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Die Band Ton Steine Scherben: Subpolitiker einer Gegenkultur?

AutorFlorian Kreier
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl130 Seiten
ISBN9783656182092
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Soziologie - Medien, Kunst, Musik, Note: 1,7, Ludwig-Maximilians-Universität München (Geschwister Scholl Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Wie konnte die politische Arbeit von TON STEINE SCHERBEN aussehen? Wieso verbreiteten sich ihre radikalen, schlagwortartigen Parolen blitzartig durch den deutschsprachigen Raum? Wie traten sie wofür ein, mit welchen Inhalten, Zielen und Methoden? Aus welchem Grund stieg die Band abseits klassisch-wirtschaftlicher Strukturen in kürzester Zeit zu einer der bekanntesten westdeutschen Gruppen auf - ohne Plattenlabel oder Vermarktungsstrategie? Woher stammte überhaupt die Idee oder der Glaube daran, mit Musik Politik machen zu können? Politik für oder gegen welche politischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Ansichten und Gruppen - und vor allem weshalb? Diese Fragen sollen in der vorliegenden Arbeit beantwortet werden. Eine grundlegende These ist dabei, dass Ton Steine Scherben maßgeblich von den Ansichten, Formen und Auswirkungen der 68-Kulturrevolution beeinflusst waren. In einem theoretischen Teil werden dazu verschiedene Theorie- und Analysemodelle der Bereiche Kultur, Sub- und Gegenkultur betrachtet, um Ton Steine Scherben und ihr Verhältnis zur gegenkulturellen 68-Bewegung gesellschaftlich, sozial und kulturell einordnen zu können. Der von Ulrich Beck entwickelte Begriff der Subpolitik soll anschließend eine politische Analyse des Phänomens in Ausrichtung, Wirkung und historischem Zusammenhang ermöglichen. Daraufhin wird zuerst das historische Setting betrachtet, in dem die gegenkulturelle Bewegung als Subkultur und daraufhin die Gegenkultur entstanden. Weiter werden die Hauptaspekte und -komponenten der gegenkulturellen Bewegung sowie der Gegenkultur ausgeführt und anschließend analysiert. Auf Grundlage dessen wird die Entstehung, Entwicklung und Ausrichtung von Ton Steine Scherben dargelegt und nach gegenkulturellen Aspekten analysiert - im Anschluss auch die Gründe für die inhaltliche Veränderung der Band und ihrer Flucht aus der West-Berliner Gegengesellschaft. Die Zusammensetzung dieses in vielerlei Hinsicht extremen Milieus wird ebenfalls betrachtet, sowie die Interkation der Band mit dieser Gegengesellschaft. Eine weitere These ist dabei, dass Ton Steine Scherben von einer allgemeinen Radikalisierung erfasst wurden, die sich in West-Berlin aufgrund regionaler und kultureller Besonderheiten besonders ausgeprägt zur Gegengesellschaft verstetigte und als dessen Sprachrohr und subpolitisch-aktive Vertreter die Band fungierte.

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Leseprobe

2 Zum Begriff der Kultur

 

Der Begriff Kultur leitet sich ursprünglich ab aus dem lateinischen Verb „colere (1. Bebauen, bearbeiten, 2. Bewohnen, 3. Sorge tragen, pflegen, 4. Verehren), dessen Partizip Perfekt Passiv cultus eine höhere Lebensweise sowie eine aktive Gepflegtheit bezeichnet und dessen Substantiv cultura Bearbeitung, Anbau, Veredelung, Ausbildung und Huldigung bedeuten kann.“[5] Über den Umweg der Pflege und Bearbeitung des Ackers verlagert sich der Begriff auf die Kultivierung des Menschen selbst, durch die er sich von Tieren und Barbaren unterscheidet.[6] Johann Gottfried Herder ergänzte diese normative Aufladung des Begriffs um einen totalitätsorientierten Kulturbegriff. Anstatt die eigene Kultur als Maß der Dinge im Gegensatz zu (allen) fremden oder unbekannten Unkulturen zu verstehen, fasst Herders Begriff der Kultur alle kulturspezifischen und historischen Lebensformen eines Kollektivs.[7] In der Fortführung dieses Ansatzes wird der Begriff der Kultur in der vorliegenden Arbeit verwendet. In diesem Sinne verstanden, unterscheidet sich der Begriff Kultur von der alltagssprachlichen Bezeichnung von Kunst und Dichtung, oder auch vom sogenannten deutschen Kulturpessimismus, der Kultur als einfaches und natürliches Leben und Gegenstück zur zivilisatorischen Entfremdung des Menschen versteht[8]. Wie alle Begriffe hat der Begriff der Kultur keine exakte und unabänderliche Bedeutung. Dementsprechend existieren zahlreiche unterschiedliche Interpretationen und Ansätze den Begriff zu fassen und zu füllen. In den folgenden Ausführungen wird deshalb der Begriff für die Zwecke der vorliegenden Arbeit Kultur eingegrenzt und die Anwendung der Begrifflichkeiten erklärt.

