Kapitel 2
Landkarte Mensch – wie Sie Menschen lesen lernen
Mischen Sie 44,1 Kilogramm Sauerstoff mit 14 Kilogramm Kohlenstoff und 2,1 Kilogramm Stickstoff. Geben Sie ein Kilo Kalzium und 700 Gramm Phosphor hinzu, außerdem 170 Gramm Kalium, 140 Gramm Schwefel, 70 Gramm Chlor und die gleiche Menge Natrium. Zum Schluss reichern Sie diese Mischung noch mit 30 Gramm Magnesium, 3 Gramm Eisen, 300 Milligramm Kupfer, 100 Milligramm Mangan und 30 Milligramm Jod, Wasser und Selen an, dann haben Sie die Hauptbestandteile Ihres Körpers.
Faszinierend, oder? Erst recht, wenn man bedenkt, wie komplex unser Körper und Geist funktionieren, wie einzigartig jeder Einzelne von uns ist … und dass es uns tagtäglich gelingt, uns mit vielen anderen Menschen zu verständigen und mit ihnen zu leben.
Wir Menschen kommunizieren über drei Kanäle: unsere Stimme, unsere Mimik und unseren Körper.
Nehmen wir einmal an, ein guter Freund oder eine Freundin ruft Sie an. Schon daran, wie er oder sie sich meldet, werden Sie in den meisten Fällen erkennen können, wie es ihm/ihr geht. Will Ihr Freund Ihnen von einem tollen Erlebnis erzählen, das er hatte? Hat Ihre Freundin gerade eine Enttäuschung erlebt, ist sie wütend oder eher frustriert? Stimmen können heiter und beschwingt, sachlich, leise und gedämpft oder auch müde und kraftlos klingen. So, wie wir uns fühlen, hören wir uns meist auch an.
Tiefe Stimmen assoziieren die meisten Menschen mit Selbstbewusstsein und Dominanz, hohe Stimmen hingegen mit Nervosität, Unsicherheit und Unzufriedenheit. Die beiden Psychologen Stanford Gregory und Timothy Gallagher haben sich 19 Debatten zwischen Politikern aus amerikanischen Wahlkampagnen zwischen 1960 und 2000 ganz genau angehört: Mit Hilfe der Spektralanalyse maßen sie die Grundfrequenz der Stimmen der einzelnen Politiker. Sie stellten fest, dass in jeder der acht Wahlen der Kandidat mit der tiefsten Stimme den höchsten Prozentsatz an Wählerstimmen erhielt. Der Klang einer Stimme kann unser Verhalten also beinflussen.
Noch deutlicher als der Klang unserer Stimme sagt die Wahl unserer Worte etwas darüber aus, wie es uns geht. In meinen Seminaren zum Thema Menschenkenntnis zeige ich den Teilnehmern drei unterschiedliche Bilder und bitte sie, schriftlich eine kurze Geschichte dazu zu erzählen: Wie kam es zu der abgebildeten Situation, was geschieht gerade, und wie könnte die Szene weitergehen? Das erste Bild zeigt eine romantische Kussszene zwischen zwei Menschen auf einem Kornfeld. Auf dem Foto ist erkennbar, dass es regnet, was die beiden Liebenden nicht vom Küssen abhält. Normalerweise bekomme ich zu diesem Bild romantische Liebesgeschichten erzählt. Eine Teilnehmerin schrieb dazu jedoch Folgendes auf: »Zwei Menschen küssen sich im Kornfeld. Sie sollten die Zeit noch genießen, denn schnell ist sie vorbei, der Alltag kehrt ein, und die Beziehung stumpft ab. Bald schon werden Lüge und Betrug bei ihnen einziehen.« Auch ohne dass ich die Vorerfahrungen dieser Seminar-Teilnehmerin kannte, lag es nahe, dass sie aus eigener, schmerzlicher Erfahrung sprach. Ein persönliches Gespräch bestätigte meine Vermutung. Wir zeigen also auch durch die Art, wie wir etwas erzählen, wer wir sind und was wir erlebt haben. Optimisten und Pessimisten erkennt man so meist rasch.
