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Warum finden manche Menschen Erfüllung im Leben und sterben glücklich?
Neun Zehntel der Weisheit bestehen darin, rechtzeitig weise zu sein.
Theodore Roosevelt
Weisheit zählt mehr als aller Reichtum.
Sophokles
Warum finden manche Menschen Erfüllung im Leben und sterben glücklich? Welches sind die Geheimnisse, die uns zu Zufriedenheit und Weisheit führen? Worauf kommt es wirklich an, damit unser Leben am Ende das Prädikat »wertvoll« verdient? Dies sind die Fragen, die dieses Buch zu beantworten sucht.
Um in unserem Leben Weisheit walten zu lassen, müssen wir erkennen, dass das menschliche Dasein auf zwei grundlegenden Wahrheiten basiert. Erstens: Es steht uns eine begrenzte, aber in der Dauer nicht definierte Zeit zur Verfügung – vielleicht sind es hundert, vielleicht aber auch nur dreißig Jahre. Und zweitens: Während dieser begrenzten, nicht definierten Spanne stehen uns praktisch uneingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung, unsere Zeit zu nutzen. Wir allein entscheiden, wo wir unsere Schwerpunkte setzen und unsere Energien investieren wollen, und letztlich lenken wir damit unser Leben in seine Bahnen. Bei unserer Geburt drückt uns niemand eine Gebrauchsanleitung in die Hand; und unsere Uhr fängt noch in dem Augenblick zu ticken an, in dem wir das Licht der Welt erblicken.
Wir scheuen vor den Worten »sterben« und »Tod« zurück. Es wird viel Aufwand betrieben, um uns von der Wahrheit des Lebens abzuschirmen: dass das Leben begrenzt ist und wir – zumindest hier an diesem Ort – nicht ewig bleiben werden. Der eine oder andere unter Ihnen mag gezögert haben, ein Buch in die Hand zu nehmen, das das Wort »sterben« im Titel führt, aus einer vagen Angst heraus, dass Ihnen schon allein deshalb irgendetwas Schlimmes widerfahren könnte, weil Sie sich mit der Realität Ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Mag sein, dass Sie auch jetzt beim Lesen dieser Zeilen ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen fühlen und sich wünschen, ich möge schnell das Thema wechseln.
Und doch verleiht just die Tatsache, dass wir irgendwann einmal sterben müssen und unsere Zeit begrenzt ist, der Suche nach dem Geheimnis eines erfolgreichen Lebens ihre Bedeutsamkeit. Wäre unser Dasein nicht dieser zeitlichen Beschränkung unterworfen, bestünde keinerlei Dringlichkeit, sich auf die Suche nach Glück und Erfüllung zu begeben, denn ausgestattet mit dem Luxus des ewigen Lebens würden wir früher oder später ohnehin darüber stolpern. Doch dieser Luxus bleibt uns nun einmal verwehrt. Ganz gleich wie alt wir sind, der Tod sitzt immer neben uns. In jungen Jahren denken wir an ihn womöglich als etwas weit Entferntes, das uns nicht wirklich betrifft. Doch mittlerweile habe ich Gedenkgottesdienste für Menschen aller Altersstufen gehalten – so auch für einen Freund, der mit 33 Jahren während einer Keniareise starb. Und ich weiß: Der Tod ist immer in der Nähe, um uns daran zu erinnern, unser Leben in die Hand zu nehmen. Derek Walcott, der von der Karibikinsel Saint Lucia stammende Romancier und Literaturnobelpreisträger, bezeichnete die Zeit als die »böse Geliebte«: Einerseits muss sie uns »böse« erscheinen, weil sie uns alles nimmt, was uns je etwas bedeutet hat, zumindest in diesem Leben. Andererseits ist sie unsere »Geliebte«, weil gerade unsere Sterblichkeit unserem Leben ein Gefühl von Dringlichkeit und Zweck verleiht. Da unsere Zeit begrenzt ist, will sie mit Bedacht genutzt sein.
Wissen versus Weisheit
Um herauszufinden, wie wir unser Leben maximal auskosten können, ist eher Weisheit als Wissen gefragt. Weisheit ist etwas anderes und unendlich Bedeutsameres als Wissen. Wir leben in einer Zeit, in der das Wissen (sprich: die Anzahl der Fakten) sich alle sechs Monate verdoppelt. An Weisheit aber herrscht ein akuter Mangel. Wissen ist eine Anhäufung von Fakten; Weisheit ist die Fähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Solange wir nicht herausfinden, worauf es wirklich ankommt, bleibt uns der wahre Sinn des Lebens verborgen.
Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn war ich Priester der presbyterianischen Kirche. Mit Mitte zwanzig hatte ich Gelegenheit, sehr viel Zeit mit Sterbenden zu verbringen, und dabei habe ich festgestellt, dass es große Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie die Menschen aus dem Leben scheiden. Da gibt es die, die ohne großes Bedauern nach einem sinnerfüllten Leben von uns gehen. Sie sind in ihren letzten Stunden von der inneren Gewissheit getragen, ihr Leben in vollen Zügen gelebt zu haben. Andere hingegen schauen verbittert zurück und stellen fest, dass sie das, worauf es eigentlich angekommen wäre, verpasst haben. Selbst in jungen Jahren erkannte ich, dass manche Menschen die Geheimnisse des Lebens für sich entdeckt hatten und andere nicht.
