EINLEITUNG:
Begegnung mit einer weisen Frau in den Bergen
Wir sitzen beisammen,
der Berg und ich, so lange,
bis nur noch der Berg da ist.
Li Po
Schon seit vielen Jahren durchstreife ich oft die unberührte Natur in meiner Umgebung, um etwas für meine Gesundheit zu tun und weil es mir Spaß macht – bergauf und bergab über schmale Wildwechsel, bewaldete Hügel, durch Eichen-, Kiefern- und Erdbeerbaumwälder. Dieser Wandertrieb hat mich schon oft in das Gebirge geführt, das sich bis zur Küste hinzieht.
Vor ein paar Jahren, als meine Familie über ein verlängertes Wochenende verreist war, stand ich schon vor Morgengrauen auf und machte mich auf den Weg, ohne einen besonderen Plan für meine Wanderung zu haben. Ich wollte nur in Ruhe das Gebirge durchstreifen und neue Landschaften erkunden. Die Berge waren zwar nicht viel höher als tausend Meter, doch ihre Gipfel und Täler ließen einen die Zivilisation völlig aus den Augen verlieren. Sie erweckten ehrfürchtiges Staunen und den Eindruck von etwas Geheimnisvollem. Ich stellte mir vor, mitten in der Wildnis zu sein, kilometerweit von jeder menschlichen Siedlung entfernt.
In der Wellenlandschaft der Hügel spiegelten sich die Höhen und Tiefen meines eigenen inneren Lebens wider. Momentan hatte ich das Gefühl, mich in einem Tal verirrt zu haben, das von Zweifeln überschattet war. Mein Leben vollzog sich nur noch in gleichförmiger, wohlgeordneter Routine. So kam es, daß mich an diesem Morgen auf meiner Wanderung eine unausgesprochene Sehnsucht nach etwas Aufregendem begleitete, nach irgendeiner Einsicht, einer Veränderung. Und schon bald sollte ich entdecken, wie wahr das Sprichwort ist: «Sei vorsichtig mit deinen Wünschen! Es könnte sein, daß sie in Erfüllung gehen.»
An diesem Morgen hatte der Wind tiefhängende Wolken von der Küste hergetrieben. Nach einer Weile gelangte ich in ein kleines Tal, in dem so dichter Nebel herrschte, daß ich nicht weiter sehen konnte als ein paar Meter. Es wurde kalt und unheimlich still um mich herum, und bald verlor ich jede Orientierung. Irgendwo unter mir hörte ich einen Bach rauschen und wanderte in die entgegengesetzte Richtung in der Hoffnung, so aus diesem nebelverhangenen Tal herauszukommen.
Nach einer Weile erreichte ich eine Hochebene am Fuß einiger uralter Eichen. An einer Seite der Ebene gähnte ein steiler Abgrund. Zufällig hatte ich den einzig möglichen Zugang zu der Ebene gewählt: einen schmalen Pfad, der sich zwischen mächtigen Felsblöcken hindurchschlängelte. Als ich einen der Felsen umrundete, lichtete sich der Nebel, und ich entdeckte eine winzige Hütte. Ich trat näher und klopfte leise an die Tür.
Zu meinem Erstaunen antwortete eine klangvolle, unerwartet herzliche Stimme aus dem Inneren der Hütte, als sei ich ein lange erwarteter Gast: «Komm herein, lieber Wanderer, komm herein!» Und ich ließ die ausgetretenen Pfade meines Lebens hinter mir, öffnete die Tür und sah die weise Frau, die ganz ruhig dasaß und zu mir emporlächelte. Ohne ersichtlichen Grund überzogen meine Arme sich plötzlich mit einer Gänsehaut.
Mit katzenhafter Anmut saß sie auf einem Blätterteppich auf der Erde, aufrecht und doch entspannt. Sie trug ein loses grünes Gewand. Vielleicht denkt sie, wir sind hier im Wald von Sherwood, dachte ich.
Ihre Augen faszinierten mich. Es waren mandelförmige, haselnußbraune Augen, in denen das Sonnenlicht funkelte, das durch einen Spalt in der Wand der Hütte fiel – Augen wie Edelsteine, umrahmt von einem Gesicht mit glatter, olivfarbener Haut unter einem kurzgeschnittenen braunen Haarschopf. Ihre äußere Erscheinung verriet nichts über ihr Alter, ihre Nationalität oder ihre Kultur. Es sah aus, als sei sie von einem leuchtenden Energiefeld umgeben, doch das hielt ich für eine optische Täuschung, die durch das einfallende Licht zustande kam.
Eine seltsame Verwirrung überkam mich. Ich verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. War das hier ein Urwald, ein Hügel in England zu Shakespeares Zeiten, das schottische Hochland oder eine Einsiedelei der chinesischen Unsterblichen?
«Ich habe schon lange keinen Besuch mehr gehabt», sagte sie. «Ich bin froh, daß du gekommen bist, denn ich habe dir vieles mitzuteilen. Und ich brauche deine Hilfe bei einer sehr wichtigen Aufgabe.»
Hatte sie sich verirrt? Brauchte sie einen Führer? «Klingt interessant», sagte ich verblüfft und neugierig zugleich.
«Ja, ich glaube schon, daß es interessant für dich wird», erwiderte sie. «Aber zuerst einmal brauchst du ein bißchen Training – als Vorbereitung.»
«Vorbereitung? Hmmm ... Wenn das länger dauert als ein paar Stunden, glaube ich nicht, daß ich genügend Zeit habe.»
