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E-Book

Die vierte Moschee

Nazis, CIA und der islamische Fundamentalismus

AutorIan Johnson
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl360 Seiten
ISBN9783608101874
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Ein unerhörter Faktenthriller von der Entstehung und Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus mit Hilfe Nazi-Deutschlands und der CIA. Als der Journalist und Pulitzer-Preisträger Ian Johnson 2003 eine Londoner Buchhandlung betritt, macht er eine sensationelle undunheimliche Entdeckung: Als wichtigste Moscheen werden Mekka, Jerusalem, Istanbul und eine Moschee in München genannt. Warum München? Welche Moschee? Das islamische Zentrum von München wurde seit dem Dritten Reich und dem Kalten Krieg von Nazis, Agenten, gestrandeten Muslimen, islamistischen Fanatikern,von Akteuren aller Couleurs zum Bollwerk gegen die Sowjetunion aufgerüstet. Die CIA und andere Geheimdienste spinnen Intrigen, steuern Machtkämpfe und unterstützen radikale Islamisten der Moslembruderschaft - immer hinter dem Rücken der Öffentlichkeit. Das Drama, das sich in München abspielte, reichte vom politischen Skandal bis zur Schizophrenie der Ideologen und mündet in der jüngsten Zeitgeschichte: In der vierten Moschee wurde der Westen zum Paten des 11. September 2001.

Der Pulitzer-Preisträger Ian Johnson lebt und arbeitet als Journalist und Schriftsteller in Peking und Berlin. Er ist Experte für Fragen der Zivilgesellschaft und Religion sowie der Vorgeschichte und der Hintergründe des Terrorismus von 9/11.

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Leseprobe
Als Margaret Dollinger 1947 an die Isar zum Schwimmen ging, sah sie einen sonnengebräunten, leicht asiatisch aussehenden Mann. es war Hassan Kassajep. Der 30 -Jährige war aus der Sowjetunion geflohen und wollte ein neues leben beginnen. Schüchtern blickten sich die beiden an. »Der ist der Richtige«, dachte sie. Getrennt wurden sie erst durch seinen tod, ein Jahr vor der goldenen Hochzeit. Dieses Buch ist den Kassajeps und all den anderen muslimischen Emigranten gewidmet, die in diesem obskuren Krieg mitgekämpft haben. Viele von ihnen sahen sich vor schwierige Gewissensentscheidungen gestellt. Viele tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt waren sie in Ländern gestrandet, die sie nicht kannten und wo sie sich kaum zurechtfanden, aber sie waren getragen von der Hoffnung, durch ihre Bemühungen den lauf der Geschichte zu ändern. Der änderte sich dann auch tatsächlich, allerdings auf völlig unerwartete Weise. Unbeabsichtigte Folgen - ein ewiger Refrain der Geschichte. Dieser Fall jedoch war für mich etwas ganz Besonderes. Briefe, Fotos und glücklicherweise manchmal auch persönliche Begegnungen wie mit Margaret Kassajep haben mir diese Menschen näher gebracht: es waren gealterte Überlebende einer vergangenen Epoche. Was mich so schmerzlich berührte, war ihr trauriges leben im Verborgenen. Diese Menschen hatten nur selten Gelegenheit, offen über ihre Vergangenheit zu reden. Manche schwiegen wohl aus Scham - weil sie mit einem verhassten Regime kollaboriert oder Freunde verraten hatten. andere wiederum fühlten sich an ein - aufgezwungenes oder freiwilliges - Schweigegelübde aus der Zeit der geheimen Operationen gebunden. Die meisten hatten sich eine zweite Realität geschaffen, als Wissenschaftler oder Freiheitskämpfer, als religiöser Aktivist oder Geschäftsmann. »Was wohl von einem leben übrig bleibt, das nach außen keine Identität erkennen lässt?«, überlegte ich. Für die Menschen, die in diesem Buch auftreten, lautet die antwort: viel. obwohl die meisten inzwischen gestorben sind und ihre lebensgeschichte immer noch im Dunkeln liegt, hallt das, was sie getan haben, bis in die heutige Zeit nach, da wir uns mit ähnlichen Problemen herumschlagen: wie ein licht, das von einem entfernten Planeten in unser leben hinein leuchtet. Berlin, im April 2009 Ian Johnson Dramatis Personae Hauptdarsteller Robert H. Dreher: CIA -Agent; arbeitete in München beim American Committee for Lieberation (Amcomlib), einer Tarnorganisation, und unterstützte die Muslimbruderschaft. Gerhard von Mende: Experte für Turkologie und Pionier der Instrumentalisierung von Muslimen im Kampf gegen die Sowjets während der NS -Zeit; leitete nach dem Krieg einen kleinen Geheimdienst in Düsseldorf. Said Ramadan: exiliertes Oberhaupt der Muslimbruderschaft mit engen Verbindungen zum westlichen Geheimdienst, Anführer der Islamisten im Kampf um die Herrschaft über das Münchner Moscheebauprojekt. Wichtige Nebenrollen Die Amerikaner