Einführung
Hierzulande wie auch in der übrigen Welt ist Disziplin neuerdings wieder zu einem Reizwort geworden. Sie steht im Mittelpunkt hitziger Debatten bei Elternversammlungen, Lehrerkonferenzen und Schulbehörden. Strikte Disziplin, darunter auch das Recht (und die Pflicht) von Eltern, ihre Kinder zu strafen, bildet einen Stützpfeiler im Programm einer konservativen, auf familiäre Werte bauenden Pädagogik. Durch Meinungsumfragen ist das Thema der Disziplin als eine Hauptsorge von Eltern empirisch belegt. Es ist offenkundig, daß das Problem der Disziplinierung von Kindern für die meisten Eltern zu inneren Konflikten führt. In unseren Elternkursen ist immer wieder zu beobachten, daß die meisten Teilnehmer anfangs zwischen einer Haltung von Strenge und Nachsicht schwanken. Eine Mutter gab einmal zu: »Bei unserem ersten Kind war ich streng, aber das hat nicht geklappt, und als das zweite kam, beschloß ich, es mit Nachsicht zu versuchen. « Eine andere gestand: »Ich will nicht so autoritär und streng sein, wie meine Eltern waren, aber ich merke immer wieder, wie ich die gleichen Methoden — sogar die gleichen Worte — benutze wie meine Eltern. Und dann hasse ich mich dafür. «
Viele Lehrer stehen vor dem gleichen Dilemma. Sie wollen anfangs herzlich, freundlich und geduldig zu den Schülern sein, erleben aber immer wieder, daß sie sich in die traditionellen, herumkommandierenden, strafenden Lehrer verwandeln, unter denen wir alle wohl irgendwann einmal während unserer Schulzeit gelitten haben. Lehrern wird immer noch beigebracht: »Lächelt eure Klasse nur zu Weihnachten an.«
Wie aber wollen wir dieses Thema Disziplin definieren? An welchen Punkten läßt es sich festmachen? Was sagen die Vertreter der verschiedenen pädagogischen Richtungen den Eltern und Lehrern?
Viele Sozialwissenschaftler, besonders Psychologen, meinen — im Gegensatz zu konservativen Politikern und Pädagogen — , daß strengere, strafende Disziplin wenig wirksam sei und Kindern und Jugendlichen eher schade. Der Vorsitzende eines Komitees für Disziplinfragen des angesehenen Pädagogenverbandes Phi Delta Kappa, William Wayson, Professor für Pädagogik an der Ohio State University, sagte vor einigen Jahren bei einem Kongreß-Hearing:
Restriktive Maßnahmen führen, wenn sie nicht von grundlegenden Anstrengungen begleitet werden, den Schüler einzubeziehen und ihm zu dienen, unvermeidlich zu schlechterer Disziplin, vielleicht sogar zu Gewalt oder dem erzwungenen Schulverweis von Schülern, die schulische Zuwendung am meisten brauchen und verdienen... (Cordes, 1984)
In dem Bericht dieses Komitees wird im weiteren erklärt, wodurch sich gute Schulen auszeichnen. Interne Zusammenarbeit, Kooperation zwischen Schule und Eltern, demokratische Entscheidungsprozesse, Methoden, aufgrund derer sich alle Schüler zugehörig und verantwortlich fühlen, Regeln, die eher Selbstdisziplin fördern statt sture Übernahme von Erwachsenenregeln, herausfordernde, interessante Lehrpläne und Unterricht, die Fähigkeit, mit persönlichen Problemen von Schülern und Lehrern umzugehen, sowie die sachlichen Gegebenheiten und Organisationsstrukturen, die diese Maßnahmen unterstützen.
Irwin Hyman, ein pädagogischer Psychologe, der in einem nationalen Forschungszentrum an der Temple-Universität die Wirkung körperlicher Strafen an Schulen und Alternativen dazu untersucht, sagte vor dem Untersuchungsausschuß des amerikanischen Senats aus:
Es gibt Gewalt gegen Lehrer, aber die Bestrafung von Kindern, die das amerikanische Erziehungssystem durchdringt, ist eher als Ursache für statt als Ausweg aus dem Fehlverhalten im Klassenzimmer zu betrachten... »Gute alte Disziplin« ist der am wenigsten wirksame Weg, dieses Schülerverhalten zu ändern... (Cordes, 1984)
B. E Skinner, wohl der führende Verhaltenspsychologe der Welt, heute emeritierter Professor für Psychologie in Harvard, schrieb in einem Brief an den kalifornischen Parlamentsabgeordneten Sam Farr am 16. September 1986:
Strafmaßnahmen, ob sie von der Polizei, Lehrern, Ehepartnern oder Eltern ausgeübt werden, haben wohlbekannte Wirkungen: (1) Flucht (in der Schule gibt es einen eigenen Begriff dafür: Schwänzen), (2) Gegenangriff (Vandalismus in Schulen und Übergriffe auf Lehrer) und (3) Apathie — verdrossener Tunix-Rückzug... Eine unmittelbare Wirkung eines Gesetzes [gegen körperliche Strafen] wäre es, daß Lehrer aufgefordert werden, andere Methoden für die Kontrolle der Schüler zu entwickeln, die langfristig wesentlich wirksamer sind. (Skinner, 1986-87)
Mehrere Meinungsumfragen des Gallup-Instituts haben ergeben, daß amerikanische Eltern Disziplin für das wichtigste Problem in Schulen halten, und eine große Mehrheit befürwortet die Anwendung der Prügelstrafe; nur eine Handvoll Eltern (weniger als 20 Prozent) mißbilligen die Anwendung der körperlichen Züchtigung in Schulen.
