Es war keine Debatte, es war keine Kontroverse, was 1969 in Amerika losbrach, es war ein Eklat. Der Anlass war unscheinbar: ein trockener wissenschaftlicher Aufsatz voller Zahlen, Formeln und Tabellen, geschrieben von einem angesehenen, denkbar unpolemischen, unpolitischen Erziehungspsychologen der Universität von Kalifornien (Berkeley), Arthur Jensen, veröffentlicht in der vornehm-reservierten Harvard Educational Review.1 Allerdings, stellte er schon im Titel eine Frage, die vielen Pädagogen und Psychologen auf den Nägeln brannte, nachdem jahrelang viel Mühe, Optimismus und Geld für Förderprogramme aufgewendet worden war, die die kognitiven Leistungen amerikanischer Schüler verbessern sollten: «Wie stark lassen sich IQ und Schulleistung steigern?» Er gab auch gleich eine Antwort: So gut wie gar nicht, denn Unterschiede im IQ, dem Intelligenzquotienten, seien zu einem Großteil erblich, und pädagogische Maßnahmen könnten gegen einen niedrigen IQ nur wenig ausrichten.
Jensen hatte diese Antwort nicht aus der Luft gegriffen, und eigentlich hätte sie niemanden überraschen sollen. Zwei Jahre vorher war die Bürgerrechtskommission der USA zu dem vernichtenden Schluss gekommen: «Die Analyse der Kommission behauptet nicht, dass kompensatorische Fördermaßnahmen prinzipiell untauglich seien, die Auswirkungen der Armut auf die Schulleistungen bei einzelnen Kindern aufzuheben … Es ist jedoch eine Tatsache, dass keins der untersuchten Programme die Schulleistungen insgesamt nennenswert erhöht hat.» Und dass die Erblichkeit des IQ 80 bis 85 Prozent betrage, war schon seit einigen Auflagen in der Encyclopædia Britannica nachzulesen gewesen und hatte dort niemanden aufgeregt. («Erblichkeit» ist ein technischer Ausdruck der Verhaltensgenetik, der angibt, in welchem Maß die bei einem bestimmten Merkmal gemessenen individuellen Unterschiede auf Unterschiede im Erbgut zurückgehen; Näheres dazu in Kapitel 7.) Eigentlich sagte Jensens Aufsatz also nichts Neues.
Indem er die beiden Befunde kombinierte, traf Jensen jedoch einen neuralgischen Punkt. In den Jahrzehnten zuvor hatte sich in Amerika der Behaviorismus zur dominierenden psychologisch-pädagogischen Theorie oder besser Ideologie ausgewachsen. Er interessierte sich fast ausschließlich für das Lernen und seine Gesetze. Dass der Mensch nicht alles lernen kann und nicht alles gleich gut, interessierte ihn wenig; dass er einiges schon von Natur aus mitbringt und nicht erst lernen muss, vergaß, verdrängte und verleugnete er. Der Mensch, das Wesen mit dem anfangs leeren, aber unbegrenzt plastischen Gehirn, einer immerhin von Natur aus lernwilligen Tabula rasa, das durch seine Erziehung, seine Lebenserfahrungen lernt und geformt wird – dieses Credo hatte der Begründer des Behaviorismus, James B. Watson, in seiner berühmten und aus heutiger Sicht lächerlich großsprecherischen Herausforderung ausgedrückt: «Man gebe mir ein Dutzend gesunder, wohlgestalter Kleinkinder und meine eigene spezielle Welt, in der ich sie aufwachsen lasse, und ich garantiere, dass ich aufs Geratewohl jedes beliebige von ihnen zu jeder Art von Spezialist erziehen kann – Arzt, Anwalt, Künstler, Kaufmann und Dieb und, ja, auch Bettler und Dieb, ungeachtet seiner Talente, Neigungen, Vorlieben, Fähigkeiten, Berufsinteressen und der Rasse seiner Vorfahren.»2
Es war die hochgemute, bisweilen militante Doktrin von der Allmacht der Erziehung («Jeder kann alles lernen!»), und ihr notwendiges Korrelat war das Vertrauen, dass die Menschen von Natur aus gleich seien oder sich die Erziehung jedenfalls über etwaige Ungleichheiten hinwegsetzen könne. Oder wie es der britische Pädagoge Brian Simon unter Berufung auf Marx und Engels ausdrückte: «Der Mensch erschafft sich buchstäblich selbst. Er hat sich selbst erschaffen, indem er aktiv seine Lebensumstände verändert hat – durch gesellschaftliche Arbeit. Das unterscheidet den Menschen von der Welt der Tiere, und daraus folgt, dass für die Herausbildung des Menschen andere Gesetze als die rein biologischen gelten … Es ist darum klar, dass nicht die Vererbung der Schlüssel zur menschlichen Entwicklung ist, sondern die Erziehung.»3
Kurz, man war bei einigen der letzten Fragen und damit in den Sphären des Glaubens angelangt: Wie gleich können und sollen die Menschen sein? Was ist Gerechtigkeit? Irgendwie hatte sich die alte Überzeugung, dass es auf beides ankomme, Erbe und Umwelt, in den 1960er Jahren verflüchtigt. Wie eines der wenigen fairen Bücher über die damalige IQ-Kontroverse feststellte: «Die neue Welle der frühen 60er Jahre brachte nicht nur eine Betonung der Umwelt. Irgendwo entlang des Weges gerieten genetische Faktoren in Vergessenheit. Der lange bestehende psychologische Konsens, dass Gene eine große Rolle bei den individuellen Intelligenzunterschieden spielen, war zusammengebrochen. Niemand schien rundheraus abzustreiten, dass sie für die Intelligenz von Bedeutung sind, doch um das Thema entstand geradezu eine Verschwörung des Schweigens, als Psychologen und Pädagogen zu dankbaren Empfängern der staatlichen Dollarmillionen wurden, die dazu bestimmt waren, den IQ der Unterprivilegierten anzuheben.»4
Jensens Aufsatz traf die Verfechter der Allmacht der Erziehung tief. Er rechnete ihnen vor, dass die mit so viel Idealismus und öffentlichen Geldern unternommenen Förderanstrengungen der vorangegangenen Jahre nichts gefruchtet hatten, dass die Erziehung keineswegs so allmächtig war wie geglaubt. Das schmerzte. Plötzlich befand man sich mitten in der seit Jahrzehnten schwelenden Kontroverse Nature vs. Nurture (die elegante Formel stammt von Shakespeare und wurde von Sir Francis Galton in ihrem modernen Sinn aufgenommen) – Erbe gegen Umwelt, Natur gegen Kultur, Gene gegen Erziehung, Nativisten gegen Kulturdeterministen.