Ibrahim Gacaoglu: Streitsüchtiger muslimischer Führer, diente im Krieg bei den Deutschen, akzeptierte aber später die Hilfe der USA . Ahmad Kamal: Kalifornischer Autor und Muslimaktivist, der mit dem US -Geheimdienst kooperierte, aber in München seinen eigenen Ableger eröffnete. Robert F. Kelley: Leiter der Operation Amcomlib München. Eric B. Kuniholm: Politischer Direktor im New Yorker Hauptquartier von Amcomlib; befürwortete ausdrücklich die Instrumentalisierung von Muslimen gegen die Sowjetunion. Rusi Nasar: Usbekischer Aktivist; wurde von Amcomlib und anderen gegen die Sowjetunion agierenden Diensten unterstützt. Said Shamil: Nordkaukasischer Anführer, der dem US -Geheimdienst Nahestand und mit Dreher zusammenarbeitete. Garip Sultan: arbeitete während des Krieges und kurz danach mit Gerhard von Mende zusammen; später Mitarbeiter von Amcomlib. Die Deutschen Baymirza Hayit: Usbekischer Historiker und Gerhard von Mendes rechte Hand. Ali Kantemir: Dagestanischer Führer und Mendes Getreuer. Hassan Kassajep: Sekretär der Moscheebau-Kommission, der versuchte, zwischen den ex-Soldaten und den Studenten zu schlichten. Veli Kayum: Selbsternannter »Khan« der Usbeken; wankelmütig und unzuverlässig. Nurredin Namangani: Usbekischer Imam einer Abteilung der Waffen- SS . Übernahm später für Gerhard von Mende die Aufsicht über die Münchner Muslime. Die Muslimbrüder Mahdi Akef: aktueller »oberster Führer« der Muslimbruderschaft; lebte drei Jahre lang von 1984 bis 1987 in München; war das Oberhaupt der dortigen Moschee. Ghaleb Himmat: Syrischer Geschäftsmann und 30 Jahre lang Oberhaupt der Münchner Moschee; lebt in der italienischen Enklave Campione am Luganer See in der Schweiz, in unmittelbarer Nachbarschaft von Youssef Nada. Hadsch Amin al Husseini: ehemaliger Großmufti von Jerusalem; arbeitete während des Krieges mit Mende und den Nationalsozialisten zusammen, danach mit Said Ramadan. Youssef Nada: Ägyptischer Geschäftsmann, der die Finanzierung der Münchner Moschee und die Einrichtung der Muslimbruderschaft in den USA mitorganisierte. Wohnte in unmittelbarer Nachbarschaft zu Ghaleb Himmat in Campione. Youssef Qaradawi: Gilt derzeit als einflussreichster geistlicher Führer der heutigen Muslimbruderschaft; half beim Wiederaufbau der Bruderschaft in den 1970 er Jahren mit, wobei er sich auf den Westen konzentrierte. Ibrahim el Zayat: löste Himmat nach den Attentaten vom 11 . September 2001 als Vorsitzender des Moscheevereins ab. Prolog: Am Stadtrand Im Winter 2003 durchstöberte ich einen Londoner Buchladen für radikalislamische Literatur, einen von der Sorte »Londonistan«. Vollgestapelt mit langatmigen aufrufen zum Sturz der freiheitlichen Gesellschaft, schien dieser laden die Grenzen der freien Meinungsäußerung testen zu wollen - und gewährte dabei ganz unfreiwillig auch tiefe einblicke in die Probleme der muslimischen Gemeinden Europas. In diesem laden war ich Stammkunde. auf meinem Streifzug entlang der Regale fiel mir eine sonderbare Weltkarte auf. 1 Die Länder waren farblich gekennzeichnet, je nach prozentualem Anteil der muslimischen Bevölkerung. Dunkelgrüne Länder hatten eine muslimische Mehrheit, Hellgrün, Gelb und Beige symbolisierten eine graduelle Abnahme - typisch für den politischen Islam, der die Welt anhand eines einzigen Kriteriums, nämlich der Religion, in »wir« und »sie« aufteilt. Den Rand der Karte schmückten Bilder berühmter Moscheen. Da war die Große Moschee in Mekka (jährlich Ziel von Millionen Pilgern), der Felsendom in Jerusalem (von dem aus Mohammed zum Himmel aufgestiegen sein soll), die wunderbare Blaue Moschee in Istanbul und - das Islamische Zentrum München. Das Islamische Zentrum München? Wie seltsam! Seit sechs Jahren schrieb ich über das Thema Religion in Europa und anderswo, noch länger lebte ich in Deutschland. Nach meiner Kenntnis gehörte diese Moschee zu den eher kleinen islamischen Organisationen Deutschlands. Wie war sie also in diesen erlesenen Kreis geraten? München war weder das Zentrum des Islam noch diese Moschee die größte Deutschlands, geschweige denn Europas. Und trotzdem hatte irgendjemand sie in diesem Pantheon verewigt. Da ich ohnehin einen Besuch in München geplant hatte, wollte ich dort herausfinden. Einige Wochen später fuhr ich auf der alten Hauptstraße Münchens in Richtung Norden, parallel zu der eleganten Autobahn, die zur futuristischen Allianz-Arena und zum Franz-Josef-Strauß-Flughafen führt. an diesen vielgepriesenen Exemplaren deutscher Infrastruktur fuhr ich vorbei und schlängelte mich zunächst durch eher verwahrloste Innenstadtbezirke, dann durch Vororte in