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E-Book

Ihr wisst nichts über uns!

Meine Reisen durch einen unbekannten Islam

AutorCharlotte Wiedemann
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783451346118
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Ein Islam ohne Klischees: Auf ihren Reisen erlebt Charlotte Wiedemann eine Vielfalt muslimischen Lebens, die in unseren Nachrichten kaum vorkommt. Geschichten vom Aufbruch, von Konflikten, von Hoffnungen, recherchiert an Universitäten ebenso wie in Bauernhütten. Oft stehen Frauen im Mittelpunkt. Meisterwerke journalistischer Erzählkunst.

Charlotte Wiedemann, geb. 1954, arbeitete als politische Korrespondentin für 'taz', 'Stern' und die 'Woche' und lebte einige Jahre in Malaysia. Gegenwärtig schreibt sie vorwiegend Reportagen aus Islamischen Ländern, vor allem für die 'Zeit'.

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Leseprobe

Paradoxe Identitäten


Iran: Eine psychologische Reise durch den doppelbödigen Alltag

Die Nasen. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Zu sehr ähnelten sie einander, sie waren gleichmäßig klein, hübsch und charakterlos.

Die jungen Frauen im Teheraner »Café Brasillia« trugen eng taillierte Blusenkleider, einen Hauch von Schal über dem Haar und dazu diese seltsamen Stupsnasen. Das »Café Brasillia« war ein Treffpunkt der Jeunesse dorée aus dem wohlhabenden Teheraner Norden; die Mädchen rauchten, die jungen Männer klackerten mit ihren Wagenschlüsseln, und alle wirkten auf routinierte Weise gelangweilt.

Die falsche Nase schien ein Accessoire dieser Szene zu sein, wie der Wagen, das Mobiltelefon und der Überdruss.

Am Vanak-Platz häuften sich die Schilder von Arztpraxen: »Haut, Haare, Schönheit, Plastische Chirurgie«. Junge Iranerinnen mit einem Pflasterverband auf der Nase bummelten an Schaufenstern vorbei, es war keine Schande, eine operierte Nase zu zeigen, im Gegenteil. Das Pflaster war ein stolzes Signal: Seht her, ich kann es mir leisten. Eine neue Nase kostet zwei bis drei Monatsgehälter eines Lehrers, und dafür würde man nur eine Nase von der Stange bekommen, eine Standardkorrektur.

Der suchende Blick einer Frau glitt über die Ärzteschilder. Nase? Nein, Brust, antwortete sie ohne Zögern. Neun Lehrergehälter. Die Frau trug über ihrem suchenden Blick bereits künstliche Augenbrauen, sie waren tätowiert.

Je weiter du von Teheran weg bist, desto größer werden die Nasen, spotten Iraner. Tatsächlich begegneten mir in Dörfern später alte Frauen, die das schwarze Schleiertuch so vollständig um sich herumgezogen hatten, dass nur eine stattliche orientalische Nase aus dem Stoff ragte. Aber auch unter einem Tschador kann eine perfekt manikürte Hand zum Vorschein kommen. Der Wunsch nach Schönheit, nach makelloser Schönheit ist groß in diesem Land, und er wird nicht geringer, je länger sich die bleiernen Zeiten der Islamischen Republik dahinschleppen. Eine Nase ist leichter zu korrigieren als ein politisches System. Kleine Fluchten, 1001 kleine Fluchten.

Teheran überraschte mich durch seine Modernität; es war nicht etwa die Modernität von Waren, von Geschäften oder einem sich stauenden Verkehr. Sondern mich überwältigte in den ersten Stunden der Eindruck von Vielfalt, von Individualismus und Zerrissenheit. Ganz im Gegensatz zu unserem monochromen Bild vom sogenannten Gottesstaat war dies zweifelsohne eine Gesellschaft im modernen Sinne: ein unüberschaubares, anstrengendes Puzzle von Verhältnissen, Stimmungen, Beziehungen, Lebensgefühlen und Psychosen.

