»Öffentlichkeit« und »Volksmeinung« unter der NS-Diktatur
Unter Öffentlichkeit versteht man im Allgemeinen eine im Prinzip jedermann zugängliche Sphäre, in der Individuen als Mitglieder eines »Publikums« relativ frei miteinander über allgemein interessierende Themen kommunizieren. Ungehinderter Zugang zu Informationen, freie Meinungsäußerung und gegenseitige Duldung unterschiedlicher Ansichten konstituieren Öffentlichkeit als ein »Kommunikationsforum für alle, die etwas sagen oder das, was andere sagen, hören wollen«.1
Öffentlichkeit, so hat Jürgen Habermas in seiner grundlegenden Studie zum »Strukturwandel der Öffentlichkeit« herausgearbeitet, wird seit den Anfängen bürgerlich-liberalen Denkens als Grundvoraussetzung für die Bildung »öffentlicher Meinung« begriffen, die sich wiederum als kollektiver und diskursiv voranschreitender Lernprozess darstellen lässt. Die somit auf rational nachvollziehbare Weise zustande kommende öffentliche Meinung gilt in der modernen, westlich geprägten Gesellschaft als unverzichtbare »kritische Instanz im Verhältnis zur normativ gebotenen Publizität des Vollzugs politischer und sozialer Gewalt«.2
Dieses der Vorstellungswelt des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts abgewonnene Idealmodell eines »räsonierenden Publikums« kann im Zeitalter der Massenmedien nur mit großen Einschränkungen aufrechterhalten werden. Wie Habermas gezeigt hat, gerät die öffentliche Meinung im Zuge des Strukturwandels der Öffentlichkeit immer stärker unter den Einfluss von organisierten Interessengruppen, Medienkonzernen und kommerziellen Medienstrategien und läuft daher Gefahr, als bloße »rezeptive Instanz im Verhältnis zur demonstrativ und manipulativ verbreiteten Publizität« für vielfältige Interessen in Dienst genommen zu werden.3
Wie immer man das tatsächliche Ausmaß moderner Meinungsmanipulation einschätzt: Wichtig bleibt, dass die modernen demokratischen Gesellschaften weiterhin an dem Anspruch festhalten, sie verfügten über das Regulativ einer funktionierenden Öffentlichkeit und einer öffentlich vor sich gehenden Meinungsbildung; ja, dieser Anspruch stellt eine der wesentlichen Legitimationsquellen demokratisch verfasster Gesellschaften dar.
Demgegenüber, das dürften diese kurzen Überlegungen bereits verdeutlicht haben, erscheint der Begriff der »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus als vollkommen unangebracht. Denn wie andere moderne Diktaturen schlossen die Nationalsozialisten den unbeschränkten Zugang zu Informationen, die freie Meinungsäußerung und die konkurrierende Pluralität von Meinungen aus Prinzip aus.
Wenn also hier der Begriff »Öffentlichkeit« in Bezug auf den Nationalsozialismus benutzt wird, dann ist damit die durch das Regime inszenierte, kontrollierte und manipulierte Öffentlichkeit gemeint, mithin der Resonanzboden für seine Propaganda. Öffentlichkeit im Nationalsozialismus ist demnach der Raum, in dem die durch das Regime propagierten Leitbilder und Deutungsmuster reproduziert wurden, eine Sphäre, in der die akklamatorische Zustimmung zur Politik des Regimes demonstriert wurde.
Trotz des manipulativen Charakters dieser mit aller Gewalt »hergestellten« Öffentlichkeit spricht einiges dafür, den Begriff selbst nicht aufzugeben. Nicht nur weil die Nationalsozialisten den Begriff Öffentlichkeit weiterhin benutzten;4 wesentlicher ist, dass die durch den Nationalsozialismus manipulativ hergestellte Öffentlichkeit – die öffentlich dokumentierte Zustimmung der Massen zur Politik des Regimes – zu den Grundpfeilern der Diktatur gehörte. In diesem Sinne fand unter dem NS-Regime tatsächlich ein weitreichender »Strukturwandel der Öffentlichkeit« statt.
Was die von den Nationalsozialisten hergestellte Öffentlichkeit anbelangt, so ist nicht nur an die Kontrolle der Massenmedien – Presse, Kino, Rundfunk, Werbung et cetera – zu denken, sondern auch daran, dass das öffentliche Erscheinungsbild des so genannten Dritten Reiches systematisch nationalsozialistischen Normen angepasst wurde. Die Nationalsozialisten verwandten zum einen große Anstrengungen darauf, den öffentlichen Raum durch ihre Rituale und Symbole zu beherrschen: sowohl temporär durch die Straßen-Dekoration anlässlich nationalsozialistischer Feiern und durch die symbolische »Ausrichtung« großer Massen bei Appellen und Aufmärschen als auch durch die Umgestaltung öffentlicher Räume vermittels einer repräsentativen Herrschaftsarchitektur, welche die Formierung der Massen permanent zum Ausdruck bringen sollte.5 Zum anderen verlangte das Regime der allgemeinen Bevölkerung im Alltag bestimmte Verhaltensweisen ab, durch die diese – öffentlich – ihre Zustimmung zum Regime dokumentierte: mittels Abzeichen und Uniformen, durch den öffentlich entbotenen »Hitler-Gruß«, das Hissen der Hakenkreuzflagge, das erzwungene Innehalten und Zuhören während öffentlicher Rundfunkübertragungen, den Besuch von Parteiveranstaltungen, durch Spendenbereitschaft bei Straßensammlungen et cetera.