 

2.1 Kultur und Gesellschaft

 

Gesellschaft ist ohne kulturelle Tradition nicht denkbar[9], denn sie konstituiert sich auf formelle und informelle Normen, Werte, Regeln, Traditionen und Interpretationen der Realität, welche von ihrer Trägerschaft ständig (direkt, indirekt oder darauf Bezug nehmend) praktiziert und so nach außen kommuniziert werden. „Gesellschaft bezeichnet im weitesten Sinne eine Gruppe, die sich als Fortpflanzungsgemeinschaft oder als politische Einheit organisiert. Der Terminus sozial bezieht sich dann auf menschliche Organisationsformen, Verhaltensweisen und menschliches Handeln. Die zugrundeliegenden Regeln für Verhalten und Organisation können mit dem Terminus kulturell bezeichnet werden.“[10] Nach diesem Gesellschaftsverständnis bezeichnet der Begriff nicht notwendig große Volksgesellschaften, sondern lässt auch die Möglichkeit für kleinere Organisationsformen, auch innerhalb anderer größerer Gruppen und Zusammenschlüsse. Daraus lässt sich schließen, dass alle Formen von Kollektiven eigene Verhaltensmuster, Werte- und Normenstrukturen und Interpretationen aufweisen, welche sie von anderen Gesellschaften, Gruppen und Kollektiven unterscheiden. Die Summe aus diesen Eigenschaften und -arten kann mit dem Begriff Kultur bezeichnet werden. Eher auf die Entstehung von kulturellen Mustern und Praktiken ausgerichtet ist dahingegen das Verständnis von Kultur „als die durch Menschen konstruierte Realität“[11], die jedoch den Vorteil bietet, auch die kulturellen Praktiken, Eigenheiten und Auswüchse kurzfristig und lose entstehender Gruppen zu betrachten.

 

2.2 Aspekte des Kulturbegriffs

 

Grundsätzlich stimmt die Mehrzahl aller Auffassungen von Kultur in einigen zentralen Merkmalen überein. So wird Kultur als essentiell für das menschliche Wesen im Gegensatz zu Tieren betrachtet. Kultur ist zudem keine biologische Tatsache, sondern wird zwischen Menschen vermittelt, sozialisiert oder tradiert. Kultur als Sammelbegriff aller miteinander in Verbindungen stehender Einzelaspekte einer Trägergruppe setzt sich zusammen aus materiellen (z.B. Körper, Artefakte, Kleidung, Architektur), sprachlichen, sozialen und ideellen (z.B. Wissen, Symbole, Glauben, Normen, Ästhetik) Tatsachen.[12] Neben der Bezeichnung von Kultur als Überbegriff für gesamtkulturelle Phänomene, also der Summe aller Einzelaspekte einer kulturellen Trägergruppe, existieren auch für eigenständige Bereiche kulturelle Begriffe, beispielsweise im Fall der Politischen Kultur. Zudem haben einzelne Aspekte in einer Kultur unterschiedliche Gewichtung, je nach Interpretation, Ausgangspunkt und betrachtetem Phänomen. Der Blick auf eine Kultur enthält in diesem Verständnis immer auch den direkten und indirekten Blick auf eine gesellschaftliche Trägergruppe mit ihrem historischen Umfeld. Moderne Großgesellschaften sind bekanntlich pluralistisch,  vereinen viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und demnach auch viele unterschiedliche Kulturen. Der Soziologe Bühl[13] sieht innerhalb Gesellschaften und Kulturkreisen einen ständigen praktisch-experimentellen Diskurs unterschiedlicher Ordnungs- und Deutungsprinzipien. In Interaktion mit einer dominanten Kultur pendeln zahlreiche Alternativ-Entwürfe durch Sub- und Gegenkulturen zwischen den Extremen Rückzug und Aggression, Vergeistigung und Sinnesrausch. Er schlussfolgert, es gäbe grundsätzlich keine Kultur ohne Gegenkultur.  Diese formieren sich, sobald die dominante Kultur nicht mehr verarbeiten und sinnvoll interpretieren kann und „eine große Zahl der individuellen Karrieren nicht mehr nach den alten Ordnungsprinzipien miteinander synchronisiert werden kann.“[14] In diesem Verständnis interpretiert der Soziologe Mike Brake Kultur als „voneinander abgeschottete und ineinander überfließende Sphären“[15] und rät auch davon ab, diese als homogen zu betrachten.

