Kindheit
Schon als kleiner Junge von sechs oder sieben Jahren beschlich mich das Gefühl, dass an mir irgendwas anders war. Vielleicht lag es daran, wie die Leute über mich sprachen, als ob ich gar nicht dabei wäre. Meine Familie lebte in einem kleinen Haus in Ripley in Surrey direkt neben der Dorfwiese. Es gehörte zu einer Reihe ehemaliger Armenhäuser und hatte vier Zimmer: zwei winzige Schlafzimmer im ersten Stock sowie ein kleines Wohnzimmer und eine Küche im Erdgeschoss. Die Toilette befand sich in einem Wellblechschuppen im Garten, eine Badewanne gab es gar nicht, nur einen großen Zinkzuber, der an der Gartentür hing. Ich kann mich nicht daran erinnern, je darin gebadet zu haben.
Zweimal die Woche füllte meine Mum eine kleinere Blechwanne mit Wasser und schrubbte mich ab, und sonntagnachmittags badete ich immer bei Tante Audrey, der Schwester meines Vaters, die in einer der neuen Wohnungen an der Hauptstraße wohnte. Ich lebte zusammen mit Mum und Dad, die ein großes Schlafzimmer mit Blick auf die Dorfwiese hatten, sowie Mums Bruder Adrian, der in einem der Zimmer nach hinten hinaus wohnte. Ich schlief auf einem Feldbett, manchmal bei meinen Eltern, manchmal auch unten im Erdgeschoss, je nachdem, wer gerade bei uns übernachtete. Es gab keinen Strom, und die Gaslampen zischten unentwegt. Rückblickend finde ich es unglaublich, wie ganze Familien in diesen winzigen Häusern leben konnten.
Meine Mum hatte sechs Schwestern: Nell, Elsie, Renie, Flossie, Cath und Phyllis, sowie zwei Brüder, Joe und Jack. Sonntags war es nicht ungewöhnlich, dass zwei oder drei von ihnen samt Anhang zu uns kamen, tratschten und sich gegenseitig auf den neusten Stand der familiären Ereignisse brachten. Weil das Haus so klein war, wurden diese Gespräche immer in meiner Gegenwart geführt, und die Schwestern tuschelten miteinander, als wäre ich gar nicht da. Es war ein Haus voller Geheimnisse. Aber indem ich ihre Gespräche aufmerksam belauschte, reimte ich mir nach und nach zusammen, was eigentlich los war, und begriff, dass die Geheimnisse meistens mit mir zu tun hatten. Als ich eines Tages eine meiner Tanten fragen hörte: »Hast du etwas von seiner Mum gehört?«, dämmerte es mir, dass mein Onkel Adrian mich einmal nicht nur aus Spaß einen kleinen Bastard genannt hatte.
Das volle Ausmaß dieser Erkenntnis war ziemlich traumatisch für mich, denn zur Zeit meiner Geburt im März 1945 war eine uneheliche Herkunft noch ein gewaltiges gesellschaftliches Stigma – obwohl es, nachdem eine so große Zahl ausländischer Soldaten und Flieger durch England gekommen waren, viele uneheliche Kinder gab. Dies galt über alle Klassengrenzen hinweg, war jedoch bei Arbeiterfamilien wie unserer, die in kleinen Dorfgemeinschaften lebten und den Luxus von Privatsphäre kaum kannten, besonders ausgeprägt. Deswegen war ich, was meine Stellung in der Familie betraf, schwer verunsichert, und obwohl ich sie von Herzen liebte, hatte ich sie doch im Verdacht, dass ihnen meine Existenz in einem Dorf wie Ripley peinlich sein könnte und sie sich immer wieder erklären müssten.
Meine Mum und mein Dad, Rose und Jack Clapp, waren, wie ich schließlich herausfand, in Wahrheit meine Großeltern, Adrian war ihr Sohn und tatsächlich mein Onkel und Roses Tochter aus erster Ehe, Patricia, meine leibliche Mutter, die mir den Namen Clapton vererbt hatte. Mitte der 1920er Jahre hatte Rose Mitchell, wie sie mit Mädchennamen hieß, Reginald Cecil Clapton, genannt Rex, schneidig, fesch, Oxford-Absolvent und Sohn eines Offiziers der indischen Armee, kennen und lieben gelernt. Im Februar 1927 hatten die beiden gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern geheiratet, die der Ansicht waren, dass Rex unterhalb seines Standes heiratete. Die Hochzeit wurde wenige Wochen nach der Geburt von Roses erstem Kind, meinem Onkel Adrian, gefeiert. Die Familie ließ sich in Woking nieder, doch die Ehe war leider nur von kurzer Dauer, weil Rex 1932 drei Jahre nach der Geburt ihres zweiten Kindes Patricia an Schwindsucht starb.
Sein Tod brach Rose das Herz. Sie kehrte nach Ripley zurück und heiratete erst zehn Jahre später ein zweites Mal, nachdem ihr Jack Clapp, ein Stuckateurmeister, lange den Hof gemacht hatte. Die Hochzeit fand 1942 statt, und Jack, der wegen einer schweren Beinverletzung in seiner Kindheit vom Militärdienst befreit war, fand sich fortan in der Rolle des Stiefvaters für Adrian und Patricia wieder. 1944 wurde Ripley wie viele andere Städte im Süden Englands von US-amerikanischen und kanadischen Truppen überschwemmt, und irgendwann hatte die damals fünfzehnjährige Pat eine kurze Affäre mit Edward Fryer, einem in der Nähe stationierten kanadischen Flieger. Die beiden hatten sich bei einer Tanzveranstaltung kennengelernt, er war der Klavierspieler der Band. Wie sich herausstellte, war er verheiratet, sodass Patricia alleine zurechtkommen musste, als sie ihre Schwangerschaft feststellte. Rose und Jack schützten sie, und so kam ich am 30. März 1945 im Schlafzimmer im ersten Stock ihres Hauses zur Welt. Sobald es machbar war, also in meinem zweiten Lebensjahr, verließ Pat Ripley, und meine Großeltern zogen mich als ihr eigenes Kind groß. Ich bekam den Namen Eric, aber alle riefen mich Ric.
