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Das Rheinland - Wiege Europas?

Eine Spurensuche von Agrippina bis Adenauer

AutorKarlheinz Gierden
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783838715179
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Das Rheinland hat in der wechselvollen Geschichte Europas immer eine besondere Rolle gespielt. Vielleicht ist das der Grund, warum dort sehr früh grenzüberschreitend gedacht und das europäische Konzept entscheidend mitgeprägt wurde. In diesem Sammelband widmen sich Historiker den Europa-Gedanken bedeutender Persönlichkeiten. Jeder Beitrag beleuchtet eine bekannte Person und ihr Wirken in der rheinischen Region, von Agrippina, der Jüngeren, über Theophanu und Karl dem Großen bis hin zu Jan Wellem und Konrad Adenauer und seiner Europa-Politik.

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Leseprobe
Joseph von Görres (1776–1848)

WOLFGANG BERGSDORF

Wer den Nachruhm einer historischen Persönlichkeit an der Zahl der Straßen und Schulen misst, die ihren Namen tragen, der braucht sich um den Rheinländer Joseph von Görres keine Sorgen zu machen. Im Rheinland und in Süddeutschland ist Görres mit zahlreichen Straßen präsent. Bis in das 21. Jahrhundert hinein lag die prominenteste Adresse der Bonner Republik, die des Deutschen Bundestages und auch des Bundesrates, an der Görres-Straße. In einem geschichtsvergessenen Akt des Bonner Stadtrates unter der Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann (SPD) ist dieser Straßenname in den Wirren um das Weltkongresszentrum Bonn (WCCB) untergegangen; jetzt erinnert nur noch eine kleine Straße im Bonner Süden an den großen Rheinländer. Ihn nannte sein Zeitgenosse Jean Paul »einen Mann, der aus Männern besteht.«

Einer seiner geistigen Nachfahren, der langjährige Chefredakteur und spätere Herausgeber des 1946 revitalisierten »Rheinischen Merkur«, Otto B. Roegele, hat dem Herausgeber des ersten »Rheinischen Merkur« von 1814 bis 1816 in einem Porträt bescheinigt, er habe »das Herz eines Revolutionärs, das historische Bewusstsein eines Konservativen, den Scharfblick eines Naturforschers, die Phantasie eines Dichters und die politische Leidenschaft eines geborenen Publizisten.« Görres hatte nie ein hohes Staatsamt inne, dennoch adelte ihn Napoleon als seinen Gegenspieler, indem er ihn mit seinem »Rheinischen Merkur« als eine »cinquième puissance« fürchtete.

Görres hatte nie eine Universität besucht, gleichwohl wurde er zunächst in Heidelberg und später in München ein einflussreicher Hochschullehrer. Auch das publizistische Handwerk hatte er nie erlernt, obwohl er mit seinen vielfältigen publizistischen Unternehmungen die wirkungsmächtigste Stimme im deutschen Raum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden sollte, die auch in Frankreich und England, aber eben auch in Russland aufmerksam beachtet wurde.

Joseph Görres lebte zwischen zwei Revolutionen, zwischen der Französischen Revolution von 1789, die er erlebte, zunächst bewunderte, dann erlitt und schließlich bekämpfte, und der erahnten und ersehnten Revolution von 1848. Ihren Ausbruch und ihr Scheitern sollte er nicht mehr erleben. Die Irrungen und Wirrungen dieser an Umbrüchen reichen Zeit machten Görres zu einem der ersten Krisendenker Deutschlands, dessen Krisenwahrnehmung immer deutlicher eine antirevolutionäre Wendung nahm.

Er plädierte dafür, der Revolution durch eine freiheitlich-ständische Verfassung zuvorzukommen. Das machte ihn zum Vorkämpfer der Freiheit und Einheit Deutschlands und zum wortmächtigen Kämpfer für die Freiheit der katholischen Kirche. Im revolutionären Taumel hatte er sich der katholischen Kirche entfremdet, im Straßburger Exil fand er zur Kirche zurück und wurde zu einem Wegbereiter des politischen Katholizismus, der sich im Revolutionsjahr 1848 zu formieren begann. Wie unzureichend diese Persönlichkeit in einem knappen Lebensbild gewürdigt werden kann, lässt eine Eintragung von Friedrich Hebbel in sein Tagebuch am 27. September 1846 erahnen – der Dichter gehörte zu seinen Münchener Studenten –: »Wer je in sein Gesicht hineinschaute, den mag es reizen, ihn bis in die dickste Finsternis hinein zu verfolgen.

Sein Gesicht ist eine Wahlstatt erschlagener Gedanken. Jede Idee, die seit der Revolution den Ozean deutschen Geistes mit ihrem Dreizack erschütterte, hat ihre Furche dort gezogen, und die Furchen sind, als der Jakobiner in den Heiligen zurückkroch, alle stehengeblieben. Man hat ein Wirtshaus in eine Kapelle verwandelt, aber das Schild abzunehmen vergessen. Wer nicht weiß, dass drinnen gesungen und gebetet wird, der könnte hineintreten und Wein und Würfel verlangen.«
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