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Land ohne Eile

Ein Sommer in Masuren

AutorTobias Lehmkuhl
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783644111714
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wer hierherkommt, hat die Heimatgeschichten von Siegfried Lenz und Arno Surminski im Gepäck und wähnt sich selig in einer untergegangenen Welt: Eichenalleen, Burgen, Ruinenromantik, elegische Seenlandschaften - Masuren, diese Region im Norden Polens, einst Teil Ostpreußens, das ist nicht zuletzt ein Sehnsuchtsort der Deutschen. Was aber steckt hinter der Idylle? Um das herauszufinden, hat Tobias Lehmkuhl einen Sommer in Masuren verbracht. Er begegnet stoischen Anglern, wehmütigen Heimattouristen und trinkfreudiger Dorfjugend; er lässt sich den Wind der tausend Seen um die Nase wehen, wandelt durch endlose Nadelwälder und flüchtet vor sintflutartigen Gewittern; und überall stolpert er über Spuren deutscher Geschichte: von dem verfallenen Gutsschloss der Familie Lehndorff und den Schlachtfeldern bei Tannenberg bis zur Wolfsschanze, dem einstigen «Führerhauptquartier», wo er eine unruhige Nacht verbringt. Tobias Lehmkuhl erlebt ein zerrissenes, wunderschönes Land im Schatten der Geschichte, das noch dabei ist, seinen Platz im heutigen Polen zu finden. Ein glänzend erzähltes Reisebuch - und ein frischer Blick auf einen mythischen Ort, der nichts von seinem Zauber eingebüßt hat.

Tobias Lehmkuhl, geboren 1976, studierte in Bonn, Barcelona und Berlin. Seit 2002 arbeitet er als freier Journalist, u. a. für «Die Zeit», Deutschlandfunk und die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». 2018 erschien seine viel gelobte Nico-Biografie, zu der die «Berliner Zeitung» schrieb: «Lehmkuhls gründlich recherchiertes und faktensattes Buch schafft Raum, um sich eine eigene Vorstellung zu machen.» 2017 erhielt Tobias Lehmkuhl den Berliner Preis für Literaturkritik.

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Leseprobe

Die Reise durch Nikolaiken


Es war 7:26 Uhr in der Früh. Wie jeden Morgen riefen die Glocken der Kirche gleich auf der anderen Seite der Straße zum Gottesdienst. Schnell sprang ich aus dem Bett, denn an diesem Tag wollte ich Nikolaiken einmal von Grund auf erkunden, nicht als Tourist, der versonnen umherschlendert, eher als eine Art früher Forschungsreisender, der seinem Auftraggeber ein möglichst detailliertes Bild von diesem fernen Ort und seinen Bewohnern liefern soll.

Nach Dusche und Frühstück ging ich also, einzig mit Papier und Stift bewaffnet und als käme ich aus einer Zeit weit vor Erfindung der Fotografie, hinüber in die kleine Backsteinkirche.

Außer mir waren vier ältere Frauen anwesend. Eine von ihnen wirkte sehr angespannt. Immer wieder schaute sie sich um und betrachtete mich mit bösem Blick. Danach zischelte sie ihre Gebete besonders laut.

Der Pfarrer, der gegen acht auf den Plan trat, war von routinierter Gleichmütigkeit und störte sich nicht daran, dass die angespannte Frau ihn beim Singen übertönte, obwohl seine Stimme elektronisch verstärkt wurde. Nicht nur im etwas partykellerhaften Kircheninneren (es war ein recht kleines, enges, fast stickiges Gebäude), auch über dem Eingangsportal hing ein Lautsprecher. Hier spürte man, wie missionierungswillig und selbst in scheinbar aussichtsloser Lage hoffnungsvoll der Katholizismus doch ist. Vielleicht blühte ihm ja ein zweiter Frühling, denn wo alle nach Entschleunigung schreien, ist so eine Messe genau das Richtige: Man verbringt Stunden mit den immergleichen und gerade in ihrer praktischen Nutzlosigkeit so attraktiven Ritualen.

Vielleicht waren es auch nur fünfundvierzig Minuten, die ich hier verbrachte. Die Kirche konnte sich mit keiner Kirchturmuhr schmücken, und mir war die Zeit auch recht egal. Ein ganzer Tag für einen Ort von gerade einmal viertausend Einwohnern, das dürfte allemal reichen. Oder?