 

2.3 Zum Verhältnis von Kultur und Subkultur

 

Im Essay Die Idee der Subkultur sieht Fritz Sack den Grund für die Entstehung des Begriffs Kultur in der „Konfrontation des westlich-abendländischen Menschen mit Verhaltensweisen, Sitten, Bräuchen“[16], die seinen eigenen Vorstellungen fremd waren und darum Unsicherheit oder Angst provozierten. Zu dieser intergesellschaftlichen Problematik zeichnet Sack eine intragesellschaftliche Analogie: der Entstehung der Subkultur nach derselben – jedoch innergesellschaftlichen – Systematik. Christa Wienkoop gibt einen Überblick über unterschiedliche Aspekte und Verständnisse von Kultur[17], sowie den Zusammenhang zwischen Kultur, Sub- und Teilkulturen. Sie sieht in Subkulturen eine Differenzierung zu einem kulturellen Ganzen, „dessen Systemcharakter und dessen einheitlich-charakteristische Prägung auf alle Einzelelemente und Neuerungen eine assimilierende Wirkung ausüben.“[18] Der österreichische Soziologe Girtler führt zur Frage nach dem Ursprung von Kultur eine einfache und offene Definition an: „Wo immer eine Gruppe von Menschen ein Stück gemeinsamen Lebens geht, sie miteinander Schwierigkeiten meistert und vielleicht gemeinsame Feinde hat, da erwächst Kultur.“[19]

 

In ihrem Buch Culture grenzten die amerikanischen Soziologen Croeber und Kluckhohn bereits 1952 insgesamt 175 unterschiedliche Definitionen des Kulturbegriffs von einander ab[20] – darüber, was Kultur ist und was Kultur nicht ist, scheint Unklarheit zu bestehen, ähnlich wie im Fall der genauen Bedeutung des Begriffs Subkultur. Roger Behrens bringt die grundlegenden Problematiken auf den Punkt:

 

„Der Begriff der Subkultur gehört zu jenen, die um so ferner rücken, je näher sich ihnen zugewandt wird. Sind gemeinhin die Definitionsbestimmungen dessen, was überhaupt Kultur zu nennen ist, schon Resultate von reduzierenden Auslassungen oder relativierenden Überdehnungen des Begriffs, so ist leicht einsehbar, um wieviel größer die Schwierigkeiten werden, wenn zudem noch eine Schicht unterhalb des einmal als Kultur Bestimmten vermutet wird.“[21]

 

Der Anthropologe René König bemerkt hierzu: „Es gibt in Wahrheit so viele kulturelle Unterschiede in einer Gesellschaft, zwischen ihren Teilen, dass sie unter Umständen größer sind als zwischen verschiedenen Kulturen.“[22] Demnach kann offensichtlich kaum von einer homogenen dominanten Kultur, sondern eher von einer Vielzahl unterschiedlicher (Teil-) Kulturen gesprochen werden. Nach Wienkoop sind Gesellschaft und Kultur (sowie Mensch und Kultur) untrennbar miteinander verwoben und konstituieren und tragen sich so gegenseitig[23], dabei besteht auch eine ständige Kommunikation zwischen unterschiedlichen Kulturen, Sub- und Gegenkulturen. Für Friedrich Tenbruck liefert die auf diese Weise immer neue Entstehung von Veränderungen und Bewegungen den Beweis für die schöpferische Fähigkeit und moderne Dynamik der Kultur. Einzelne Intellektuelle und soziale Gruppen erfinden, verbreiten und übernehmen Ideen außerhalb einer bis dahin repräsentativen Kultur und entwickeln diese damit weiter. Aus dieser Dynamik entstehen in einem ständigen Prozess neue Interpretations-, Lebens- und Kunstformen. „Die Gegenkultur der Protest-, Kommunen-...

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