2. Das Frankenreich
Im Verlauf der Völkerwanderung entstanden auf dem Boden des 476 untergegangenen Weströmischen Reiches verschiedene Germanenreiche. Von diesen erwies sich das Reich der Franken als das dauerhafteste sowie in seiner Ausstrahlung auf die künftigen Reichsbildungen und die Kultur in Mittel- und Westeuropa als das bedeutendste. Durch die Kaiserkrönung Karls I. »des Großen« (800) kam jene Verbindung zwischen Reich und Kirche, zwischen abendländischem Kaisertum und römischem Papsttum, zustande, welche die politische Entwicklung sowie das Kultur- und Geistesleben in den folgenden Jahrhunderten prägte.
Aus dem östlichen Teil des Frankenreiches entwickelte sich im 10. Jh. das deutsche Reich.
Stammesland der kriegerischen Franken war das Gebiet zwischen Mittel- und Niederrhein sowie der Weser. Die von hier aus ab dem 4. Jh. eroberten Gebiete wurden mit fränkischen Bauern besiedelt, sodass die Verbindung zum Stammland nicht verloren ging. In dem sich schließlich zum Vielvölkerstaat entwickelnden Frankenreich behaupteten die Franken ihre führende Stellung als Reichsvolk. Die Stammeskultur der Unterworfenen wurde hingegen nicht angetastet.
Begründer des Frankenreiches war König Chlodwig I. (482-511), welcher römische Restgebiete mit ihrer gallo-römischen Bevölkerung sowie das westgotische Aquitanien im Südwesten des heutigen Frankreichs eroberte und durch skrupellose Beseitigung der Herrscher fränkischer Kleinkönigreiche Letztere mit seinem fränkischen Teilreich zu einem fränkischen Großreich zusammenschloss. Bei der Eroberung der römischen Provinzen hatte Chlodwig I. das römische Christentum als Staatsreligion und damit als geistige und politische Kraft kennengelernt. Die Bischöfe waren in den römischen Provinzen vielfach zu Stadtherren aufgestiegen und damit politisch einflussreich, sodass sich Chlodwig I. im Interesse der Konsolidierung seines jungen Reiches mit der Kirche arrangieren musste. Wohl auch unter dem Einfluss seiner Gemahlin, der christlichen Burgunderprinzessin Chrodechilde, trat er 498 oder 499 zum römischen Christentum über. Indem die Franken Christen geworden waren, wurden die konfessionellen Gegensätze zwischen Germanen (hier den Franken) und Romanen (hier den Gallo-Römern) aufgehoben, sodass jetzt durch die Einheit im Glauben die Integration der unterschiedlichen Völkerschaften in das Frankenreich entscheidend gefördert worden ist. Durch die Verbindung der fränkischen Herrscher mit der Kirche wurde die Legitimationsbasis der fränkischen Herrschaft verbreitert, sodass bereits Karl I. »der Große« als Rechtsgrund für seine Herrschaft über das »Imperium Romanum« nicht die Akklamation durch das Volk der Römer und die Kaiserkrönung durch den Papst, sondern allein den Willen Gottes in Anspruch nahm. Aus der Synthese fränkischer, römischer und christlicher Einflüsse ging schließlich eine neue Kultur hervor, welche das mittelalterliche Europa prägen sollte.
Das Frankenreich hatte unter König Karl I. »dem Großen« (768-814) aus dem Geschlecht der Karolinger seine größte Ausdehnung erreicht. Er eroberte 774 das Königreich der Langobarden in Italien und beherrschte damit Nord- sowie große Teile Mittelitaliens sowie den Herrschaftsbereich des Papstes (später »Kirchenstaat«). Das Langobardenreich verband er in Personalunion mit dem Frankenreich und nahm den Titel »rex Francorum atque Langobardorum« an. Er erweiterte das Fränkische Reich nach Südwesten durch die endgültige Unterwerfung Aquitaniens (769) sowie die Erweiterung der Spanischen Mark bis zum Ebro (778-811) als Pufferzone gegen die vordringenden Araber (Emirat von Cordoba), besiegte und christianisierte die Sachsen und Friesen (772-804) und vereinnahmte das bisher nur locker zum fränkischen Reichsverband gehörige Bayern (788 Absetzung des Herzogs Tassilo), welches wegen seiner Alpenübergänge nach Italien wichtig war. Im Westen sicherte er die Grenze gegen die Bretagne durch Errichtung der Bretonischen Mark. Zwecks Sicherung der Ostgrenze führte Karl I. mehrere Feldzüge. So zerstörte er 791-803 das Reich der Awaren und errichtete zur Sicherung des Donau-Raumes zwischen Enns und Leitha die Pannonische Mark (ab 976 Ostmark). Das asiatische Reiternomadenvolk der Awaren hatte sich in Pannonien (Ungarn) sowie im heutigen Niederösterreich festgesetzt und war wegen seiner Raubzüge gefürchtet, die bis nach Italien und in Deutschland bis nach Bayern und Thüringen ausgedehnt worden waren. Weiterhin führte Karl I. im Osten Feldzüge gegen die Böhmen (805/806), die Sorben (806) sowie die Lutizen (812) und machte diese tributpflichtig, sodass die Ostgrenze jetzt außer durch die Marken durch einen breiten Gürtel tributabhängiger Gebiete geschützt war.
