Die Tankstelle am Rainbow’s End
Jetzt fängt das Leben an«, so dachte ich, als ich Mom und Dad »Goodbye« winkte und mich mit meiner alten Karre, Marke Valiant, in den Straßenverkehr stürzte. Hinten im Kofferraum und auf den Sitzen lagen die Siebensachen, die ich für mein erstes Collegejahr eingepackt hatte. Ich war gut aufgelegt, ich war frei und zu allem bereit.
Ich drehte das Radio auf, sang zur Musik und flog über die Autobahn nach Norden. Von Los Angeles ging es über die Grapevine und weiter über die Nationalstraße 99, vorbei an sattgrünen Feldern am Fuß der San Gabriel Mountains.
Es dämmerte schon, als ich die Serpentinen von den Oakland Hills hinunterrollte. Phantastisch, der Ausblick auf die Bucht von San Francisco. Immer aufgeregter wurde ich, je näher ich der Studentenstadt kam, dem Campus von Berkeley.
Mein Platz im Studentenheim war schnell gefunden. Ich packte meine Sachen aus, und dann stand ich staunend am Fenster und sah die Golden Gate und die funkelnden Lichter von San Francisco in der Ferne.
Zuerst aber hieß es, die nähere Umgebung erforschen. Fünf Minuten später schlenderte ich die Telegraph Avenue entlang, ich bestaunte die Schaufenster und schmeckte die herbe Luft Nordkaliforniens und all die verwirrenden Düfte, die aus kleinen Straßencafés herüberwehten. Ganz überwältigt wanderte ich bis Mitternacht hin und her auf romantischen Parkwegen des Uni-Campus.
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, schaute ich nur das Harmon-Gymnasium an, unser Sport-Institut, und die Turnhalle, wo ich von nun an trainieren würde. Jeden Tag in der Woche, sechs schweißtreibende, muskelzerrende, saltoschlagende Stunden lang! Mein Traum war, Weltmeister zu werden.
Schon am zweiten Tag fürchtete ich, in einer Flut von Studenten, Seminaren und Stundenplänen zu ertrinken. Aber ich schaffte es irgendwie. Und dann flossen die Monate dahin, im Wechsel der freundlichen Jahreszeiten in Kalifornien. Im Unterricht überlebte ich – in der Turnhalle aber lebte ich. »Du bist der geborene Akrobat«, hatte ein Freund mal zu mir gesagt. Äußerlich – ja: schmal und drahtig, die dunklen Haare ordentlich kurzgeschnitten. Und für gewagte Kunststückchen hatte ich schon als Kind etwas übrig. Es machte mir Spaß, die Angst in mir wachzukitzeln. Die Turnhalle war meine Zuflucht, mein Zuhause. Hier fand ich Spannung, Herausforderung und auch eine gewisse Zufriedenheit.
Bevor mein zweites Studienjahr um war, flog ich nach Europa und vertrat den Kunstturner-Verband der USA bei internationalen Wettkämpfen. Ich wurde Weltmeister auf dem Trampolin. Meine Pokale und Trophäen stapelten sich in einer Ecke meines Zimmers. Mein Foto erschien regelmäßig in der Zeitung, und die Leute sprachen mich auf der Straße an. Auch Mädchen lachten mich an. Zum Beispiel Susie, die appetitliche, süße Freundin – mit ihrem kurzen blonden Haar und ihrem Zahnpasta-Reklamelächeln –, klopfte immer öfter an meine Tür. Sogar das Studium lief ziemlich glatt. Ich fühlte mich ganz obenauf.
Aber im Herbst 1966, im dritten Studienjahr, fiel ein geheimnisvoller dunkler Schatten auf mein Leben. Ich wohnte nicht mehr im Studentenheim, sondern allein in einer kleinen Studentenbude etwas abseits vom Haus meines Vermieters. Und ich litt zunehmend an einer Traurigkeit, die mich sogar inmitten all meiner Erfolge bedrückte.
Dann fing es an mit diesen Albträumen. Schweißgebadet schrak ich fast jede Nacht mit einem Ruck aus dem Schlaf. Und fast immer war es derselbe Traum:
Ich wandere durch eine dunkle Straße. Hohe Häuser, ohne Fenster und Türen, ragen im düster wirbelnden Nebel empor.
Eine dürre Gestalt, schwarz vermummt, kommt mir entgegen. Ich spüre es mehr, als ich es sehe: ein grauenhaftes Gespenst, ein weißlich schimmernder Schädel mit schwarzen Augenhöhlen, die mich anstarren. Tödliches Schweigen. Ein weißer Knochenfinger deutet auf mich. Die Knochenhand krümmt sich zu einer Kralle, die mich heranwinkt. Ich fröstele.
Jetzt taucht ein weißhaariger Mann hinter dem Schreckgespenst auf. Sein Gesicht leuchtet friedlich, und es ist faltenlos glatt. Er geht mit lautlosen Schritten. Ich spüre, er ist meine einzige Hoffnung auf Rettung. Nur er hat die Macht, mich zu befreien, aber er sieht mich nicht. Und ich kann ihn nicht rufen.