einer ländlichen Gegend. Schließlich tauchte die Moschee auf, zuerst das schlanke Minarett, das wie ein zum Himmel weisender Finger die Kiefern überragte. Dann kam auch der Rest in Sicht. Das eiförmige Gebäude, das aussah wie ein Ballon, der von einer Plane am Boden gehalten wird, entsprach ganz dem bombastisch-futuristischen Architekturstil der fünfziger Jahre des 20 . Jahrhunderts. Ich erspähte einen hageren, kleinen Mann um die sechzig, der einen weißen Kaftan und Sandalen trug. es war der Hausmeister und ich fragte ihn, warum die Moschee so berühmt sei. ohne eine Spur von Neugier meinte er achselzuckend, das sei sicherlich nicht so. Ich fragte nach dem Baujahr. Das wisse er nicht. Ich fragte nach dem Gründer. Wieder musste er passen; er könne mir auch darüber keine Auskunft geben. Seine antworten überraschten mich. Ich hatte Dutzende Moscheen besucht, in ganz Europa, und überall beglückten mich stolze Gläubige, oft Migranten, die das zum Bau notwendige Geld mühsam zusammengekratzt hatten, mit der Gründungsgeschichte ihrer Moschee. Deswegen fand ich die Unkenntnis dieses Mannes hier sonderbar. oder handelte es sich etwa um einen ganz merkwürdigen Fall von Vergesslichkeit? Ich schaute genauer hin. Die Moschee schien gealtert. Die gekachelten Betongebäude waren verblasst und rissig, von Bäumen überwuchert. eine weltberühmte Moschee? Was mochte da geschehen sein? Diese Frage setzten ein Forschungsprojekt in Gang, das mich an überraschende orte führte und weitaus mehr Zeit in Anspruch nahm als ursprünglich gedacht. Ich hatte mit einer schnellen antwort gerechnet und beabsichtigte mit Muslimen zu sprechen, die in den 1960 er Jahren nach Deutschland emigriert und teil jener großen Völkerwanderung waren, die Europas Bevölkerungsstruktur nachhaltig verändert hat. Denn ich nahm an, dass das Islamische Zentrum München aus dieser Epoche stammte. Stattdessen fand ich die antwort Jahrzehnte früher: in den 1930 er Jahren. Wie geplant befragte ich viele Muslime in Deutschland, verbrachte aber die meiste Zeit in amerikanischen und europäischen Archiven. Dort, zwischen Kisten mit lange vergessenen und vor Kurzem freigegebenen Dokumenten, setzte ich ein Mosaik aus den Biographien von Menschen zusammen, die einst die ideologische Basis für die Moschee legten und dann um die Herrschaft über sie stritten. entgegen meinen Erwartungen hatten die Begründer wenig mit den Migranten zu tun. Wie ich feststellen konnte, waren es drei Gruppen, die sich zur Verfolgung verschiedener Ziele für die Moschee einsetzten. Zuerst kamen die Nationalsozialisten, die während des Zweiten Weltkriegs den Islam als politische Waffe gegen die Sowjetunion einsetzten - eine Strategie, die bis in den Kalten Krieg fortgeschrieben wurde. auf dieser arbeit baute die zweite Gruppe auf, die mit Hilfe des Islam den Kommunismus bekämpfen wollte: die CIA . eine dritte Gruppe bestand aus radikalen Muslimen - Islamisten -, die diese Moschee als Sprungbrett in den Westen betrachteten. eines aber hatten alle gemeinsam: Was sie zu bauen beabsichtigten, war kein Gebetshaus, sondern vielmehr ein Zentrum für politische - und sogar gewaltsame - Aktivitäten. Diese Geschichte klang vertraut. In den 1970 er und 1980 er Jahren hatten die Vereinigten Staaten Muslime für den Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan eingespannt, was, wie man inzwischen weiß, zur Entstehung von Al-Qaida beitrug. Der Bau der Münchner Moschee wurde aber schon 30 Jahre früher geplant, nicht erst gegen ende des Kalten Krieges, sondern schon während seiner Anfangsphase und auch mit anderen absichten. Während im Nahen Osten wie in Afghanistan Muslime für einen Krieg mit Waffen und Soldaten ausgebildet wurden, hatte man die Muslime in Deutschland in einen psychologischen Krieg verwickelt - in eine Schlacht der Weltanschauungen. Mir ging ein licht auf: Die Geschehnisse in München waren nichts anderes als die Vorläufer für die ideologischen und militärischen Auseinandersetzungen, die von Afghanistan bis in den Irak reichten. Wie heute, hatte eine solche taktik auch damals fatale Folgen. Denn im Zuge des Streits um die Münchner Muslime gelang es einer aggressiven Ideologie, im Westen Fuß zu fassen. Der Islam ismus - nicht die alte Religion des Islam, sondern ein hochpolitisiertes und gewaltbereites Weltanschauungssystem, bereitete den Boden für den Terrorismus, dessen Zerstörungspotential der Westen 2001 mit den angriffen auf New York und Washington am eigenen leib erfuhr. Doch die Geschichte des islamischen Terrorismus ist lang, und schon seit Jahrzehnten sind viele Länder in der ganzen Welt davon