Und die Mimik? Es gibt über 10 000 Gesichtsausdrücke, denen sieben Basisemotionen zugrunde liegen: Freude, Trauer, Überraschung, Zorn, Ekel, Verachtung und Angst. Der Anthropologe und Psychologe Paul Ekman, einer der führenden Wissenschaftler auf diesem Gebiet, hat festgestellt, dass diese Emotionen angeboren, nicht erlernt sind. Weltweit zeigen sich diese Emotionen in menschlichen Gesichtern auf die gleiche Weise, auch wenn die Auslöser ganz unterschiedlich sein mögen. Ganz gleich, ob eine Wildschweinherde auf uns zustürmt oder jemand uns mit einer Waffe bedroht: die Angstmechanismen, die dann einsetzen, sind die gleichen, und dasselbe gilt für den Gesichtsausdruck. Auch Freude zeigt sich weltweit gleich: der Wangenhebermuskel zieht im Gesicht die Mundwinkel nach oben, der Augenringmuskel zieht sich zusammen und verengt die Augen, die dann von einem strahlenförmigen Netz von Falten umgeben sind. Ein echtes Lachen erkennen Sie immer daran, dass die Augen sich verengen – selbst die besten Schauspieler können diese Mimik nicht spielen, sie versetzen sich in eine bereits erlebte Erfahrung von Freude zurück, und schon folgt die Mimik.
Achten Sie also auf die Augen Ihres Gegenübers, um zu sehen, ob er oder sie sich wirklich freut oder nur den Anschein erwecken will, dass es so ist (Fachleute sprechen im letzteren Fall von einem »sozialen Lächeln«). Übrigens kennen auch Schimpansen den Unterschied: Zeigt man ihnen ein Bild eines freudig lachenden Menschen, so stimmen sie in das Lachen mit ein. Das machen wir Menschen auch: Lachen ist ansteckend. Zeigt man Schimpansen das Bild eines »sozialen Lächelns«, reagieren sie wenig begeistert. Es kann sogar vorkommen, dass sie sich ihren Kot greifen und das Foto damit bewerfen. Ein vorgetäuschtes Lachen finden sie eben sch … Und tatsächlich ist ein »soziales Lächeln« eine Art Lüge, die dazu dient, unsere wahren Emotionen zu verbergen. Lügen geht auch ohne Worte. Neuropsychologische Untersuchungen von Richard Davidson, Paul Ekman und Wallace Friesen haben gezeigt, dass ein »soziales Lächeln« mit Aktivitäten jener Gehirnregionen korreliert, die negative Gefühle erzeugen. Nicht jedes Lächeln ist also wertvoll und positiv!
Damit, wie unser Körper spricht, werden wir uns in den einzelnen Abschnitten dieses Buches ausführlich befassen. Wichtig ist, dass alle drei Kanäle – Stimme, Mimik und Körper – miteinander verknüpft sind. Beispielsweise drückt Lachen sich sprachlich durch Laute aus, in der Mimik durch die Aktivität bestimmter Gesichtsmuskeln, in der Körpersprache durch eine Auf-und-ab-Bewegung des Rumpfes und das Zurückwerfen des Kopfes. Äußerlich nicht erkennbar ist, dass beim Lachen auch Glückshormone ausgeschüttet werden, die Bein- und Blasenmuskulatur sich entspannt und der Rumpf stabilisiert wird. Die Atemluft saust bei alledem mit um die 100 Stundenkilometer durch unsere Nasenflügel, bringt jede Menge Sauerstoff in unsere Lunge und erfrischt damit unser Gehirn. Gründe genug also, mal wieder so richtig herzhaft zu lachen …
Ihr Gehirn weiß mehr, als Sie denken
Alles, was wir tun, jede unsere Reaktionen wird durch unser Gehirn gesteuert, die nur etwa 1400 bis 1500 Gramm schwere Schaltzentrale in unserem Kopf. Hier ein paar Fakten:
- Das Gehirn besteht aus hunderten Milliarden Nervenzellen.