Ich trat vor die Kirche auf die Ulica Michała Kajka, die zum Marktplatz führt. Michał Kajka, nach dem die Straße benannt war, erfuhr ich später, wurde 1858 in der Gegend von Orzysz geboren und setzte sich für den Erhalt der Vielsprachigkeit und gegen die «Zwangsgermanisierung» der masurischen Bevölkerung ein. In seinen «Masurischen Klageliedern» heißt es: «Lass unser flehentliches Rufen / Für unser geliebtes Volk / Hinaufsteigen zu den Himmeln / Oder irgendwo über den Ozean, / Lass es ertönen mit traurigem Klang / Über der heimatlichen Sprache Tod.»

Heute hört man nur noch Polnisch in Masuren, von gelegentlichem Urlauberdeutsch abgesehen.

Ich ging Richtung Marktplatz, vorbei an einer Pizzeria und einigen Häusern aus der Vorkriegszeit. Sie fielen, so ganz ohne Charme und Schmuck, unter den Nachkriegsbauten kaum auf. Der Platz selbst wurde gerade neu gestaltet; seit Wochen hockten die Pflasterer auf dem Boden und versahen ihn mit einer Kopfsteindecke. Auch ein großer Springbrunnen in der Mitte des Platzes stand vor der Vollendung; um ihn herum, in einem großen Bogen, hatte man Betonplatten ins Pflaster eingelassen, die wie Fische geformt waren. Die Augen dieser Betonfische entpuppten sich des Nachts als bodenerleuchtende Halogenstrahler.

Noch aber waren einige Bereiche des Platzes abgesperrt, und ich stellte mich an den Rand, um einen Überblick zu gewinnen: zwei Banken, drei Restaurants, zwei Supermärkte, ein Souvenir- sowie ein Schreibwarenladen. Außerdem eine Drogerie und die Touristeninformation. Am Kopf des Marktes das ehemalige Rathaus, in dem sich inzwischen das Hotel Mazur befand. «1888» stand groß über dem Eingangsportal, und genauso groß leuchtete eine elektronische Tafel auf und blinkte wild, um zu verkünden, was auch in starren Buchstaben zu lesen war: den Namen des Hotels.

Ein unverzeihlicher Stilbruch. Aber wo ohnehin Unordnung herrscht, wiegt er weniger schwer. Wenn auch einige der Gebäude am Marktplatz aus derselben Zeit stammten wie das ehemalige Rathaus, so passten hier doch keine zwei Häuser zueinander. In die Lücken hatte man einfach irgendetwas gesetzt; eine gemeinsame Traufhöhe wurde nur sehr, sehr ungefähr angepeilt. Doch überragte kein Gebäude das andere, im Durchschnitt baute man hier zweieinhalb Stockwerke hoch.

So wirkte der ganze Platz, obwohl relativ groß, merkwürdig geduckt und gepresst. Auch Fassaden gingen in einem gelb-grau-weißlichen Gemisch ineinander über. Wer nicht genau hinschaute, konnte nicht unterscheiden, welches Werbeschild zu welchem Laden gehörte, wo überhaupt ein Laden, ein Restaurant anfing oder aufhörte.

Farbe und Charakter verlieh diesem irgendwie trostlosen Platz die Parkplatzdiva. Da ein gewisser Teil des neu gepflasterten Areals Fahrzeugabstellzwecken diente, ohne dass man Parkuhren installiert hätte, kassierte eine elegante ältere Dame die Gebühren. Von einem adeligen Air umgeben, hätte sie auch gut in eine Blankeneser Villa oder eine Boutique auf dem Jungfernstieg gepasst. Stämmig, aber von sehr gerader Statur, behielt sie mit strengem Blick jedes Auto im Auge. Dabei trug sie mal ein hellblaues Kostüm zu rot-weiß gestreiften Turnschuhen (trotz ihrer sicherlich sechzig Jahre wirkte – würdevoll, wie sie auftrat – auch dieses jugendliche Attribut an ihr keineswegs lächerlich), mal ein leopardenfellartig gemustertes Kleidchen mit kühn ausgefranstem Saum. Auf dem Kopf saß ihr meist ein Strohhut mit einer rosa Rose daran.

Wenn die Parkplatzdiva nicht gerade abkassierte, saß sie auf einem Plastikstuhl, neben sich eine Esprit-Tüte mit Wasser und Keksen, und streichelte ihr Schoßhündchen – wobei ich mir bald nicht mehr sicher war, ob sie wirklich so ein Hündchen dabeihatte oder ob ich es mir, weil es so gut passen würde, nur nachträglich einbildete.

