Der Besiegte erfährt etwas schneller,
was das Schicksal vorhat.
HEINRICH MANN1
Am Anfang aller abendländischen Niederlagen steht der Fall Trojas. Wie wenig er den griechischen Siegern einbrachte, erzählen die Mythen der Heimkehr. Auf dem Weg zurück finden die Helden den Tod, dem sie im Krieg entgingen (Aias), irren lange Jahre in der Welt herum (Menelaos, Odysseus) oder werden zu Hause ermordet (Agamemnon). Troja geht zwar unter, jedoch mit einer entscheidenden Ausnahme. Äneas und die Seinen läßt der Mythos entkommen, nach odysseischem Herumirren in Italien landen und zum Stammgeschlecht Roms werden. Lange bevor die Verbindung von Troja und Rom in Vergils ›Äneis‹ zum römischen Nationalepos wurde, war sie Bestandteil der römischen Mythologie. Nach dem Untergang Roms knüpften die frühmittelalterlichen westeuropäischen Gründermythen hier an. Frankreich soll nach einer Überlieferung aus dem 6. Jahrhundert auf Francio, einen Sohn des Priamos, zurückgehen, England nach Geoffrey von Monmouths ›Historia Regum Britanniae‹ auf Brutus, einen Enkel des Äneas, von dem wiederum König Artus abstammt.2
Troja als Untergangs- und Neugründungsmythos, das ist eine der vielen Gestaltungen von Kampf, Tod, Wiedergeburt und ihrer zyklischen Verbindung, wie sie sich in allen Weltkulturen finden. Die Todes- und Wiedergeburtsmythen kennen keine absolute Auslöschung. Das Dasein geht im Totenreich weiter wie zuvor in der Welt der Lebenden. Es wechselt »nur seinen Schauplatz«, wie Ernst Cassirer sagt.3
Wenden wir uns der neuzeitlich-abendländischen Version des Tod-Wiedergeburt-Schemas zu, so stoßen wir auf die Negation als das treibende Prinzip aller Entwicklung. Ohne den stets verneinenden mephistophelischen Geist, ohne die Hegelsche Antithese, ohne das Freudsche Realitätsprinzip kein faustisches Projekt, kein dialektisches Weltverständnis, keine Ich-Werdung des Es. Die Niederlage in ihrer abstraktesten Definition ist nichts anderes als die Negation eines Willens, der ungeachtet des Einsatzes aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel sich nicht durchzusetzen vermag. Hegels Satz von der Weltgeschichte als dem Weltgericht legitimiert den Sieg als das Resultat eines vorangegangenen Kampfes, aber natürlich nicht für ewig, sondern nur so lange, bis die Herausforderung durch einen neuen Gegner zu neuem Kampf führt, usf. Auch die andere Hegelsche Formel – Was ist, ist vernünftig – gilt nur so lange, wie die siegreiche Position die Kraft zur Selbstbehauptung hat. Im liberalen System haben sich die Sieger jederzeit ihren Herausforderern, die häufig die Verlierer von gestern sind, zu stellen: in der Produktivitäts- und Preiskonkurrenz nicht weniger als im Kampf der Meinungen und Moden und in den sportlichen Wett- und den politischen Wahlkämpfen.
Einem Denken, das die Illusion vom eigenen Dauertriumph verloren und gelernt hat, daß die Weltgeschichte aus lauter Auf- und Abstiegen besteht, kann es wie Till Eulenspiegel gehen, der sich auf den schweren Weg bergauf freut, weil ihm die Leichtigkeit des Bergab folgen wird. Das heute siegreiche Oben als vielleicht schon morgen besiegtes Unten zu sehen verkehrt nicht nur die traditionelle Identifizierung mit dem Mächtigen. Von der alten Vorstellung der vor dem Fall kommenden »Hybris« unterscheidet sich das Niederlagendenken dadurch, daß nicht der Absturz der übermütig-arroganten Macht interessiert, sondern die Lektion vom Verlieren selber ausgeht.
Zwei Typen des Niederlagendenkens gibt es: die »betroffene« Selbstreflexion des Verlierers und die beobachtende Reflexion des unbeteiligten Dritten. Ein schönes Beispiel für den ersten Typus ist Carl Schmitt. Nach seinem Sturz vom Kronjuristen des Dritten Reichs zum Angeklagten eines Entnazifizierungstribunals schrieb er im Sommer 1946 einen Essay über Alexis de Tocqueville, den er einen mehrfach Besiegten nannte. »In ihm sammelten sich alle Arten von Niederlagen, und das nicht zufällig und unglücklicherweise, sondern schicksalhaft und existentiell. Als Aristokrat war er ein Besiegter des Bürgerkriegs […]. Als Liberaler hat er die nicht mehr liberale Revolution von 1848 vorausgesehen und wurde durch den Ausbruch ihres Schreckens tödlich getroffen. Als Franzose gehörte er zu der Nation, die nach einem zwanzigjährigen Koalitionskrieg […] besiegt worden war […]. Als Europäer geriet er ebenfalls in die Rolle des Unterlegenen, denn er sah die Entwicklung voraus, die zwei neue Mächte, Amerika und Rußland, über den Kopf Europas hinweg zu Trägern und Erben einer unwiderstehlichen Zentralisierung und Demokratisierung machte. Als Christ endlich […] erlag er dem wissenschaftlichen Agnostizismus des Zeitalters.« Tocqueville war für Schmitt im Jahre 1946 deshalb ein großer Historiker, weil er, stets auf der Verliererseite stehend, »sich nicht, wie der große Hegel und der weise Ranke, zum lieben Gott in die Königsloge des Welttheaters«4 setzte. (1934, als er, in Hitlers Loge sitzend, dessen Juni-Massaker juristisch legitimierte, hatte er es wohl anders gesehen.)