betroffen. Die prominenteste islamistische Gruppe aber ist die Muslimbruderschaft, und eben diese verwandelte seinerzeit die Münchner Moschee in eine politische Zelle, von der aus sie ihre politischen Ziele zu verfolgen beabsichtigte. Fast alle Unternehmungen der Muslimbruderschaft im Westen gingen von der kleinen Menschengruppe im Vorstand der Münchner Moschee aus. München war der Brückenkopf, von dem aus die Bruderschaft die westliche Gesellschaft erobern wollte. Die Parallelen zwischen den 1950 er Jahren und heute sind frappierend. Während die westlichen Staaten von den Geschehnissen auf Schlachtfeldern wie dem Irak gebunden sind, wird tatsächlich über erfolg oder Misserfolg im Krieg der Ideologien entschieden. Wie vor einem halben Jahrhundert in München, sucht der Westen auch heute wieder muslimische Verbündete, in der Hoffnung, dass diese im Kampf gegen den hartnäckigen Feind die gleichen Werte vertreten. Die Ereignisse von München zeigen, welche Gefahren unbedachtes und unkritisches Vorgehen birgt. Allerdings machen die westlichen Regierungen eine kritische Überprüfung ihres Vorgehens zum schwierigen Unterfangen. Geheimdienstakten, die mit dem Islam zu tun haben, bleiben zum größten teil immer noch unter Verschluss. Nur durch außergewöhnliches Glück konnte ich an die Unterlagen gelangen, die belegen, was ich im Folgenden berichte. Um die CIA -Akten über noch lebende Nationalsozialisten, die der Kriegsverbrechen verdächtig waren, freizugeben, bedurfte es in den USA eines vom Kongress verabschiedeten Gesetzes. ebenso nötig wäre ein solches Gesetz wohl auch, um die Transaktionen zwischen den USA und islamistischen Gruppen aufdecken zu können. Einstweilen versuche ich mit diesem Buch einige Lücken zu füllen, und das gerade jetzt, weil immer mehr Augenzeugen dieser Epoche sterben. So manches bemerkenswerte persönliche Archiv verschwindet. Die meisten Menschen, mit denen ich sprach, waren schon über 80 oder 90 Jahre alt. einige von ihnen leben heute schon nicht mehr. Durch weitere Jahre des Wartens würde die Chance verspielt, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Menschen und ihre Archive erzählen eine Geschichte, die von Hollywood über Jakarta und Washington bis nach Mekka führt. aber wie es in Deutschland so oft geschieht, beginnt die Geschichte auf einem Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs. Heisser Krieg Dieses Baumes Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut, Gibt geheimen Sinn zu kosten, Wie's den Wissenden erbaut. Aus »Ginkgo Biloba« Goethe 1 An der Ostfront Den Bauch flach an den Boden gepresst, lag Garip Sultan in einem Maschinengewehrnest. 2 Mit vorgerecktem Hals spähte er über das Grasland nach dem Feind aus. Die Rote Armee hatte ihn an den Rand der ukrainischen Stadt Charkow beordert; dort sollte er an vorderster Front die Stellung halten. es war im Mai 1942 , als die Deutschen zum massiven Gegenangriff ansetzten. Überall explodierten Granaten, ratterten Panzer. Der 19 -Jährige schwenkte seinen Feldstecher über die ukrainische Steppe, sah aber nichts. er war dem Untergang preisgegeben. * Schwermütig dachte er daran zurück, wie er hier gelandet war. Sultan gehörte einer ethnischen Minderheit der Sowjetunion unter Stalin an, den Tataren in der Region Baschkirien, die im 13 . Jahrhundert infolge der letzten großen Invasionswelle zentralasiatischer Nomaden unter der Herrschaft Dschingis Khans von Turk- oder Türkvölkern besiedelt worden war. Mit der Expansion Russlands hatten die Tataren - wie viele andere nichtrussische Völker, die fast die Hälfte der Bevölkerung dieses Riesenreiches ausmachten - ihre Unabhängigkeit verloren. 3 Unter der Sowjetmacht verschärfte sich die Unterdrückung ethnischer Minderheiten noch, besonders wenn sie, wie Sultans Eltern, ein kleines Unternehmen führten und als Kapitalisten eingestuft wurden. Die Sowjetkader nahmen ihnen alles. Sie verstaatlichten das Transportunternehmen des Vaters und beschlagnahmten das Haus der Familie. Sogar das Pferd wurde konfisziert. Vom Haus durfte die einst reiche Familie nur zwei Dinge behalten: einen Spiegel, der nun zerbrochen war, und eine Uhr, die seither nicht mehr ging. auf dem Sterbebett riet Sultans Vater dem Sohn, erst den Jungen Pionieren, dann dem Jugendverband Komsomol und schließlich der Partei beizutreten. Nur so könne man in Stalins Sowjetunion überleben. Dem väterlichen Rat folgend, trat Sultan dem Komsomol bei und besuchte eine höhere Schule. Später wollte er, so war sein Plan, Metallurgie studieren. er gab wirklich sein Bestes, um ein neuer Sowjetmensch zu werden. Im Juni 1941 