Vielleicht stellt es für den Leser eine Überraschung dar, wenn er erfährt, daß in den USA nur acht Staaten die Prügelstrafe in Schulen völlig verbieten: Kalifornien, Hawaii, Maine, Massachusetts, New Hampshire, New York, Rhode Island und Vermont. Nur sechs von diesen acht Staaten schützen Kinder bei Pflegeeltern, in Kinderheimen und Schulen.
Die Disziplin-Debatte geht aber weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus; es handelt sich um ein wahrhaft internationales Thema. Vor einigen Jahren wurde in Schweden eine Gesetzesvorlage ausgiebig und heiß diskutiert, nach der schon ein Klaps und darüberhinaus jedwede beleidigende oder verletzende Behandlung von Eltern rechtswidrig würde, die Kindern seelisches Leid zufügen konnte. Das Gesetz wurde gegen eine starke Opposition verabschiedet. Die Prügelstrafe in Schulen war in Schweden schon lange verboten.
In China werden Lehrer, die die Geduld verlieren und denen die Hand strafend ausrutscht, selbst bestraft. Singapur gestattet nur Schulleitern oder älteren Lehrern, Jungen über zehn für kleinere Vergehen zu prügeln; Mädchen sind davon ausgenommen. Die Japaner schafften nach dem Zweiten Weltkrieg die Prügelstrafe ab, aber das Gesetz wird oft übertreten und »ein gewisses Maß an körperlicher Bestrafung angewandt«. In der Türkei gibt es die verbreitete Redewendung: »Wo der Lehrer hinschlägt, erblüht eine Rose«. In Lateinamerika ist die körperliche Züchtigung offiziell tabu, aber in einigen ländlichen Gegenden wird der Gürtel benutzt. In Kenia ist die körperliche Züchtigung erlaubt, aber so geregelt, daß sie fast ein Ritual darstellt: Sie kann nur vom Rektor oder dessen Stellvertreter ausgeführt werden, und zwar im Beisein von Zeugen. Alle Einzelheiten müssen in einem »Strafenbuch« verzeichnet werden, wie etwa die Anzahl der Rohrschläge; sie kann nur wegen ungewöhnlicher Vergehen verhängt werden, wie etwa Lügen, Trunkenheit oder die Terrorisierung anderer Schüler. In Belgien kann man sich eine Gefängnisstrafe einhandeln, wenn man einen Schüler schlägt. In Thailand darf die Prügelstrafe nur mit einem Stock ausgeübt werden, der nicht dicker ist als einen Zentimeter.
Viele Länder haben die Prügelstrafe gegen Kinder per Gesetz abgeschafft: dazu gehören Belgien, Dänemark, Ekuador, Finnland, Frankreich, Island, Irland, Israel, Italien, Japan, Jordanien, Luxemburg, Mauritius, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Katar, Rumänien, Spanien, Schweden, Schweiz, Türkei, die Länder der ehemaligen UdSSR und Zypern (Bacon/Hyman, 1976). In Polen wurde die Prügelstrafe schon 1783 verboten.
Das Thema Disziplin tauchte in den USA auch im Zusammenhang mit anderen Ereignissen auf und wurde beispielsweise ausgiebig unter Angehörigen des Gesundheitswesens diskutiert. 1962 veröffentlichten der Arzt Henry Kempe und andere ihren inzwischen klassischen Aufsatz: »The Battered Child Syndrome« (Das Syndrom des geprügelten Kindes) im Journal of the American Medical Association (Kempe u. a., 1962). Diese Studie bereitete den Weg für weitere Untersuchungen zum schrecklichen Thema Kindesmißhandlung. Gegen Ende der sechziger Jahre waren in allen fünfzig amerikanischen Bundesstaaten Gesetze verabschiedet worden, nach denen Ärzte und Krankenhäuser Anzeichen von Kindesmißhandlung der Polizei melden mußten. Inzwischen verlangen achtzehn Staaten zusätzlich, daß jeder, der von einer Mißhandlung Kenntnis hat, diese anzeigen muß. 1974 wurde das nationale Zentrum für Kindesmißhandlung und -Vernachlässigung gegründet, um weitere Forschung über die Ursachen von Gewalt an Kindern zu fördern, die Ergebnisse bekannt zu machen sowie präventive Maßnahmen zu beschreiben.
Ich wurde als Berater des Nationalen Komitees für die Verhinderung von Kindesmißhandlung (NCPCA) (1972 von Donna Stone in Chicago gegründet) persönlich mit diesem Problem konfrontiert. Man bat mich, eine Broschüre zu verfassen — »Was alle Eltern wissen sollten« —, in der Eltern mehr als ein Dutzend Alternativen zu strafender Disziplin dargelegt wurden. Diese Broschüre bildete den Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Publikationen der NCPCA für Eltern und Erzieher. Ich beschreibe darin die Alternativen zu körperlicher Züchtigung, wie sie in meinen Kursen unterrichtet werden, und zeige Eltern, wie man sie anwendet (Gordon, 1975). Bei meiner Arbeit in diesem Gremium wurde mir schmerzhaft deutlich, wie weitverbreitet Kindesmißhandlung in den Vereinigten Staaten ist.
Die USA sind zwar als Nation von dem Gedanken besessen, daß Kinder Disziplin brauchen, doch manche Eltern haben zugegebenermaßen gemischte Gefühle, wenn es um die Bestrafung ihrer Kinder geht. Eine Mutter gestand mir in einem meiner Kurse: »Ich gebe meinen Kindern nach, bis ich...