Wie ein Kommentar zu Schmitts Tocqueville-Kommentar liest sich, was vierzig Jahre später Reinhart Koselleck über das Geschichtsverständnis und die Geschichtsschreibung von Siegern und Besiegten schrieb. Ausgehend von der Annahme, »daß Geschichte kurzfristig von den Siegern gemacht, mittelfristig vielleicht durchgehalten, langfristig niemals beherrscht wird«, nennt Koselleck die Sieger-Geschichtsschreibung »kurzfristig angelegt, konzentriert auf die Ereignisfolgen, die ihnen [den Siegern; W. S.], kraft eigener Leistung, den Sieg eingebracht haben […]. Der Historiker auf seiten der Sieger ist leicht geneigt, kurzfristig erzielte Erfolge durch eine langfristige Ex-post-Teleologie auf Dauer auszulegen.« Als Beispiele solcher eindimensionalen Sieger-Teleologie nennt Koselleck für Deutschland Droysen und Treitschke, für Frankreich Guizot.
Ganz anders die Historiographie der Verlierer. »Deren Primärerfahrung ist zunächst, daß alles anders gekommen ist als geplant oder erhofft. Sie geraten […] in eine größere Beweisnot, um zu erklären, warum etwas anders und nicht so gekommen ist wie gedacht. Dadurch mag eine Suche nach mittel- oder langfristigen Gründen in Gang gesetzt werden, die den Zufall der einmaligen Überraschung erfaßt und vielleicht erklärt. Die Hypothese hat also manches für sich, daß gerade aus ihren einmaligen, ihnen aufgenötigten Erfahrungsgewinnen Einsichten entspringen, die von längerwirkender Dauer und damit größerer Erklärungskraft zeugen. Mag die Geschichte – kurzfristig – von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten […]. Die Erfahrung des Besiegtwerdens enthält Erkenntnischancen, die ihren Anlaß überdauern, gerade wenn der Besiegte genötigt ist, wegen seiner eigenen auch die übergreifende Geschichte umzuschreiben […]. Im Besiegtsein liegt offenbar ein unausschöpfbares Potential des Erkenntnisgewinns.«5
Klassische Verlierer dieser Art waren jene Frondisten gegen den französischen Absolutismus, die nach der Niederlage das Schwert mit der Feder vertauschten. Die Memoiren und Aphorismen der Saint-Simon und LaRochefoucauld wurden, wie man festgestellt hat, eine literarisch sublimierte Form der Revanche, zugleich aber auch eine Gesellschaftsanalyse, die in gerader Linie zur Aufklärung und zum Jahre 1789, also gewissermaßen zur Metarevanche der Fronde, führte.6 Für das 20. Jahrhundert hat Russell Jacoby ähnliches über den West-Marxismus gesagt. Von einer politischen Niederlage in die nächste torkelnd, bewahrte er sich ein kritisches Potential, eine Lebendigkeit, Offenheit und Humanität, die seinem Zwillingsbruder, dem Sowjet-Marxismus, bei dessen Vorwärtsstürmen abhanden kam.7
Neben dem Niederlagendenken der Verlierer begegnen wir dem der unbetroffenen Dritten. Zu dieser Gruppe zählt auch, ja vor allem, die Minderheit in der Siegernation, die die Gefahr der Hybris erkennt. Bekanntestes Beispiel: Nietzsches Mahnung 1871, ein großer Sieg bedeute eine große Gefahr und der Triumph des Deutschen Reiches sei die Niederlage des deutschen Geistes. Mit der Rolle schließlich, die Arnold Toynbee der Niederlage als einem die Energien der Nationen mobilisierenden Element zuerkennt, kommen wir zurück zu ihrer allgemeinsten Definition. In seinem Schema von »Herausforderung und Antwort« (challenge and response), welches geschichtliches Handeln in Bewegung setze, funktioniert die Niederlage als »Anreiz durch die Katastrophe« (stimulus of blows).8
Wie die Asche zum Feuer, gehört die Niederlage zum Krieg. Die Fundamentalerfahrung, die sie mit ihm teilt, oder vielmehr, die sie über das Kriegsende hinaus fortsetzt, ist die der Todesdrohung. In den prähistorischen Stammesfehden und noch bis in die Antike und ins Mittelalter hinein erstreckte sie sich auf alle Angehörigen der Verliererseite.9 Der gehegte Krieg des 18. und 19. Jahrhunderts grenzte sie ein auf die unmittelbar am militärischen Geschehen Beteiligten. In den Flächenbombardierungen des totalen Kriegs im 20. Jahrhundert erstreckte sie sich erneut auf alle. Nur zwei Jahrhunderte lang (wenn man das Ende des Zeitalters der Kabinettskriege mit 1792 datiert, sogar nur ein Jahrhundert) wurden Kriege und Niederlagen wie Aktenvorgänge geführt, von professionellen Militärapparaten, ohne Anteilnahme und ohne reale oder imaginierte Todesbedrohung der Bevölkerung. Das 19. Jahrhundert setzte diese junge Tradition zwar fort, doch...