Einleitung
Was soll am positiven Denken falsch oder gar unheil sein? Wenn wir positiv denken, fühlen wir uns besser, haben eine attraktive Ausstrahlung und ziehen wie ein Magnet positive Erlebnisse an. Wenn wir zum Beispiel eine Urlaubsreise unternehmen und uns auf diese Zeit freuen, wenn wir uns ausmalen, wie schön es werden wird, dann betreiben wir doch positives Denken, und es fühlt sich gut an. Wenn wir für etwas kämpfen und uns durch die Vorstellung unseres Erfolgs motivieren lassen, dann ist es doch gesund, so eine bejahende Lebenseinstellung zu haben! Warum sollen wir uns davon heilen?
Die Antwort lautet: Wenn Druck im Spiel ist, besteht Heilungsbedarf. Wenn uns unsere positive Lebenseinstellung unter Druck setzt, zeigt das an, dass sie nicht echt ist. Es ist eine Fassade, die wir nur mit Anstrengung aufrechterhalten können. Dahinter lauert die Depression. Depression ist die natürliche Reaktion auf den kollektiven Stress, immer gut drauf sein zu müssen.
Wenn unser positives Denken natürlich wäre, gäbe es nichts zu heilen. Natürliches positives Denken reduziert uns nicht, engt uns nicht ein oder setzt uns gar unter Druck. Ganz einfach deshalb, weil wir uns erlauben, auch gegenteilige Gedanken und Gefühle haben zu dürfen. Wenn wir mit dem, was in uns lebendig ist, in Kontakt sind, dann freuen wir uns in einem Moment, und im nächsten sind wir ängstlich, werden wütend oder fühlen uns verletzt. Unsere Gefühle und Gedanken verändern sich ständig, weil wir leben. Dieses Lebendige in uns ist niemals statisch oder eindimensional. Wenn wir das Beispiel unserer Reise nehmen, so könnten sich im Vorfeld Gefühle der Unruhe oder Panik vor dem Flug melden. Dann könnten wir unserem Mitreisenden sagen: »Ja, ich freue mich auch auf die Reise. Wären wir doch schon im Apartment und lägen auf der Terrasse mit dem herrlichen Blick. Leider gibt es noch diesen verdammten Flug. Wenn ich daran denke, bemerke ich ein flaues Gefühl im Magen. Also: Ich habe Gedanken an die Erholung, dann ist hier oben, in meinem Brustkorb und Gesicht, Freude, und ich habe Gedanken an einen Absturz, dann ist hier unten, tief in meinem Bauch, Angst! Dieses Pendelspiel von Gefühlen erlebe ich gerade, und wo ich das anerkenne, finde ich es spannend, was gerade in mir geschieht!«
Ein solcher Mensch, wie ich ihn hier beschreibe, braucht nicht geheilt zu werden, er ist ja mit sich verbunden. Er denkt, was er denkt, und er fühlt, was er fühlt. Dieser Mensch wohnt in seinem Körper und lebt in der Gegenwart, das heißt, er hat eine Gastgeberschaft entwickelt, die widersprüchliche Gedanken und Gefühle anerkennen kann, ohne eingreifen zu müssen. In dieser Persönlichkeit gibt es die Erlaubnis, dass das Fühlen und Denken sich ständig verändern darf. Die Welt geht für diese Persönlichkeit nicht unter, wenn Angst auftaucht. Stattdessen wird diese Angst im Körper gefühlt; wie sie sich gerade anfühlt und wie sie sich gerade verändert. Diese Persönlichkeit muss sich nicht anstrengen oder kämpfen, um psychisch stabil zu sein, und sie verzichtet darauf, ihre Gefühle in »positiv« oder »negativ« zu unterscheiden. Sie fühlt einfach, was sie fühlt. Einer solchen Persönlichkeit begegnen wir leider selten. Treffen wir aber auf sie, merken wir es daran, dass jeder Druck von uns weicht. Es geht eine Erlaubnis von ihr aus, eine Art Einladung, dass alles, was in uns ist, so da sein darf, wie es gerade ist.
Solange wir noch keine solche Gastgeber-Persönlichkeit entwickelt haben, denken wir positiv oder versuchen es zumindest. Sich auf die Reise zu freuen ist okay, sich vorzustellen, wie man auf der Terrasse den Blick über das Meer genießt, ist okay, aber die Angst vor dem Flug ist nicht okay. Dieses Gefühl ist unangenehm, es verdirbt uns die Vorfreude, es ist negativ und muss weg. Daher sagen wir uns: »Da wird schon nichts passieren! Ist ja lächerlich, sich so zu ängstigen. Sei vernünftig, reiß dich mal zusammen!« Hier ist der Haken, hier erschaffen wir uns einen Feind, der keine Ruhe geben wird. Wir klammern uns an Gefühle, die angenehm sind, und die unangenehmen wollen wir nicht haben. Unsere Technik besteht darin, unsere Gedanken so umzulenken, dass wir angenehme Gefühle bekommen. Durch diesen Eingriff trennen wir uns vom Strom unseres Erlebens ab: Wir verlieren den Kontakt zu unserem Körper und zu unserer Gegenwärtigkeit, stattdessen bewegen wir uns Limbo-artig in einem Zwischenreich: Wir warten darauf, auf dieser Terrasse zu liegen, fixieren uns auf dieses Gefühl, aber alles, was wir bis dahin erleben, müssen wir abblocken. Erst auf der Terrasse können wir die Gegenwart wieder zulassen.