Von Anfang an war es eine asymmetrische Kontroverse. Die Nativisten hielten es immer für selbstverständlich, dass der Mensch das Produkt von beidem sei, Erbe und Umwelt, und wollten nur das relative Gewicht beider Faktoren ausloten; die Kulturdeterministen dagegen hielten in der Regel jede Berücksichtigung der Gene für verfehlt, überflüssig und politisch gefährlich. Daran hat sich bis heute wenig geändert.
Trotzdem hätte sich die Aufregung über Jensens Aufsatz wahrscheinlich in Grenzen gehalten, hätte er nicht auch noch ein zweites Thema in sein Resümee einbezogen: Gruppenunterschiede im IQ, genauer: den durchschnittlich niedrigeren IQ der afroamerikanischen Bevölkerung. Dass er ein Faktum war, muss zumindest den Testexperten seit langem bekannt gewesen sein; wenige Jahre zuvor hatten mehrere Metaanalysen, unter anderen ein dickes, berüchtigtes Buch der Psychologieprofessorin Audrey M. Shuey5, alles auffindbare Material (200 Studien) gesichtet und waren zu dem Schluss gekommen, dass der Durchschnitts-IQ der Schwarzen von 1910 bis in die 1960er Jahre unverändert 15 Punkte niedriger lag als der der nichtschwarzen Bevölkerung. Ein gleichzeitiger Bericht des amerikanischen Erziehungsministeriums hatte das bestätigt.6 Neue Erkenntnisse, die dazu genötigt hätten, das Thema wieder auf den Tisch zu bringen, gab es jedoch nicht.
Aber selbst die abermalige Feststellung des Bekannten wäre vielleicht noch hingenommen worden, obwohl sie auf dem Höhepunkt der schwarzen Bürgerrechtskämpfe (1968 war Martin Luther King ermordet worden) politisch eine Unklugheit sondergleichen war. Was die Sache jedoch zur Explosion brachte, war Jensens Vermutung, jener schwarze IQ-Rückstand könne außer sozialen auch genetische Gründe haben: «Meines Wissens bezweifelt niemand die Rolle, die Umweltfaktoren, eingeschlossen solche aus der Geschichte, bei der Bestimmung zumindest eines Teils der Unterschiede zwischen rassischen Gruppen spielen [in Amerika damals wie heute der normale Begriff für ‹ethnische Gruppen›] … Angesichts der Tatsache aber, dass individuelle Intelligenzunterschiede eine beträchtliche genetische Komponente haben, ist die Vermutung nicht unvernünftig, dass diese auch zu dem Bild [der Gruppendifferenzen] beiträgt.»7
Es war nur eine Mutmaßung, ein Verdacht – eine nicht weiter untermauerte Hypothese, die bis heute nicht bewiesen wurde (aber auch nicht widerlegt) und die möglicherweise prinzipiell unbeweisbar ist. Aber mit ihr schien für viele der ganze Fall klar: Jensen musste nicht nur ein «Biologist» sein, was schon schlimm genug war, sondern auch ein «Rassist» und somit quasi ein «Nazi». Er hatte mit ihr die Verhaltensgenetik, vom herrschenden Kulturdeterminismus sowieso schon lange ignoriert oder misstrauisch beäugt, vollends in Verruf gebracht. Offen pflichteten Jensen nur wenige Kollegen bei, vor allem Richard B. Herrnstein in Harvard und Hans Jürgen Eysenck in London. Herrnstein war derjenige, der die Debatte ins Soziale wendete, indem er Jensens Thesen den lästigen, aber leider unwiderlegbaren «Herrnstein-Syllogismus» hinzufügte: «(1) Wenn die hinsichtlich der Geistesfähigkeiten bestehenden Unterschiede vererbt werden und (2) der Erfolg diese Fähigkeiten voraussetzt, (3) Einkommen und Berufsprestige aber vom Erfolg abhängen, (4) beruht die soziale Stellung (die Einkommen und Prestige widerspiegelt) bis zu einem gewissen Grad auf erbbedingten Unterschieden zwischen den Menschen.»8
Die Professoren, die sich als Parteigänger Jensens geoutet hatten, wurden prompt mit Schmähartikeln in der Presse, Flugblättern und Plakaten überschüttet. Graffiti erschienen an den Wänden von Berkeley. Sie...