«Du hast weniger Zeit, als du glaubst – und zugleich mehr», sagte sie. Eine merkwürdige Antwort. Ich hielt sie für eine etwas eigenartige, aber harmlose Frau und beschloß, einfach mitzumachen und mich überraschen zu lassen, was dabei herauskommen würde. Mit einem Wink forderte sie mich auf, Platz zu nehmen. «Mach es dir bequem, lieber Wanderer. Ich weiß, warum du gekommen bist und daß du einen weiten Weg hinter dir hast.»
Ich wollte ihr schon erklären, daß ich nur eine Stunde von zu Hause entfernt war; doch dann wurde mir klar, daß sie nicht meine Wanderung von heute früh meinte, sondern meinen langen, an Höhen und Tiefen reichen Lebensweg.
Plötzlich stiegen unzählige Bilder in mir auf, Eindrücke aus den verschiedensten Kulturen und Zeitaltern. Ich hatte das seltsame Gefühl, daß diese Bilder alle irgendwie mit dieser Frau zu tun hatten. Dann kamen mir wieder Zweifel. Bestimmt ist sie nur ein Mensch, der gern zurückgezogen lebt, und ich spinne mir hier ein Abenteuer zurecht, wo gar keines ist, dachte ich.
«Wer bist du?» wollte ich wissen.
«Ein Spiegelbild in einem stillen Teich», erwiderte sie. «Ein Mondlichtstrahl in einer dunklen Nacht, so jung wie der Morgentau und so alt wie die Erde. Alles ist in mir, und ich bin in allem. Mehr kann ich dir nicht sagen, lieber Wanderer, denn mein Leben ist ebenso geheimnisvoll wie deines. Der einzige Unterschied zwischen uns beiden ist, daß ich in einem Geist lebe, von dem in dir gerade erst eine Ahnung aufdämmert.»
Ein paar Sekunden lang war ich sprachlos. Dann fragte ich weiter: «Aber wie soll ich dich denn nennen? Hast du keinen Namen?»
«Einen Namen?» Sie wirkte ehrlich überrascht. «Ich habe schon so viele Namen gehabt, daß ich mich kaum noch an alle erinnern kann.»
«Aber wie ruft man dich denn?»
«Ich werde nicht oft gerufen — und wenn, dann nicht bei einem Namen», entgegnete sie mit einem Lächeln. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen.
«Und wo kommst du her?»
«Ich wage mich aus der Vergangenheit und der Zukunft hervor. Ich lebe in der ewigen Gegenwart. Du und ich, wir beide haben uns schon oft aus den Augen verloren und immer wiedergefunden. Du hast an einer alten Tankstelle für mich gearbeitet, und ich bin mit dir durch die Regenwälder Hawaiis gewandert. Ich habe schon in großen Städten gelebt und als Richterin unter gold- und silbergeschmückten Kuppeln gesessen. Ich kenne die Geborgenheit des heimischen Herdes und die Einsamkeit der Bergklöster. Ich habe auf staubigen Feldern gearbeitet, die Risiken und Vorzüge der Macht und die kalten Peitschenhiebe der Armut kennengelernt. Ich bin unter funkelndem Sternenhimmel durch die Schatten des Mondlichts gewandert. Ich bin über alle Meere gefahren, habe Vermögen gewonnen und wieder verloren, Gesundheit und Krankheit, Vergnügen und Schmerz erlebt. Ich habe Schätze gefunden, die deine Augen blenden würden: glänzende Seidenstoffe, faustgroße Goldklumpen und funkelnde Edelsteine in allen Farben. Doch was ich nun mit dir teilen möchte, ist der bedeutendste aller Schätze, ein Geschenk, das immer größer wird, je mehr man davon abgibt, und das nie seinen Glanz verliert.»
Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme wie die Stimme der ganzen Menschheit. Sie wehte hierhin und dorthin wie der Wind, blies durch die verstaubten Korridore der Geschichte und durch lichterfüllte Räume. «Es gibt noch Magie in dieser Welt, lieber Wanderer. Ich möchte dich in die Geheimnisse der Alchemie einweihen.»
«Du meinst, wie man Blei in Gold verwandelt?»
Sie lächelte. «Mit Mineralien herumzuspielen, ist nichts weiter als ein Blendwerk der Chemiker. Mit der Alchemie, von der ich rede, kannst du die grundlegenden Elemente deines Lebens — die Ängste, Verwirrungen, Sorgen und Schwierigkeiten, die dir begegnen — in das Gold der Freiheit und Klarheit, Gelassenheit und Freude verwandeln. Die Geheimnisse, die ich dir anvertrauen möchte, sind die Gesetze des Geistes.»
«Du sprichst von <Geist> – glaubst du denn an Gott? Hast du eine Religion?» forschte ich.
Sie lächelte. «Man braucht nicht an die Sonne zu glauben, um sich an der Wärme des Morgenlichts zu erfreuen. Es ist einfach da, spürbar und offensichtlich. Auf diese Art und Weise kenne ich Gott. Und was meine Religion angeht», fuhr sie fort und blickte in die Ferne, als erinnere sie sich an längst vergangene Zeiten, «ich habe in den Tempeln der Juden und in den prachtvollen Moscheen der Moslems gesessen. Ich kniete in erhabenen Kathedralen, umhüllt vom strahlenden Licht der Christlichkeit. Ich habe in indianischen Schwitzhütten gekauert und die Pfeife weitergereicht, als Schamane in der afrikanischen Steppe gelebt, in buddhistischen Tempeln meditiert und den süßen Weihrauchduft an den Ufern des Ganges eingeatmet. In allen Religionen habe ich denselben Geist entdeckt: einen göttlichen Willen, der über Zeit, Glauben und Kultur hinausgeht und in dem sich die allgemeingültigen Gesetze offenbaren, der Schatz...