitdiagnosen äußert sich Reiche (2011). Er sieht in ihnen simplifizierende, eindimensionale, nur vermeintlich Klarheit schaffende Beschreibungen, die die Komplexität und Widersprüchlichkeit von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen und Zuständen zugunsten von Eindeutigkeit und Sicherheit auflösen. Sie entspringen aus seiner Sicht einer kulturpessimistischen Untergangssichtweise, nach der früher alles besser gewesen sei. Ähnlich kritisch zu den pathologischen Zeitdiagnosen aus psychoanalytischer und soziologischer Sicht äußern sich Dornes (2016), der vor allem mit empirischen Zahlen zu stagnierenden Prävalenzen argumentiert, und Altmeyer (2016).
Zur Präzisierung hat Haubl (2007) drei alternative Bedingungen vorgeschlagen, unter denen man sinnvoll von einer depressiven Gesellschaft sprechen kann:
1. eine zunehmende Erkrankung großer Bevölkerungsanteile an klinisch relevanten Depressionen.
2. wenn eine Gesellschaft großen Bevölkerungsanteilen eine große und noch zunehmende Anzahl von kritischen Lebensereignissen zumute, die zu den typischen Erkrankungsanlässen für Depressionen zählen, auch wenn nicht zwangsläufig mehr klinisch relevant erkranken, weil nicht alle Gesellschaftsmitglieder die Ereignisse gleich verarbeiten.
3. die Entstehung eines Sozialcharakters als Folge gesellschaftlicher Prozesse, der depressiv disponiert ist – wenn also große Bevölkerungsanteile eine depressive Persönlichkeitsstruktur aufweisen.
Im Folgenden werden die gegenwärtige gesellschaftliche Situation und die psychische Gesundheit in der Schweiz und in Deutschland unter diesen drei Aspekten genauer betrachtet. Dies kann in diesem Rahmen jedoch nicht abschließend, sondern nur in Ausschnitten geschehen.
1.2 Häufigkeit von Depressionen in Deutschland und der Schweiz
Gemäß den Zahlen der Krankenversicherer...