fielen die Deutschen in das land ein. Zu diesem Zeitpunkt war die Rote Armee noch nicht die überragende Kampfmaschine, die später einen Großteil von Hitlers Streitkräften besiegen sollte. Im ersten Kriegsjahr verzeichnete sie ungeheure Verluste, verlor Territorien von gewaltigem ausmaß. Jeder verfügbare Mann wurde eingezogen und sofort an die Front geschickt. auch Sultan wurde schnell einer bunt zusammengewürfelten, miserabel ausgestatteten und schlecht geführten Truppe zugeteilt, die aus lauter Nichtrussen wie er selbst bestand. Beim ersten Feindkontakt würde sie auf der Stelle zusammenbrechen, so viel war sicher. als Sultans Einheit vor Charkow Stellung bezog, wurde er sich seines Minderheitenstatus in aller Schärfe bewusst. Beim Appell forderte der befehlshabende Offizier, ein Russe, die angehörigen von Minderheiten auf, vorzutreten. Unter ihnen wählte er vier aus, auch Sultan. In einer selbstmörderischen Aktion sollten sie sich über das Niemandsland schleichen und den feindlichen Linien deutschsprachiges Propagandamaterial entgegenschleudern. Diesem bizarren Plan zufolge sollten die Deutschen die Pamphlete lesen, gegen ihre Offiziere rebellieren und sich ergeben. Niemand jedoch hatte mit dem Stolperdraht gerechnet. Sultans Kameraden wurden allesamt von Maschinengewehrsalven in Stücke zerfetzt, er selbst überlebte als einziger. Zwei tage lang versteckte er sich im hohen Steppengras und schlich sich dann zurück zu seiner Einheit. Für seinen Mut versprach ihm der Offizier eine Medaille. aber Sultan machte sich nichts aus der ehre. Seine treue zum Sowjetsystem, die er so aufrichtig beweisen wollte, hatte sich in Nichts aufgelöst. Dann bekam seine Einheit den Befehl zur Vorbereitung auf die deutsche offensive. Wieder wurde Sultan Zeuge der Brutalität des Stalin-Regimes. Sowjetoffiziere zwangen die Häftlinge der Straflager, draußen, unter Beschuss der Deutschen, Panzerabwehrgräben auszuheben. In einer Pause erzählte ihm ein schwacher, abgezehrter alter, ebenfalls Tatar, wie er im ersten Weltkrieg gekämpft und von den Deutschen gefangengenommen worden war. Das leben in den deutschen Lagern sei besser gewesen als in der Armee des Zaren. Die Gefangenen hätten sogar für die Deutschen gegen die Russen gekämpft. Sultan hörte aufmerksam zu und ging zurück an die arbeit. als die Offiziere schließlich Soldaten zur Besetzung verschiedener Frontstellungen auswählten, war Sultan überzeugt, dass man die angehörigen von Minderheiten erneut an die aussichtslosesten Punkte schicken würde. Doch er fügte sich und nahm den Platz ein, den man ihm zuwies. Da lag er nun in diesem flachen Schützenloch, zusammen mit einem anderen nichtrussischen Soldaten, der das Maschinengewehr bediente. Sultan hatte zwar das Kommando - schließlich war er ja beim Komsomol gewesen -, aber keine Ahnung, wie man mit einem Maschinengewehr einen Panzer zum Stehen bringt, noch sah er einen Sinn darin, an einer beweglichen Front um jeden Preis ein Stückchen land zu halten. er setzte seinen Feldstecher kurz ab und lauschte - näher kommendes Artilleriefeuer. aber keine Bewegung zu sehen. Plötzlich brach ein deutscher Trupp seitlich durch das Gras. Der Schütze neben Sultan schnellte herum, im selben Moment kam von der entgegengesetzten Seite eine andere deutsche Gruppe angestürmt. Die jungen Sowjets waren überrumpelt; feuerten sie in Richtung der einen Gruppe, würden sie von der anderen sofort niedergemacht. Dies war der Heldentod, den zu sterben die Offiziere von ihren Soldaten erwarteten. Die Deutschen warfen sich auf den Boden und zielten. »Nein! Halt!«, brüllte der deutsche Truppenführer, »Nicht schießen! ergeben Sie sich!« Sultan hatte eine Zehntelsekunde, um über sein Schicksal zu entscheiden. Vor seinem inneren Auge blitzten Bilder von Gulag-Sklaven auf und von seiner eigenen, vertriebenen Familie. Dies war nicht sein Krieg. er hob die Hände hoch, und der andere am Gewehr machte es ihm nach. Sie ließen sich gefangennehmen. »Erschießen!«, forderten mehrere Deutsche. Das geschah oft; an der Ostfront ging es brutal zu; um das Kriegsrecht kümmerten sich beide Seiten nicht. Während die Soldaten noch miteinander debattierten, näherte sich ein Offizier, und Sultan sah ein Schlupfloch: er sprach ein bisschen Deutsch - hatte es auf der Schule gelernt - und beschloss, es zu wagen. »Herr, Sie sind ein gebildeter Mann«, sagte Sultan zum Offizier. »Was haben Sie studiert?« Überrascht, dass ein Sowjetsoldat Deutsch konnte, lächelte der Offizier und antwortete: »Jura.« »Richter sollten Gnade zeigen«, sagte Sultan. »töten Sie uns nicht.