Das Frankenreich hatte sich zum Vielvölkerstaat entwickelt, zu dem neben den Franken und Gallo-Romanen die germanischen Alemannen, Bayern, Thüringer, Sachsen, Friesen, Burgunder, Langobarden und Westgoten gehörten, welche durch eine einheitliche Reichsverfassung zusammengehalten wurden, die jedoch regionale Modifikationen erfahren hatte, sodass ein von Zwang weitgehend freies Zusammenleben der verschiedenen Völkerschaften ermöglicht wurde. Das Reichsvolk der Franken stellte die Könige sowie den größten Teil der politischen und militärischen Führungsschicht; die Romanen waren in der Kirche führend.
Die Machtfülle Karls I. legte es diesem nahe, nun auch verfassungsrechtlich in die Tradition des römischen Weltreiches einzutreten. Am 25.12.800 ließ sich Karl I. in Rom von Papst Leo III. zum Kaiser krönen und vom Volk des Kirchenstaates zum Kaiser ausrufen. Der Kaiser-Titel galt zwar nur für den Kirchenstaat, Karl I. verfolgte damit jedoch sehr viel weiter reichende Ziele, denn wie seinem Kaisertitel »Romanum gubernans imperium« sowie der Inschrift seines Siegels »Renovatio imperii Romani« zu entnehmen ist, verband er damit – wie vordem die römischen Imperatoren – den universalen Herrschaftsanspruch auf den gesamten Erdkreis, d.h. auf den damals bekannten Teil der Welt. Dieser Alleinvertretungsanspruch war eine Anmaßung, denn das Römische Reich (»Imperium Romanum«) lebte im Oströmischen Reich mit seiner Hauptstadt Konstantinopel fort, und der oströmische Kaiser wertete die Kaiserkrönung Karls als Eingriff in seine Herrschaftsbefugnisse. Es kam jedoch 812 zu einer Einigung und damit zur Anerkennung der Kaiserwürde Karls I., indem Karl auf Venetien sowie die dalmatinische Küste verzichtete. Diese Einigung entsprach den realen Machtverhältnissen, denn die Herrschaft Karls I. bezog sich ja nicht auf den gesamten Erdkreis, sondern nur auf die Königreiche der Franken sowie der Langobarden und damit im Wesentlichen auf den abendländischen Teil des ehemaligen römischen Weltreiches mit der Kaiserstadt Rom sowie den spätrömischen Kaiserresidenzen Trier, Arles, Mailand und Ravenna, während die Herrschaft des oströmischen Kaisers morgenländische Territorien des römischen Weltreiches umfasste. Dass es Karl nicht nur auf eine Rangerhöhung ankam, dokumentierte er auch dadurch, dass er mehrere Monate in Rom, der ehem. Hauptstadt des Römischen Reiches, residierte. Aachen wurde zur kaiserlichen Residenz, zu einem Rom des Nordens, ausgebaut. Das durch Karl I. begründete Kaisertum blieb bis zum Ende des Alten Reiches die höchste staatsrechtliche Würde des Abendlandes.
Mit der Kaiserkrönung hatte Karl I. auch die Schutzherrschaft über das Papsttum übernommen. Im Schutze des abendländischen Kaisertums konnte das Papsttum nach der Kaiserkrönung von 800 in die Führungsposition über die christliche Kirche aufsteigen und Rom zum Zentrum des christlichen Abendlandes machen. Die Kaiserkrönung von 800 war damit gleichbedeutend mit der konfessionellen Spaltung Europas in den kathol. Westen und den orthodoxen Osten.
Aus dem östlichen Teil des Frankenreiches entwickelte sich ein deutsches Reich, welches im Wesentlichen die Siedlungsgebiete der Rhein- und Mainfranken, der Alemannen, der Bayern, der Thüringer, der Sachsen sowie der Friesen umfasste.
Den Auftakt dazu bildeten die Reichsteilungen nach dem Tode Karls »des Großen«. Dessen Sohn, Ludwig I. »der Fromme« (814-840), versuchte, die Reichseinheit im Sinne einer karolingischen Gesamtmonarchie zu sichern, indem das Reich zwar nach fränkischem Erbrecht unter die erbberechtigten Söhne aufgeteilt wurde, die Teilreiche aber jenem Teilreich untergeordnet waren, mit dem der Kaiser-Titel verbunden wurde. Dieser Gedanke ging in einem Bürgerkrieg zwischen Ludwig und seinen Söhnen unter. Nach dem Tode Ludwigs I. schlossen dessen Söhne 843 den Vertrag von Verdun, wonach das Frankenreich wie folgt aufgeteilt wurde: Kaiser Lothar I. (840-855), der älteste Sohn, erhielt den von Friesland bis nach Italien reichenden Mittelstreifen mit den Kaiserstädten Aachen und Rom, Karl II. »der Kahle« (843-877) erhielt den westlichen Teil, das Westfränkische Reich, und Ludwig II. »der Deutsche« (843-876) den östlichen Teil, das Ostfränkische Reich. Nach dem Tode Lothars I. wurde das Mittelreich dreigeteilt. Der älteste Sohn Ludwig (855-875) erhielt Italien und die Kaiserwürde, welche damit nach Süden abwanderte und ihre politische Funktion als Klammer zwischen den Königreichen der Franken und Langobarden verlor, was den Untergang des Karolingischen Kaisertums vorbereitete. Die beiden anderen Söhne Karl bzw. Lothar erhielten das Mittelstück (das spätere Königreich Burgund) bzw. den nördl. Teil (Lotharingien, mit dem späteren Lothringen). Nach weiteren Erbteilungen kam schließlich Lotharingien 880 (Vertrag von Ribemont) vollständig zum Ostfränkischen Reich. Außer in Lothringen mit seiner germanisch-romanischen Bevölkerung gehörten dem...