- Etwa eine Billiarde sogenannter Synapsen verbinden die Nervenzellen miteinander.
- Das vollständige Nervennetzwerk des Gehirns würde sich aneinandergereiht über eine Länge von 100 Kilometern erstrecken.
- Elektrische Impulse werden mit einer Geschwindigkeit von 40 bis 60 Metern pro Sekunde weitergeleitet.
- Obwohl das Gehirn nur zwei Prozent unseres Körpervolumens ausmacht, verbraucht es täglich 20 Prozent unserer Energie.
- Täglich strömen 1200 Liter Blut durch unser Gehirn und beliefern es mit 75 Litern reinem Sauerstoff.
- Das Gehirn besteht zu 85 Prozent aus Wasser, während der Rest unseres Körpers einen Wasseranteil von ca. 67 Prozent aufweist.
Mich beeindrucken allein diese Zahlen sehr, ganz abgesehen von dem, was unser Gehirn Tag für Tag leistet, ohne dass wir groß etwas davon mitbekommen. Beispielsweise regelt das Zwischenhirn zentrale biologische Grundfunktionen wie Schlafen und Wachsein, Körpertemperatur und Kreislauf. Stellen Sie sich einmal vor, wir müssten uns bewusst darum kümmern, dass diese Dinge funktionieren. Wahrscheinlich wäre ein großer Teil unseres Denkens ausschließlich damit befasst.
Das Gehirn steuert über 600 Muskeln, 206 Knochen und über 100 Gelenke. So können wir laufen, hüpfen, tanzen, lachen, klettern und vieles mehr. Unser Immunsystem ist Tag und Nacht aktiv, um unseren Körper gesund zu erhalten. Auch unser Herz macht nie Pause; es schlägt im Laufe unseres Lebens durchschnittlich zwei Milliarden Mal. Unsere Haut erneuert und häutet sich drei Mal pro Jahr, und unsere Augen können es locker mit jeder hochmodernen Kamera aufnehmen, obwohl sie je nur 7,5 Gramm wiegen. All das wird gelenkt vom Gehirn, das uns als hoch anpassungsfähiges Organ die Möglichkeit verschafft, ein Leben lang Neues zu lernen. Schätzungen zufolge ist unser Gehirn fähig, den Inhalt von bis zu 200 Millionen Buchseiten abzuspeichern.
Genau genommen haben wir nicht nur ein, sondern drei Gehirne: das sogenannte Reptilienhirn, das limbische System und den Neocortex, das »denkende« Gehirn.
Um die Entstehung von Körpersprache und Mimik zu verstehen, werden wir uns ausführlicher mit dem limbischen System auseinandersetzen – dazu müssen Sie, liebe Leser, Ihren Neocortex bemühen.
Das limbische System ist immer aktiv, da es unser Überleben sichert. Weite Teile dessen, was dort abläuft, bleiben uns unbewusst, sind also nicht durch den Willen beeinflussbar. Darum wird das limbische System mitunter auch als das »ehrlichste« unserer Gehirne bezeichnet. Im limbischen System entstehen unsere Gefühle; es steuert unsere reflexartig ablaufenden Überlebensreaktionen und damit einen Teil unserer Körpersprache. Denken Sie hier beispielsweise an unsere instinktive körperliche Reaktion, wenn ein lautes Geräusch uns erschreckt. Eigentlich wissen wir irgendwann, dass etwa das Öffnen einer Sektflasche ein lautes »Plopp« erzeugt. Dennoch fahren wir immer wieder erschreckt zusammen, wenn sich der Korken mit viel Druck aus der Flasche katapultiert. Wir können diese Schreckreaktion nicht unterdrücken....