« Der Offizier lachte. er trug das Hakenkreuz auf der Uniform, war aber ein Preuße der alten Schule. Diese Männer waren seine Gefangenen, sie befanden sich in seiner Obhut. Pflichtbewusst schickte er sie zur Aufnahme der Personalien an die hinteren Linien. 4 Damit trug Sultan sein Scherflein zum massiven Kollaps der Roten Armee bei. 5 Demoralisiert von Stalins terrorregime ergaben sich die sowjetischen Soldaten reihenweise. Zu dem Zeitpunkt waren es schon 3 Millionen. Schlimmer als die Kommunisten konnten die Nationalsozialisten kaum sein, dachten viele. Besonders leidenschaftslos gegenüber den anliegen der Russen verhielten sich aber die Minderheiten im Sowjetreich. Für sie war dieses Regime nichts anderes als eine brutalere Version des alten Zarenreichs. es hatte sich im 18 . und 19 . Jahrhundert nach Süden und Osten ausgedehnt. als der Zar 1917 abgesetzt und ermordet wurde, bestand fast die Hälfte des riesigen Landes aus Nichtrussen. Vom Zarenreich erbte die Sowjetunion zwei große Regionen, in denen die Russen in der Minderheit waren: den Kaukasus und Zentral Asien, das sind die Territorien der heutigen Staaten Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Im muslimischen Turkestan, wie es damals hieß, lebten mehrere Völker, die verschiedene Turkdialekte sprachen, entweder als Nomaden oder in großen Städten wie Samarkand und Taschkent. Da es weitab vom Kriegsschauplatz lag, war es für die Wehrmacht eher uninteressant. Der Kaukasus dagegen schon. Die mythische Heimat der Kaukasier spielte mit ihren unüberwindlichen Berggipfeln und geheimnisvollen legenden nicht nur bei den Nationalsozialisten eine wichtige Rolle. Noahs Arche soll hier nach der Sintflut aufgelaufen sein. Die Griechen zählten das Gebirge zu den Säulen der erde, auf denen der Himmel ruht, am ende der Welt. Geographisch markiert der Kaukasus die Grenze zwischen Europa und Asien. Den demographisch komplexen Kaukasus konnte Moskau nie unterwerfen. Der Süden bestand aus drei klar definierten Sektoren: Georgien, Armenien (beide christlich) und Aserbaidschan (muslimisch). Der Norden war ganz anders gegliedert: hauptsächlich muslimisch, von kleinen, aber strikt voneinander unabhängigen Völkern wie den Dagestanern, Kalmücken, Tschetschenen und Osseten bewohnt. Die Ziele der Nationalsozialisten waren simpel. Sie hatten es auf die Ölfelder abgesehen. Die Städte Baku in Aserbaidschan und Grosny in Tschetschenien waren damals Zentren der Ölproduktion. Sie sollten das »Reich« mit dem wichtigen Treibstoff versorgen. aber im Unterschied zu vielen anderen teilen der Sowjetunion war der Kaukasus nicht für eine Kolonialisierung vorgesehen. Hier gaben sich die Deutschen als Befreier - und so wurden sie auch von vielen ansässigen freudig begrüßt. obwohl sie die absichten der neuen Herren mit Skepsis betrachteten, sahen sie es gern, wenn sich jemand gegen ihre Unterdrücker stellte. Daran kann man sehen, wie zerbrechlich die Sowjetunion war - schon Jahrzehnte vor ihrer Auflösung, in deren Folge sich die überwiegend muslimischen Regionen Anfang der 1990 er Jahre in mehr als ein Dutzend Staaten aufspalteten. Schon während des Krieges fühlten sich viele Menschen aus verschiedenen Splittergruppen ihrer Heimat und ihrer Religion mehr verbunden als dem Sowjetimperium. Vielen hunderttausend Menschen - Tataren, Georgiern, Tschetschenen, Kasachen, Usbeken - erging es wie Sultan. Zumeist Muslime, ließen sie sich mitreißen, gegen die Sowjetunion zu kämpfen. Irgendwann später werden sie sich in München versammeln: erbitterte antikommunisten, die sich dem Westen als nützlich erwiesen. Diese Menschen, die während des Krieges von den Nationalsozialisten ausgebildet und organisiert wurden, wird man nach dem Krieg als ideologische Speerspitze im Kampf gegen den Kommunismus entdecken. Und später, nach dem Krieg, werden schließlich auch die Islamisten auf die Idee kommen, ihre in Deutschland ansässigen Glaubensbrüder zu benutzen, um sich ein Sprungbrett in den Westen zu erobern. Damals jedoch waren diese Männer - eigentlich unreife und untrainierte Halbwüchsige - noch nicht so weit. Sultan kam in ein KriegsgefangenenLager für gebildete Sowjets. allmählich begriffen die Deutschen, dass sie eine wirksame Waffe in die Hand bekommen hatten. Im oktober 1941 besuchte ein Usbeke namens Veli Kayum ein muslimisches Kriegsgefangenen Lager in Ostpreußen. Dort herrschten entsetzliche Zustände. Man ließ die Gefangenen verhungern, Typhus griff um sich, die meisten waren dem Tode nahe. Zudem standen die Männer unter Schock, weil tausende ihrer Kameraden von deutschen mobilen Verfolgungs- und Tötungskommandos erschossen worden waren. 