Rose war eine zierliche Frau mit dunklen Haaren, feinen Zügen und einer charakteristischen spitzen Nase, der »Mitchell-Nase«, wie sie in der Verwandtschaft bezeichnet wurde und die sie von ihrem Vater Jack Mitchell geerbt hatte. Alte Fotos von ihr zeigen eine sehr hübsche Frau, unbedingt die Schönheit unter den Schwestern. Aber nach dem Ausbruch des Krieges kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag musste sie sich einer Operation am Gaumen unterziehen. Während der Operation gab es einen Stromausfall, der dazu führte, dass der OP geräumt werden musste. Dadurch blieb eine lange Narbe unterhalb ihres linken Wangenknochens zurück, die aussah, als wäre ein Stück ihrer Wange ausgehöhlt worden, was sie ihr weiteres Leben lang ein wenig unsicher und verlegen machte. In seinem Song »Not Dark Yet« singt Dylan: »Behind every beautiful face there’s been some kind of pain.« Durch ihr eigenes Leiden sensibilisiert war sie ein ungeheuer warmherziger Mensch, der sich die Probleme anderer sehr zu Herzen nahm. Den größten Teil meiner Kindheit und Jugend war sie der Mittelpunkt meines Lebens.
Jack, ihr zweiter Mann und ihre große Liebe, war vier Jahre jünger als Rose. Er war ein schüchterner, gut aussehender Mann, über 1,80 Meter groß mit markanten Gesichtszügen und einer guten Figur. Er hatte ein bisschen was von Lee Marvin und rauchte selbst gedrehte Zigaretten aus einem kräftigen, schwarzen Tabak namens Black Beauty. Er war autoritär wie die meisten Väter in jener Zeit, aber auf seine Art auch sehr gütig und liebevoll mir gegenüber, vor allem in meinen ersten Jahren. Wir hatten keine besonders zärtliche oder sonst irgendwie körperliche Beziehung, so wie es allen Männern in unserer Familie schwerfiel, menschliche Wärme und Zuneigung auszudrücken. Vielleicht galt es als Zeichen von Schwäche. Jack verdiente seinen Lebensunterhalt als Stuckateurmeister für lokale Bauunternehmer. Darüber hinaus war er auch noch Maurer- und Schreinermeister, sodass er allein ein ganzes Haus hätte bauen können.
Er war ein überaus gewissenhafter Mann mit einem ausgeprägten Arbeitsethos und brachte so ein stetes Einkommen nach Hause, das während meiner ganzen Kindheit und Jugend stabil blieb. Deshalb herrschte bei uns, auch wenn man uns als arm hätte ansehen können, nur ganz selten akuter Geldmangel. Wenn es irgendwann doch einmal eng wurde, arbeitete Rose als Putzfrau oder Teilzeit bei Stansfield’s, einer Abfüllfabrik am Rande des Dorfes, die kohlensäurehaltige Getränke wie Limonade, Orangeade und Vanillebrause produzierte. Als ich älter war, habe ich in den Ferien selbst öfter dort gearbeitet, um mir ein Taschengeld zu verdienen, Etiketten auf die Flaschen geklebt und bei der Auslieferung geholfen. Die Fabrik glich einem Armenhaus aus einem Dickens-Roman mit herumlaufenden Ratten und einem bissigen Bullterrier, der eingesperrt blieb, damit er die Besucher nicht attackierte.
Ripley, das heute eher eine Vorstadt ist, lag zur Zeit meiner Geburt weit draußen auf dem Land. Es war eine typische kleine ländliche Gemeinde, die Mehrzahl der Bewohner arbeitete in der Landwirtschaft, und wenn man nicht aufpasste, was man sagte, wusste jeder über einen Bescheid. Deshalb war es ungemein wichtig, höflich zu sein. Zum Einkaufen fuhr man meistens in das mit dem Bus erreichbare Guildford, aber auch in Ripley gab es einige Läden: zwei Metzger, Conisbee’s und Russ’s, die beiden Bäckereien Weller’s und Collin’s, den Lebensmittelladen von Jack Richardson, Green’s, den Zeitungsladen, das Haushaltswarengeschäft von Noakes, eine Imbissbude und fünf Pubs. Meine erste lange Hose bekam ich bei »King und Olliers«, dem Herrenausstatter, der gleichzeitig als Postamt fungierte. Außerdem gab es noch einen Hufschmied, bei dem alle Bauern aus der Gegend ihre Pferde beschlagen ließen.
Jedes Dorf hatte überdies einen Süßwarenladen; unserer wurde von zwei altmodischen Schwestern geführt, den Miss Farrs. Beim Betreten des Geschäfts läutete ein kleines Glöckchen, und es brauchte jedes Mal so lange, bis eine der beiden Schwestern aus einem Hinterzimmer in den Laden kam, dass wir uns die Taschen mit Süßigkeiten vollstopfen konnten, bevor eine Bewegung des Vorhangs ihr Erscheinen ankündigte. Ich kaufte mit dem Bezugscheinheft unserer Familie zwei Sherbert Dabs oder ein paar Flying Saucers und marschierte mit den Taschen voller Horlicks oder Ovaltine-Tabletten wieder heraus, die zu meiner ersten Sucht geworden waren.
Obwohl Ripley alles in allem ein Ort war, in dem man eine glückliche Kindheit...