Doch die Demonstration von Zustimmung war nur die eine Seite der Medaille; die Regulierung der Öffentlichkeit umfasste auch die konsequente Verfolgung abweichender Meinungsäußerungen, einschließlich der Ausschaltung alternativer Informationsquellen, also die Weitergabe unliebsamer Gerüchte und Witze, die Verbreitung nicht autorisierter Nachrichtendienste, das Einsickern von unwillkommenen Informationen aus dem Ausland. Das galt erst recht während des Krieges, als die Weitergabe von Nachrichten ausländischer Rundfunksender mit der Todesstrafe geahndet werden konnte. Vorgegangen wurde nicht nur gegen offene, verdeckte oder symbolische regimekritische Stellungnahmen, sondern das Regime demonstrierte seine Herrschaft über die Öffentlichkeit auch durch seine Bemühungen, als provokant beziehungsweise »undeutsch« empfundene Kleidung oder unkonventionelles Auftreten öffentlich zu verbannen – dies jedoch nicht immer mit Erfolg.6
Selbstverständlich wäre es naiv anzunehmen, dass solche abweichenden Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen vollkommen oder auch nur annähernd vollkommen hätten unterdrückt werden können. Aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der NS-Diktatur, zur »Volksmeinung« jener Zeit wissen wir, dass die Bevölkerung des Deutschen Reiches zwischen 1933 und 1945 nicht im Zustand totalitärer Uniformität lebte, sondern dass es in einem erheblichen Umfang Unzufriedenheiten, abweichende Meinungen und divergierende Verhaltensweisen gab. Es war jedoch ein besonderes Charakteristikum der deutschen Gesellschaft unter dem NS-Regime, dass solche Bekundungen von Widerspruch vor allem im privaten, höchstens im halböffentlichen Bereich (also auf den Kreis von Freunden und Kollegen, den Stammtisch, die unmittelbare Nachbarschaft beschränkt) erfolgten beziehungsweise innerhalb noch bestehender Strukturen traditioneller sozialer Milieus, die sich gegenüber der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft behaupten konnten – also etwa innerhalb von Pfarrgemeinden, in dörflichen Nachbarschaften, in Zirkeln der konservativen Elite, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in nicht zerstören Reststrukturen des sozialistischen Milieus. Hier war es möglich, die Verfolgung entweder als Verletzung christlich-humanitärer Grundsätze, als mit den hohen Standards deutscher Kultur unvereinbar oder als Ablenkung vom Klassenkampf zu kritisieren.
Diesen in der Halböffentlichkeit überdauernder Milieus nachweisbaren abweichenden Meinungen war gemeinsam, dass sie die Judenverfolgung in traditionelle, aus der Zeit vor 1933 stammende Erklärungsmuster oder moralische Referenzsysteme einordneten. Das erforderte nur ein Minimum an Kommunikation und war daher auch unter den Bedingungen der Diktatur zu bewerkstelligen. Für die Informanten der Stimmungsberichterstattung war dieser sich an tradierfähige politisch-moralische Wertsysteme anlehnende, auf gegenseitige Bestätigung abzielende Meinungsaustausch nur in gewissem Umfang zugänglich; daher berichteten sie denn auch vornehmlich über Opposition aus dem kirchlichen, bildungsbürgerlichen oder ländlichen Milieu, aber auffällig weniger aus dem ihnen eher verschlossenen, im Wesentlichen in den Untergrund abgedrängten Milieu der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Allerdings blieb die Rezeption der Judenverfolgung dann auch an solche traditionellen Erklärungsmuster und Referenzsysteme gebunden – sie blieb statisch, konnte die qualitativ neuartige Dimension der NS-Judenverfolgung nur unzureichend erfassen und bot keine Basis zur Formierung eines gegen die Verfolgung gerichteten Diskurses. Alle Versuche, Widerspruch zur Politik des Regimes über den Rahmen solcher halböffentlichen Situationen beziehungsweise über Milieugrenzen hinaus öffentlich darzustellen, mussten am nationalsozialistischen Monopolanspruch auf Öffentlichkeit scheitern. Sie wurden in der Regel durch den Repressionsapparat erbittert verfolgt.
Die nationalsozialistische Kontrolle der...