Im Vergleich zu anderen Metropolen der islamischen Welt fällt ausgerechnet in der Hauptstadt der Islamischen Republik als Erstes die Abwesenheit von Religiosität auf. Kaum ein Gebetsruf ist zu hören in dieser 14-Millionen-Stadt; nur selten sah ich eine spontane fromme Geste. Das Freitagsgebet fand auf dem Campus der Universität statt. Das ist in Teheran ein politischer Ort; wer dort hinging, wollte gesehen werden. Vom Frauensektor aus war der Prediger nur zu hören, nicht zu sehen, ein politisch hochrangiger Geistlicher, er sprach über Irans Nuklearprogramm. Die Männer murmelten eine religiöse Formel der Zustimmung, bei den Frauen blieb es still. Eine ältere Aufseherin begleitete mich nach dem Gebet zum Ausgang und sagte unvermittelt: »Wenn ich keine Verantwortung für meine Familie hätte, dann würde ich ein Stück Brot einpacken, reisen und mir die Welt ansehen.«

Der Iran sollte sich noch öfter als ein Land unvorhersehbarer Sätze erweisen.

Von hohen Hauswänden fiel der durchdringende, dunkle Blick von Imam Khomeini hinab auf die achtlos dahineilenden Passanten. Der verstorbene Gründer der Islamischen Republik wuchs auf den Gemälden wie ein Riese aus Feldern roter Tulpen, so rot wie das Blut der Märtyrer. Ausländischen Beobachtern gilt die Zahl der Märtyrerbilder als Barometer für den Machtanspruch des Regimes über die Gesellschaft. »Ach«, sagte eine Teheranerin, »wir sehen diese Bilder gar nicht mehr. Sie sind für uns wie Bäume.« Poetische Worte für die bleiernen Zeiten.

Meistens war die Luft voller Geschimpfe. So schimpft, wer sich in der Mehrheit weiß. Wer war schuld am schlechten iranischen Fußball? Die Mullahs. Wer war schuld am Verkehrsstau? Die Mullahs. In einer Bäckerei knetete der Bäcker den Brotteig mit einer Zigarette im Mund, von der die Asche in den Teig fiel; als sich eine Kundin darüber beschwerte, rief der Bäcker lauthals: »Es gibt aber auch gar keine Freiheit in diesem Land!«

Schimpfen ist ein Ventil, auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit, und Spott eine Waffe, wo es an anderen mangelt. So sehr sich die meisten Iraner grundlegende Reformen wünschen: In Atem hält sie die Sorge um das eigene Dasein. Die Gelangweilten mit den falschen kleinen Nasen markieren nur das eine Ende der Gesellschaft; am anderen Ende blitzten Messer auf, als an einer Straßenecke Tagelöhner um ein wenig Arbeit konkurrierten.

Der junge Mann am Lenkrad des Sammeltaxis schob eine CD ohne Aufschrift in sein Gerät, provozierend laut setzte die Popmusik ein; wir fuhren durchs Zentrum von Teheran, mit offenen Fenstern dicht an Polizisten vorbei. Für einen Moment schoss dieses prickelnde, pubertäre Gefühl von Ersatzfreiheit hoch, gerade lang genug, um zu verstehen, wie sich die jungen Iraner fühlen, die abends derart über die Boulevards kurven – sofern sie sich ein Auto leisten können. Offiziell war Pop immer noch verboten, aber jeder Haushalt mit Computer holte sich Musik aus dem Internet, meistens persischen Pop, aufgenommen in Kalifornien.

Verbotenes oder Verpöntes zu tun gehört zum Alltag der städtischen Mittelschichten; Regelbruch ist ein Massenphänomen. Nur die Ängstlichsten verbergen ihre Satellitenschüsseln noch morgens in der Wohnung und schleppen sie abends wieder auf den Balkon. Die Revolutionswächter, einst gefürchtet, gelten als frustriert und korrupt; vor einer Feier bekommen sie Geld, damit sie die Kontrolle vergessen – so können sich die weiblichen Gäste dekolletieren. Alkohol ist erstaunlich leicht erhältlich. In manchen Familien kommt der eigenhändig gekelterte Rotwein in unschuldigen Rosenwasserflaschen auf den Tisch; andere haben gleich eine ganze Bar im Keller. Vom Obsthändler an der Ecke ist bekannt, dass er Import-Whisky verkauft. Und zur Not gibt es noch den Ethanol-Alkohol aus der Apotheke, 96-prozentig; mit der gleichen Menge Mineralwasser verdünnt, dazu der Saft frischer Limonen, fertig ist der iranische Wodka-Lemon.