Der Marktplatz, kurz gesagt, machte augenscheinlich nicht viel her. Das war vor siebzig Jahren nicht anders gewesen, als Marion Dönhoff hier auf ihrem «Ritt durch Masuren» Station machte: «Das Städtchen ist völlig ausgestorben, man hört keinen Laut. Nirgends Licht, niemand auf den Straßen.»

Damals, im Jahr 1941, herrschte freilich Krieg, und die meisten Männer waren an der Front. Gemeinsam mit ihrer Cousine Sissi von Lehndorff sah Marion Dönhoff auf ihrer fünftägigen Reise noch einmal ein Masuren, wie viele jener Soldaten es nie wiedersehen sollten. Eigentlich an ihren kleinen Bruder gerichtet, erschienen die Aufzeichnungen erstmals 1962.

Heute nun ging es in Nikolaiken belebter zu, auch wenn zu dieser frühen Stunde nur wenige Menschen unterwegs waren. Ein paar Touristen, die nicht wussten, was sie fotografieren sollten, ein paar Kinder auf dem Weg zur Schule, einige Frauen, die ihre Läden aufschlossen. Sogar frühstücken hätte Marion Dönhoff hier können. Damals war sie am nächsten Morgen gleich weitergeritten und hatte sich später auf dem Gut eines Bekannten versorgen lassen müssen. Dieses Gut lag ein paar Kilometer den Nikolaikensee hinunter, längst aufgegeben und zerfallen.

Ich ging weiter die Kajka-Straße entlang, vorbei an zahlreichen Juweliergeschäften, deren Schaufenster vor Bernsteinschmuck überquollen, vorbei an der Post, der ein oder anderen Pizzeria, an Eisdielen, Apotheken, einer Wechselstube. Bis ich auf einem großen Platz landete, auf dem die Busse wendeten und Passagiere aus- und zusteigen ließen, Linien- wie Touristenbusse. Allzu rege war der Verkehr auch hier nicht, und ich überquerte den Platz und betrat das Gelände der evangelischen Kirche des Ortes, einen schlanken sandfarbenen Bau, dessen silbermatt schimmernder Turm weit in den Himmel ragte. Ich besaß ein altes Foto, vielleicht hundert Jahre alt, auf dem Nikolaiken abgebildet war – oder eher nicht abgebildet war, weil Schilf und Fischerhütten zauberisch den Blick versperrten. Nur diesen Kirchturm sah man deutlich, ein dem langen Schilf verwandtes, sich also beinahe im Winde wiegendes Bauwerk, wie es sich elegant über dem kleinen Ort emporschwingt. Das Schilf war inzwischen verschwunden, die Ufer verbaut, der Turm aber schien unverändert und von geradezu jugendlicher Frische und Biegsamkeit.

Allerdings war die Kirche verschlossen, und so betrat ich das benachbarte «Museum der polnischen Reformation». Masuren, als Teil Ostpreußens, war bis 1945 evangelisch geprägt, mit Kriegsende aber ging mit den Deutschen auch der Großteil der protestantischen Bevölkerung verloren.

Ein großer Mann mit unfassbar traurigen Augen führte mich herum. Es schien, als habe er den Verlust noch lange nicht verschmerzt, ja als sei er bereit, sich selbst ins Schwert zu werfen, wenn die Protestanten nur wieder zurückkämen nach Polen. Pflichtschuldig betrachtete ich Dutzende alter Luther-Bibeln in Deutsch, Polnisch und Litauisch, sah dann aber zu, dass ich wieder hinauskam.

Um den Trauermantel abzuschütteln, setzte ich mich an die parallel zur Kajka-Straße verlaufende Uferpromenade am Nikolaikensee. Die erste größere Touristengruppe des Tages zog kameraschwenkend an mir vorbei und betrat die Sheherazade, einen dem Namen entsprechend märchenhaft-exzentrisch bemalten Ausflugsdampfer, der mehrmals täglich, bei Ein- und Ausfahrt laut tutend, über den Nikolaikensee zum Spirdingsee fuhr.

Ein Junge zog seinem kleinen Bruder eins über die Mütze, der Kleine fing an zu heulen. Da mischte sich die Mutter ein, und bald darauf kreischte auch der größere der beiden. Als sie aufs Boot stiegen, war aber alles wieder gut, und ich genoss nach dem Abschiedstuten die vorübergehende Stille.

Doch weiter. Nun ging es die Uferpromenade entlang. Auch hier die zu erwartende Abfolge von Restaurants: Pizzeria, Eisdiele,...

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