6 »Wie lang dauert es, zu sterben?«, so dachte man damals, wie sich ein junger Usbeke erinnert. Kayum kam in Begleitung eines deutschen Majors, der die Gefangenen damit überraschte, dass er ihnen auf Usbekisch eine Verbesserung der lebensbedingungen versprach. anschließend hielt Kayum folgende Rede: »Ich bin Usbeke. Ich heiße Veli Kayum-Khan. Ich bin aus Taschkent und wurde 1922 von der Sowjetregierung nach Deutschland geschickt, um für die Verwaltung Turkestans ausgebildet zu werden. Ich bin dort geblieben und habe zusammen mit anderen eine politische Organisation zur Befreiung Turkestans von den Russen gegründet. Ihr werdet sehr bald gute Nachrichten erfahren.« Kayum hielt Wort. Innerhalb von zwei Wochen verbesserten sich die Zustände im Lager erheblich. auf einmal gab es reichlich zu essen und auch medizinische Versorgung. Dann schickte man alle Gefangenen, die man für gebildet hielt, in ein Lager im Süden Berlins, wo sie mit deutschen Waffen umzugehen lernten, Maschinengewehre und Mörser zerlegten und reinigten. Vor allem jedoch wurden sie von Emigranten wie Kayum politisch geschult und erhielten auch Geschichtsunterricht - ein Fach, das für viele junge Sowjets neu war. Sie begriffen, dass sie mit Stolz auf die lange Geschichte ihrer Heimatländer blicken konnten, die eines Tages, befreit vom sowjetischen Joch, ihre Unabhängigkeit zurückerlangen würden. Im November 1941 wurden die Muslime aus dem Trainingslager mit den im Kriegsgefangenenlager verbliebenen 1200 Mann wieder vereint. Doch wurde die Freude von Besorgnis getrübt. Den Männern dämmerte, dass sie für den Kampf gegen die Sowjets ausgebildet wurden. obgleich sie die Sowjets hassten, jagte ihnen diese Kehrtwendung einen Schrecken ein. Ihren früheren Feinden, den Deutschen, zu dienen machte sie unweigerlich zu Landesverrätern. Von hier aus gab es kein Zurück mehr. Zu den Gefangenen sprach ein weiterer Usbeke. Baymirza Hayit, ein Lehrer, war ebenfalls von den Deutschen gefangengenommen und inzwischen zum Offizier befördert worden. er fungierte als direkter Verbindungsmann zum Oberkommando der Wehrmacht in Berlin und Ostpreußen. Die Soldaten, sagte er, sollten sich als Befreiungsarmee verstehen. »Ihr seid das Fundament der ostLegionen«, sagte Hayit. »eines tages, wenn die länder des ostens frei sind, werdet ihr das Rückgrat der Heimat sein.« 8 Die angst der Männer schlug wieder in Freude um. Im darauffolgenden Monat erhielten sie von den Deutschen eine Uniform. Sie sah aus wie eine Wehrmachtuniform, hatte aber keine Schulterklappen. Statt eines Rangabzeichens trugen die Männer auf dem Ärmel ein Emblem, das weitaus mehr Bedeutung für sie hatte: die Umrisse der berühmten chah-I-Zindeh-Moschee in Samarkand und die Worte biz Alla bilen - »Gott mit uns«. 9 Das Training war teil eines wenig bekannten Plans namens »Abwehrunternehmen Tiger B«, den Kayum in enger Zusammenarbeit mit der abwehr, dem Geheimdienst der Wehrmacht, entworfen hatte. 10 obwohl die nationalsozialistischen Rassentheorien »Asiaten« und »Slawen« als minderwertig einstuften, waren die deutschen Militärs bestrebt, sich diese Gefangenen zu Verbündeten zu machen. eine vom deutschen Heer zusammengestellte Kosakenhundertschaft 11 - gefürchtete Kavalleristen, die wenig Sympathie für die Sowjets empfanden - gab es bereits. Zu diesem Experiment gehörte auch Tiger B. Anfang 1942 wurden die Ostlegionäre an die Front westlich von Stalingrad geschickt. Sie folgten den deutschen Panzern in den Kampf und griffen die Sowjettruppen mit einer Zangenbewegung an, die ihnen mehrere hundert Gefangene einbrachte. Tiger B hatte mit Auszeichnung bestanden, galt als erfolg und bekräftigte die Idee vom Einsatz muslimischer Einheiten. es gab zwar auch andere sowjetische Minderheiten, die auf der Seite der Deutschen kämpften, aber die Muslime hatten etwas ganz Besonderes: Sie identifizierten sich von allen am wenigsten mit der Sowjetunion. Bei einer Musterung beantworteten die meisten muslimischen Gefangenen aus der Sowjetunion die Frage nach der Identität weder mit »Kasache« noch mit »Dagestaner« noch mit dem Namen irgendeines anderen Volkes, und erst recht nicht mit »Sowjet«, sondern sagten schlicht: »Ich bin Muselmane.« 12 Dank dieses Umstandes waren diese Männer für die Deutschen besonders nützlich, denn sie kämpften für eine Religion, die dem Kommunismus diametral entgegengesetzt war. Den Vorschlag, muslimische Einheiten aufzustellen, unterbreiteten zwei türkische Generäle. 