So viel Doppelleben. Öffentlicher und privater Raum sind getrennte Welten, hier und dort gelten verschiedene Werte, Normen, Verhaltenserwartungen. Nahezu jede Familie hütet Geheimnisse. Um sie zu wahren, lernen viele Kinder früh das Lügen, lernen zu unterscheiden, was sie in der Schule sagen dürfen, welcher Freundin sie was erzählen dürfen. »Antennen«, Spione, werden im Schülerjargon die Kinder regierungsnaher Eltern genannt.

Ein Teheraner Mädchengymnasium hat zum Elternnachmittag geladen. Ich darf eine Mutter begleiten, sitze in der letzten Reihe des kleinen Raums; niemand reagiert mit Misstrauen auf die Anwesenheit einer Ausländerin. Vier Väter und drei Dutzend Mütter sind gekommen. Dies ist eine besondere Schule, eine Art private Modellschule, sie heißt »Kreativ Denken«. Heute ist ein Psychologe zu Gast; Abdurrazah Kordi arbeitet an einem gleichfalls privaten Beratungszentrum; er spricht mit den Eltern darüber, was das Doppelleben der Erwachsenen in den Seelen der Kinder anrichtet. »Wir verkörpern keine stabilen Werte«, sagt er. »Die Kinder können sich nicht mit uns identifizieren. Sie wissen nicht, was richtig und was falsch ist. Sie sind deshalb gestresst und leistungsgehemmt.«

Der Familienpsychologe gehört zu den wenigen im Iran, die wissenschaftlich ergründen, was diese erstarrte Islamische Republik aus den Menschen macht. »Paradoxe Identitäten« diagnostiziert er, spricht von »Zwei-Sein«, von »Doppelcharakteren«. Mehr als eine Milliarde Schmerztabletten schluckten die Iraner pro Jahr, viele Frauen würden depressiv. »Wir haben zu viele Parolen gehört. Wir haben nicht gelernt zu leben.«

Nach dem Vortrag bricht es aus einem Vater heraus: »Unser Land ist ein Monolog-Land! Die eine Seite redet, die andere muss zuhören. Unsere Kinder müssen lernen zu reden. Wir müssen jedes Kind einmal in der Woche vorne hinstellen und ihm sagen: Rede! Rede!!«

Der iranischen Gesellschaft seien »multiple Persönlichkeiten« zur zweiten Natur geworden, schreibt die Soziologin Masserat Amir-Ebrahimi. »Für viele Jugendliche ist die Hauptfrage heute: Wer bin ich?« Sie finden nur Spiegel, die ihnen ein Zerrbild zurückwerfen. Aus einer Öffentlichkeit, die den Sitz des Kopftuchs und die Farbe des Mantels vorschreibt, fliehen sie in einen künstlichen Raum, den virtuellen. Mehr als 60 000 junge Iraner schreiben Weblogs, Tagebücher im Internet, meist unter falschem Namen. Manche Blogs sind oppositionell, aber vieles ist unpolitisch, eine Suche nach Identität oder ein Spiel mit Probe-Identitäten: Wer könnte ich sein? Persisch gehört heute zu den weltweit meistbenutzten Weblog-Sprachen. »Manchmal vergesse ich, wer ich bin«, schreibt eine Bloggerin. »Wenn ich dann mein Weblog lese und mich dort sehe, dann beruhigt mich das, und ich fühle mich besser.«

 

Flüstern. Kichern. Das Knistern von Chipstüten. Im Fastdunkel des Kinosaals rücken hier und dort die Silhouetten zweier Köpfe Zentimeter um Zentimeter zusammen, bis die Kopftuchsilhouette quer liegt, an der Schulter des Jungen. Der Film heißt Kerzen im Wind; es ist die Geschichte eines jungen...

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