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E-Book

I hate Berlin

Unsere überschätzte Hauptstadt

AutorMoritz Kienast
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl204 Seiten
ISBN9783838710334
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR

Berlin steht heute synonym für den Nabel der Welt - die Stadt ist ein internationaler Sehnsuchtsort, eine globale Marke. Jeder will dorthin, wer sich in die Provinz verabschiedet, also Restdeutschland, wird bedauert. Warum nur? Berlin ist hässlich, und es fahren keine S-Bahnen. Berlin ist gänzlich von der Einöde umschlossen und liegt im Osten der Republik. Berlin ist die größte, vollste, lauteste, bevölkerungsreichste, rattenreichste, müllreichste und ärmste Stadt Deutschlands. Hier trifft man allerorten auf missmutige und unzufriedene Menschen, denn diese Stadt bedeutet Tristesse, Dreck und Schlamperei. Kurz: Berlin wird völlig überschätzt, vor allem von den Berlinern selbst. Zeit für ein humorvolles Berlin-Bashing. 25 deutschsprachige Autoren rechnen mit der Hauptstadt und ihrem Hype ab.

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Leseprobe
WIGLAF DROSTE (S. 145-146)

Wenn der Berliner kommt …


Am Wochenende und an kirchlichen Feiertagen überfällt den Berliner der Wunsch, Mensch zu sein. Zwar hat er vor lauter Wichtigkeit vergessen, was das ist und wie das geht, aber er nimmt es sich fest vor und inszeniert es mit der ihm eigenen Bedeutsamkeit. Mister Hyde möchte wieder Doktor Jekyll werden; zwar bleibt er doch immer Mister Hyde, egal wie humanoid er sich auch verkleidet, schminkt oder gibt, aber das weiß er nicht, ignoriert es daher frohgemut, wirft sich in Freizeitschale, klemmt sich Mausi unter den Arm und knattert los.

Sein Ziel ist das, was er ganz selbstverständlich als »Umland« bezeichnet; die Herablassung, die in diesem Wort steckt, ist ihm zwar nicht bewusst, aber durchaus so gemeint. Schließlich ist Berlin der Mittelpunkt der Welt, um den alles andere eben herumliegt und nur darauf wartet, mit dem Geschenk eines Besuchs beglückt zu werden. Wenn ein Berliner eine Vorstellung davon hätte, dass die von ihm als Rest betrachtete übrige Menschheit ihre eigenen und von ihm ganz unabhängigen Ziele verfolgen könnte, dann wäre das schon sehr viel. Der Berliner hat von nichts eine Ahnung, das aber laut und vernehmlich.

Er muss auch nichts wissen; er ist ja schon da, seine eigene Anwesenheit genügt ihm vollständig und sollte auch jedem anderen ein hinreichender Grund zur Freude sein. Und so taucht er im Städtchen auf, gern in großer Schaumacherkarre oder auch auf dem heftig pött-pötternden Motorrad, jedenfalls so, dass man ihn optisch und akustisch wahrnehmen muss, ob man das nun möchte oder nicht. Hat er sein Sieht-mich-auch-jeder?-Vehikel abgestellt, walzt er in Zweier- oder Viererreihe übers Trottoir wie ein gemächliches Breitwandgesäß, lässt niemanden passieren und hat demonstrativ jede Menge Zeit.

Etwas Konturloses, Matschiges, Sinnloses umweht ihn; ohne sich eine Form zu geben, würgt und wirscht er durch die Gegend und teilt der Welt in Körpersprache mit: Ist es nicht herrlich, dass ICH jetzt freihabe? Mag sein – aber muss das die Welt auch nur die Bohne interessieren? Und ist es nicht erstaunlich, wie brüllend laut die angeblich stumme Körpersprache sein kann? Dezente Zurückhaltung überlässt der ausflügelnde Berliner anderen. Er ist inzwischen im Lokal angekommen und verlangt Bedienung.

Die steht ihm zu, aber zack, zack! Ungläubig und widerwillig muss der Vertreter der Ausflüglersorte Mensch zur Kenntnis nehmen, dass nicht allein er und die Seinen auf die außergewöhnliche Idee einer Ausfahrt kamen; viele, viele andere sind ebenfalls ausgeflogen, manche sogar schon vor ihm. Bekommt er jetzt etwa nicht sofort einen Platz und all das, worauf er ein Anrecht hat? Skandal? Verrat? Ja, auch – vor allem aber Frechheit, jawohl: »Eine Frechheit is det!« Mürrisch und kurz vorm Maulen steht der ausflugszielfixierte Berliner im Lokal und hühnert mit den Füßen. Beinahe schon hat er ein abschließend wegwerfendes »Also, hier kannste ja ooch jar nich mehr hinjehn!« auf den Lippen, als er doch noch einen freien Tisch erspäht. Allerdings steht dieser recht entlegen halb um die Ecke, und die Rückenlehnen der Stühle sind gegen die Tischkanten gekippt.

Über diese kleinen Zeichen sieht und geht der Ausflügler großzügig hinweg, eilt samt seinem Tross hinzu, rückt und ruckelt sich das Gestühl ostentativ und abermals gut vernehmlich zurecht, macht es sich bequem und schaut mit erwartungsvoll gerundetem Karpfenmund zu Kellnerin und Kellner. Die allerdings haben gut zu tun, und ihre Wegschneisen liegen abseits des Tisches, an dem Familie Sitzsack Platz genommen hat. Die Stimmung am Tisch verdüstert sich; wie kann das sein?

Wir sind schon zwei Minuten hier, und das Essen steht noch nicht auf dem Tisch! Es wird nach Bedienung gewinkt, gerufen, mit den Fingern geschnipst und sogar gepfiffen; auch diese groben Regelverstöße bleiben folgenlos, in jeder Hinsicht. Nun macht der Ausflugsfamilienvorstand die Angelegenheit zur Chefsache, steht auf, strafft sich, sandalettet in einen weniger dezentral gelegenen Bereich des Gartenlokals hinüber und stellt sich entschlossen und mutig einer Kellnerin in den Weg. Die, ein volles Tablett in den Händen, erklärt ihm dennoch geduldig, dass an jenem Tisch leider nicht bedient werde; zu diesem Zeichen habe sie ja auch die Stühle gegen den Tisch gelehnt.
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