13 obwohl die Türkei in diesem Krieg neutral blieb, reisten sie nach Berlin, um die deutsche Heeresleitung zu bewegen, Soldaten aus den Turkvölkern besser zu behandeln. Daraufhin beeilte sich die Wehrmacht, Tiger B zu einer regulären Einheit auszubauen, das 450 . Infanteriebataillon. es bestand ausschließlich aus angehörigen der Turkvölker. Drei weitere Legionen sollten wenig später folgen. Um eine Eliteeinheit handelte es sich allerdings nicht. Zum einen unterlag ihre Moral heftigen Schwankungen. Zu Beginn noch stark, fiel sie beim ersten Rückschlag, den die Deutschen in den muslimischen Gebieten erlitten, augenblicklich in den Keller. außerdem waren die Truppen nur leicht bewaffnet. eine Einheit aus 90 000 Mann verfügte nur über etwa 4000 Maschinengewehre, 3000 Granatwerfer und 300 Kanonen; Panzer und Selbstfahrlafetten fehlten. 14 Die Hauptaufgabe der Einheit bestand darin, Partisanen zu bekämpfen und die Nachschubtruppe zu decken. Ende 1942 waren es ungefähr 150 000 türken, Kaukasier und Kosaken, 15 und im laufe des ganzen Krieges etwa eine Million Sowjets verschiedener Glaubensrichtungen und Ethnien, die bei den Deutschen, meist auf nichtmilitärischen Posten, dienten. Dass Muslime bevorzugt wurden, war von Anfang an klar. Im März 1942 gab die Wehrmacht den Befehl aus, angehörige sowjetischer Minderheiten in die Armee aufzunehmen, aber nur für die Polizei und die Partisanenabwehr. Mit einer Ausnahme: »Turkvölkern« vertraute man auch im Kampf gegen die Sowjets. 16 Diesen erlass erteilte Hitler selbst. er hatte aus irgendwelchen Gründen eine Schwäche für Muslime, vielleicht weil er mit manchen von ihnen seine antisemitischen ansichten zu teilen hoffte oder vielleicht auch weil die Türkei im ersten Weltkrieg mit den Mittelmächten verbündet gewesen war. außerdem bewohnten die Muslime meist nicht die Gebiete, die von den Deutschen als Kolonien vorgesehen waren. Wie auch immer - Hitler hieß die Verwendung der Muslime ausdrücklich gut. »Für sicher halte ich nur die Mohammedaner. alle anderen halte ich nicht für sicher«, sagte Hitler 1942 bei einer Lagebesprechung im Hauptquartier. »Da muss man wahnsinnig vorsichtig sein. Ich halte das aufstellen von Bataillonen dieser rein kaukasischen Völker zunächst für sehr riskant ...«, warnte er die Oberbefehlshaber, fügte dann allerdings eine Ausnahme hinzu, »... während ich keine Gefahr darin sehe, wenn man tatsächlich rein mohammedanische Einheiten aufstellt.« 17 Bald danach forderte auch die SS nichtdeutsche Truppen an. 1943 wurde das 450 . Bataillon mit anderen Einheiten zu einer Division zusammengeführt. Dieser »osttürkische Waffenverband« bekämpfte unter dem Kommando der SS Partisanen in der Ukraine, Griechenland und Italien, und geriet in Verruf wegen seines Einsatzes bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 . 18 Kurz nach Sultans Verlegung in das Kriegsgefangenenlager kam eine Untersuchungskommission aus Berlin zu Besuch. Ihr Leiter, der Jurist Heinz Unglaube, hatte zuvor in der Armee gedient, bis Funktionäre seine Vorliebe für die Sprache und die Kultur der Tataren als Spezialkenntnisse erkannten, die woanders nützlicher sein könnten. Man beorderte ihn zu einer neuen Dienststelle, dem »Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete«, auch »Ostministerium« genannt, und beauftragte ihn mit der Leitung der tatarischen Mittelstelle. 19 Von Sultan war Unglaube sofort beeindruckt. Hier war ein junger Mann, noch nicht einmal 21 Jahre alt, der Deutsch sprach und die Sowjets hasste. er würde einen guten Verbündeten abgeben. Unglaube nahm Sultan beiseite und unterhielt sich mit ihm. er stellte ihm die üblichen Fragen, wie er Deutsch gelernt habe und was er von den Russen denke. Um seine deutschen Sprachkenntnisse zur Schau zu stellen, erzählte Sultan die Geschichte seiner Familie. »Ich habe Deutsch gelernt, weil ein entfernter Verwandter mit einer Deutschen verheiratet ist.« »Interessant«, sagte Unglaube. Sultan spürte das Desinteresse des Deutschen, redete aber einfach weiter drauflos. »ein entfernter Verwandter meiner Mutter hat eine Deutsche geheiratet, die im ersten Weltkrieg als Krankenschwester diente. Sie pflegte meinen Verwandten. Sie verliebten sich ineinander und heirateten.« »Interessant.« »Die deutsche Krankenschwester hatte einen ungewöhnlichen Namen.« »Und der war?«, fragte Unglaube und spitzte die ohren. »Von Mende.« So hieß auch Unglaubes Vorgesetzter! Damit war Sultans aufstieg besiegelt. er war zu etwas Besserem bestimmt. Schnell verfrachtete man ihn in einen Zug nach Berlin; sein Reiseziel: Ostministerium und ein termin mit Gerhard von Mende, Konstrukteur und Schmied der muslimischen Werkzeuge der Nationalsozialisten.
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