Der Tod ist für mich nie bloß eine abstrakte Vorstellung gewesen. Mein Vater starb im Alter von nur 36 Jahren. Eines Tages stand er bei einem Picknick auf – und das war’s. Sein Leben war alles andere als perfekt gewesen, und plötzlich war es zu Ende. Es gab keine zweite Chance für ihn. Mit 28 Jahren hatte ich bereits Dutzende von Bestattungsgottesdiensten gehalten und viele Menschen während ihrer letzten Tage begleitet. Diese innige Begegnung mit der Sterblichkeit habe ich stets als großes Geschenk betrachtet. Vielleicht waren es diese Erfahrungen, die mich immer nach den »Geheimnissen« eines sinnvollen, erfüllten Lebens suchen ließen. Schon in sehr jungen Jahren schwor ich mir, dass ich dereinst nicht bedauernd zurückschauen würde, weil ich mein Leben nicht gelebt habe.
Meine Frau Leslie ist ausgebildete Krankenschwester, und auch sie ist bereits in jungen Jahren mit der Realität unserer Sterblichkeit hautnah in Berührung gekommen. Sie arbeitete im Operationssaal, auf einer Kinderkrebsstation und in der Notaufnahme. Wir sprechen regelmäßig über den Tod. Wir versuchen, ihn in unserem Leben gegenwärtig sein zu lassen.
Leslie selbst ist dem Tod mehrmals knapp entkommen. Sie wurde mit einem Herzfehler geboren und musste sich mehreren schweren Operationen unterziehen. Die erste davon wurde vorgenommen, nachdem sie kaum ein paar Tage auf der Welt war. Und vor drei Jahren erst hatten wir ein Erlebnis, das uns erneut an die Zerbrechlichkeit unseres Lebens erinnerte.
Leslie ging zu einer überhaupt nicht lebensbedrohlichen Routineoperation ins Krankenhaus. Ich erinnere mich noch gut daran, wie unsere damals zehnjährige Tochter Sydney sie fragte: »Musst du diese Operation wirklich machen lassen, Mama?« Leslie beruhigte sie und wurde am nächsten Morgen zur OP aufgenommen.
Was in den nächsten 72 Stunden passierte, ist in meiner Wahrnehmung immer noch wie ein verschwommener Film, der an mir vorüberrauscht. Die Operation verlief gut, doch Leslie war benommen, sie fühlte sich unwohl. Die Kinder und ich blieben bis in den Abend hinein bei ihr in der Klinik. Am nächsten Tag ging es ihr etwas besser, und ich ließ sie am späten Nachmittag allein, damit sie sich ausruhen konnte. Ich wollte im Büro noch einiges erledigen und versprach ihr, sie tags darauf gegen Mittag zu besuchen. Noch ein weiterer Tag und sie würde aus dem Krankenhaus entlassen werden. So war es zumindest geplant.
Als ich am nächsten Morgen gegen elf Uhr vormittags in der Klinik anrief, redete meine Frau irgendwie merkwürdig durcheinander. Ihre Sätze ergaben keinen rechten Sinn. Ich stürzte ins Krankenhaus und bald stand fest, dass sie in der Nacht im Alter von 37 Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie sah alles dreifach und wurde in die Intensivstation der neurologischen Abteilung verlegt. Noch am selben Tag verlangte mir der Neurologe die schwerste Entscheidung ab, die ich bis dahin in meinem Leben hatte treffen müssen. »Ihre Frau hatte einen Schlaganfall, und wir wissen nicht warum. Wir überlegen, ob wir ihr ein blutverdünnendes Medikament geben sollen. Je nach den Ursachen des Schlaganfalls könnte es entweder lebensrettend für sie sein oder weitere Blutungen auslösen. Diese Entscheidung können nur Sie fällen.« Aufgrund der mir zur Verfügung stehenden Informationen beschloss ich, der Gabe des Medikaments zuzustimmen. Die nächsten Tage waren die reinste Qual.
Wenn solche Dinge geschehen, erlebt jeder von uns sie auf seine Weise. Ich kann nicht für meine Frau sprechen, aber in mir lösten die Ereignisse einen Strudel an Emotionen aus. Ich war ein viel beschäftigter Mann. Mein Terminkalender war voll, ein Meeting jagte das andere. Selbst als Leslie sich zu Hause von ihrem Schlaganfall erholte, kümmerte ich mich um all meine vielen Verpflichtungen, und rückblickend betrachtet stelle ich fest, dass ich nicht so für sie da war, wie ich es gern gewesen wäre. Immer wieder fragte ich mich: Will ich wirklich so leben? Worauf kommt es eigentlich an?
Ein Freund von mir, Jim Kouzes, hatte mir einmal gesagt, dass »Widrigkeiten uns dazu bringen, uns selbst kennenzulernen«, und ich war mir nicht sicher, ob ich den Kerl...