Das schwarz verhüllte Totengerippe dreht sich um und geht auf den weißhaarigen Mann los. Er aber lacht ihm ins Gesicht. Ich stehe wie betäubt und kann nur zuschauen, wie der Tod den Mann zu packen versucht. Im nächsten Moment aber geht das Gespenst auf mich los. Doch der Mann packt es an seiner Kutte und schleudert es in die Luft.
Und plötzlich ist der Schnitter Tod verschwunden. Der Mann mit dem leuchtend weißen Haar sieht mich an und heißt mich mit ausgebreiteten Armen willkommen. Ich gehe zu ihm hin, ich gehe direkt in ihn hinein und verschmelze mit ihm. Als ich an mir hinunterschaue, sehe ich, dass ich eine schwarze Kutte anhabe. Ich hebe die Hände und sehe, dass es gebleichte weiße Knochen sind, zum Gebet gefaltet. Ich erwache – immer mit einem Schreckensschrei.
Eines Abends, es war Anfang Dezember, lag ich im Bett und lauschte dem Wind, der durch eine Fensterritze heulte. Ich konnte sowieso nicht schlafen, also stand ich auf, zog meine Levi’s-Jeans und die Daunenjacke an und lief in die Nacht hinaus. Es war kurz nach drei Uhr.
Ziellos marschierte ich drauflos und atmete in tiefen Zügen die kalte Nachtluft ein. Ich schaute zum sternklaren Himmel hinauf und horchte auf die wenigen Geräusche in den nächtlichen Straßen. Ich hatte Hunger bekommen in der Kälte, darum beschloss ich, mir an einer Nachttankstelle ein paar Kekse und einen Drink zu holen. So lief ich, die Hände tief in die Taschen meiner Jacke vergraben, über den schlafenden Campus, bis ich in der Ferne die Lichter der Tankstelle sah: eine leuchtende Oase inmitten der toten Wüste von Stadtkneipen, Kinos und Kaufhäusern.
Als ich bei der Werkstatt neben der Tankstelle um die Ecke bog, stolperte ich beinah über einen Mann, der dort, mit dem Rücken zur Wand, im Schatten saß. Ich fuhr erschrocken zurück. Der Mann hatte eine rote Wollmütze auf, er trug graue Cordhosen, weiße Socken und offene Japan-Sandalen. Ich bezweifelte, ob seine leichte Windjacke ihm viel Schutz bot gegen die Kälte. Das Thermometer an der Wand zeigte knapp über null Grad!
Ohne aufzublicken, sagte er mit einer volltönenden, beinah singenden Stimme: »Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.«
»Ach, schon gut. Hätten Sie vielleicht ein Soda, Pop?«
»Hier gibt es nur Fruchtsaft – und nenn mich nicht Pop!«, sagte er. Und dann drehte er sich ganz zu mir um, lachte freundlich und nahm die Mütze ab. Er hatte volles weißes Haar – und er lachte!
Dieses Lachen! Wo hatte ich es schon mal gesehen? Ich starrte ihn fassungslos an. Ja – es war der alte Mann aus meinem Traum! Das weiße Haar, das klare, faltenlose Gesicht, ein großer, schlanker Mann von fünfzig, vielleicht sechzig Jahren.
Und wie er lachte. Trotz meiner Verwirrung fand ich irgendwie die Tür mit der Aufschrift »Büro«. Ich stieß sie auf, und mir war, als würde ich damit eine Tür zu neuen Dimensionen aufstoßen. Drinnen ließ ich mich zitternd auf ein altes Sofa fallen und fragte mich, woher dieses komische Gefühl kommen mochte? Was würde durch diese Tür in mein wohlgeordnetes Leben einbrechen?
Ich schaute mich um in diesem Büro. Welch ein Unterschied zum üblichen, sterilen Durcheinander einer normalen Tankstelle. Das Sofa, auf dem ich saß, war mit einer verschlissenen, aber in bunten Farben leuchtenden mexikanischen Decke bezogen. Links neben dem Eingang, auf einem Regal, säuberlich geordnet, allerlei Nützliches für den Autofahrer: Landkarten, Sicherungen, Sonnenbrillen und dergleichen. Hinter einem kleinen Schreibtisch aus dunklem Nussbaum ein Stuhl, mit braunem Cord gepolstert. Ein Wasserspender neben der Tür mit dem Schildchen »Privat«. Noch eine zweite Tür, die zur Werkstatt nebenan führte.
Auffallend war die freundliche Atmosphäre in diesem Raum. Der Fußboden war in seiner ganzen Breite mit einem hellgelben Veloursteppich bespannt. Die Wände waren frisch gekalkt. Ein paar schöne Landschaftsbilder sorgten für farbliche Akzente. Die Lampen verbreiteten sanftes Licht – ein willkommener Gegensatz zum Neongeflimmer draußen. Der ganze Raum vermittelte einen Eindruck von Wärme, Geborgenheit und Ordnung.
Wie hätte ich wissen können, dass er für mich ein Ort ungeahnter Abenteuer sein würde? Ein Ort voller Schrecken, Magie und Romantik. Damals dachte ich: Was hier nur noch fehlt, ist ein gemütlicher Kamin!
Inzwischen hatte ich mich beruhigt. Mein Atem ging wieder gleichmäßiger, und meine Gedanken wirbelten nicht mehr so im Kopf herum. Die Ähnlichkeit dieses Mannes...