Dieser Umgang mit sich selbst ist weit verbreitet, wir sind darauf konditioniert, positiv denken zu müssen. Diese Unterscheidung in »negativ« und »positiv« ist so selbstverständlich, dass uns gar nicht auffällt, welche Verbote wir uns auferlegen. Es ist eine Verdrängung im großen Stil, und da sie kollektiv betrieben wird, meinen wir, wir tun das Richtige, wenn wir positiv denken. In Wahrheit üben wir an uns selbst Gewalt aus, indem wir unser Innenleben beständig zensieren. Die Folge ist, dass wir nicht mehr wissen, wer wir sind. Je mehr wir versuchen, positiv zu sein, desto anstrengender wird es und desto mehr entfremden wir uns von uns selbst. Es ist kein Wunder, dass wir uns unter dieser aufgesetzten Positivität eine Depression heranzüchten. Auf diesem Weg der Verdrängung können wir bis zum Pol der äußersten Abspaltung voranschreiten, wenn wir beginnen, positives Denken radikal zu betreiben. Seit Jahrhunderten gibt es Bücher, die dazu anleiten, in jüngerer Zeit haben besonders »The Secret« von Rhonda Byrne oder »The Law of Attraction« von Ester und Jerry Hicks eine Renaissance des Positiven Denkens ausgelöst. Diese Bücher weisen uns darauf hin, dass unsere Gedanken Kräfte sind, die aufgrund des Gesetzes der Anziehung (Gleiches zieht Gleiches an) die entsprechenden Ereignisse in unser Leben ziehen. Das bedeutete für uns: Wenn wir erfolgreich und glücklich werden wollen, müssen wir in jedem Moment unsere Gedanken auf Erfolg und Glück ausrichten, dann schickt uns das Gesetz der Anziehung mehr davon. Denken wir aber negativ und greifen nicht ein, wird uns das Gesetz der Anziehung sofort mehr vom Negativen schicken. Jeder negative Gedanke, jedes negative Gefühl ist daher gefährlich, weil wir damit direkt negative Ereignisse anziehen.
Wenn wir auf diese Weise mit dem Positiven Denken und dem Gesetz der Anziehung arbeiten, wird sich der Druck, unter dem wir ohnehin schon stehen, massiv erhöhen. Den Pol der äußersten Abspaltung von uns selbst erreichen wir, wenn wir unsere gesamte Energie nach außen richten und eine Zukunft herbeihalluzinieren, in der all unsere Wünsche erfüllt sein sollen. An diesem Pol haben wir sowohl den Kontakt nach innen, zu unserem Körper, als auch zur Gegenwart vollständig verloren. Das merken wir, wenn wir nach der euphorischen Welle, die der Erstkontakt mit dem Positiven Denken auslösen kann, den Rückschlag erfahren: Wir können die guten Gedanken und Gefühle nicht mehr halten. Wir müssen jetzt positiv denken, weil wir wissen, dass negative Gefühle negative Ereignisse anziehen. Das Gesetz der Anziehung, das uns Macht und Glück verheißt, wird zu unserem Gefängnis.
Während wir die Auseinandersetzung mit dem Positiven Denken unterschätzen – Ach, ich versuche es mal mit Positivem Denken, und wenn es nicht klappt, dann lasse ich es halt wieder –, geraten wir unversehens in ein Drama hinein, das uns vor existenzielle Fragen stellt: Sind unsere Gefühle bloße Anhängsel unserer Gedanken? Können wir mit unserem Denken bestimmen, was wir fühlen? Sind wir selbst daran schuld, wenn wir uns schlecht fühlen? Wenn das so ist, denn tragen wir nicht nur die volle Verantwortung dafür, wie wir uns fühlen, sondern nach dem Gesetz der Anziehung auch dafür, was uns zustößt. Schlimme Ereignisse sind dann direkt darauf zurückzuführen, dass wir falsch gedacht und falsch gefühlt und es damit selbst in unser Leben gezogen haben. Leben wir aber wirklich in einem Universum, das uns gnadenlos zurückgibt, was wir denken? Liegt der Sinn unseres Lebens darin, totale Gedanken- und Gefühlskontrolle zu betreiben?
Wenn das Positive Denken funktionieren würde, müsste die Antwort Ja lauten: Ja, unsere Existenz ist so hohl, dass wir nur richtig denken müssen, dann geht es uns gut; wenn wir falsch denken, dann eben nicht. Das war’s!
Es gibt Leute, die machen jahrelang Therapie, beschäftigen sich mit ihrer Kindheit und den Dynamiken ihrer Familie, bringen gar frühere Inkarnationen ans Licht, alles in der Hoffnung, Selbsterkenntnis zu erlangen und ganz zu werden. Aus Sicht eines Positiven Denkers muss man diese Bemühungen als katastrophalen Irrweg betrachten:
»Seht«, müsste man sagen, »sie bedenken das Gesetz der Anziehung nicht. Sie lenken ihre Gedanken auf das Negative, sie erfüllen ihren Geist mit den Wunden ihrer Kindheit, kein Wunder, dass es ihnen nicht gut geht. Woran du denkst, das machst du stark! Das Gesetz der Anziehung kann ja gar nicht anders, als ihnen mehr vom Negativen zu schicken!«
Müssen wir also unsere unangenehmen Gefühle schon im Ansatz bekämpfen und mit positiven Gedanken gegensteuern, um günstige Ereignisse in unser Leben zu ziehen? Machen wir etwas falsch, wenn wir unseren negativen Gefühlen Raum geben und uns mit ihnen auseinandersetzen, weil wir eine Negativität aussenden, die zu uns zurückkommen wird? Müssen wir also Selbsterforschung und Psychotherapie unterlassen, um Unglück zu vermeiden?
Wenn wir diesen Fragen nachgehen, kommen wir schnell an den Punkt, an dem wir erkennen, dass wir nicht erst Anleitungen lesen müssen, um uns mit...