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E-Book

Maos letzter Tänzer

Vom chinesischen Bauernjungen zum gefeierten Ballettstar

AutorLi Cunxin
Verlagmvg Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl350 Seiten
ISBN9783864152900
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Maos letzter Tänzer ist die autobiografische Geschichte des jungen Chinesen Li Cunxin, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt und Anfang der 70er-Jahre völlig überraschend für die renommierteste Ballettschule des Landes, Madame Maos Ballettakademie, ausgewählt wird. In Peking erhält er eine klassische Ballettausbildung. Inspiriert von einem Lehrer, begeistert sich Cunxin immer mehr für den Tanz und gelangt schließlich zu Weltruhm. Als er in Amerika die Tänzerin Elizabeth heiratet, kommt es jedoch zu politischen Verwicklungen mit der fatalen Konsequenz, dass er seine Heimat zunächst nicht mehr besuchen darf. Dieses Buch schildert eindringlich und bildgewaltig das karge Leben im kommunistischen China, in dem jeder Tag ein Kampf ums Überleben ist, die harten Jahre der Ballettausbildung, das Heimweh des kleinen Jungen und seine Leidenschaft für den Tanz. Die beeindruckende Lebensgeschichte eines Ausnahmetalents, die nicht nur Tänzer begeistern wird.

LI CUNXIN wurde 1961 in der Provinz Shandong im Nordosten Chinas als sechster von sieben Söhnen einer Bauernfamilie geboren. Sein ärmliches Leben im kommunistischen China sollte sich dramatisch ändern, als er mit elf Jahren für die renommierte Pekinger Balletakademie ausgewählt wurde. Nach einem Sommer in Amerika beschloss er, dort zu leben und für das Houston Ballet zu tanzen. Er avancierte zu einem der besten Tänzer der Welt. Heute arbeitet Cunxin als Senior Manager für eine der größten Börsenfirmen in Australien. Zudem ist er ein berühmter Motivationsredner. 2009 wurde er zum »Australian Father of the Year« gekürt. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Melbourne.

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Leseprobe

Eine Hochzeit


Tsingtau, 1946


Am Tag ihrer Hochzeit sitzt die achtzehnjährige Reiqing alleine zu Hause und wartet. Es ist ein strahlender Oktobermorgen, die Landluft ist kühl und frisch. Sie hört, wie fröhliche Musik sich ihrem Haus nähert, aber sie ist angespannt. Die Hochzeit wurde, wie es Brauch ist, von Heiratsvermittlern arrangiert. Heute wird die Braut ihrem Bräutigam zum ersten Mal begegnen. Sie fragt sich, ob ihr künftiger Ehemann womöglich unfreundlich ist und sie nicht mag. Aber am meisten Sorgen macht sie sich über ihre ungebundenen Füße. Denn gebundene Füße gelten immer noch als Schönheitsideal. Im Alter von fünf oder sechs Jahren müssen kleine Mädchen damit beginnen, sich ihre vier restlichen Zehen unter den großen Zeh zu klemmen und sie fest zusammenzuschnüren, damit sie nicht weiterwachsen. Je fester die Füße gebunden werden, umso kleiner bleiben sie. Die Mädchen sind schließlich so verstümmelt, dass sie sich nur noch auf den Fersen fortbewegen können. Als Reiqings Mutter ihr damals die Füße binden wollte, wehrte sie sich und rannte davon. Aber was werden ihr künftiger Mann und seine Familie wohl zu ihren ungebundenen Füßen sagen?

Der Bräutigam ist einundzwanzig Jahre alt. Er verlässt das Haus noch vor Sonnenaufgang. Kräftige Männer stehen bereit, um zwei Sänften von seinem Dorf zu dem seiner Braut zu tragen. Sie werden von Musikern begleitet, die Trompeten, Zimbeln, Gongs und Bambusflöten spielen. Der Stuhl der Braut ist mit roten und rosafarbenen Seidenwimpeln und Blumen geschmückt. Der des Bräutigams ist in schlichtem Blau gehalten.

Als der Bräutigam eintrifft, ist Reiqing beinahe außer sich vor Angst. Er trägt ein dunkelblaues Gewand aus Baumwolle und einen hohen Hut. Seidenblumen sind an seine Brust geheftet, direkt über dem Herzen. Er kniet nieder, verbeugt sich dreimal und berührt mit seinem Kopf den Boden – gen Norden, in die Richtung des Glücksgottes.

Dann werden Tee, Konfekt, geröstete Sonnenblumenkerne und Erdnüsse gereicht und anschließend ein Festmahl abgehalten. Die Kosten dafür übersteigen bei Weitem die Mittel, über die die Familie der Braut verfügt. Deshalb müssen viele Verwandte und Freunde finanziell etwas beisteuern. Doch dafür wird Reiqings Familie den zahlreichen Gönnern über viele Jahre hinweg nicht nur ihr Geld zurückzahlen, sondern auch unzählige Gefälligkeiten erweisen müssen.

Während sich die Familie des Bräutigams stärkt, sitzt die Braut in gebührendem Abstand auf ihrem Bett, dem Kang. Ein Seidenschleier verbirgt ihr Gesicht. Dies nennt sich »stilles Sitzen«. Sie trägt ein langes dunkelrotes Gewand, das mit rosafarbenen Seidenblumen bestickt ist. Sie hat keinen Schmuck; ihre Familie kann sich einen solchen Luxus nicht leisten.

Gegen Ende der Mahlzeit bringt die Brautmutter ihrer Tochter eine Schale Reis, einen beidseitigen Handspiegel und zehn Paar rot lackierte Essstäbchen. Die Braut muss drei Bissen Reis zu sich nehmen und die letzte Portion in die Tasche ihrer Mutter spucken.

Als Zeichen dafür, dass sie auf ihrem weiteren Lebensweg niemals Hunger leiden wird, wird sie auf dem ganzen Weg bis zum Haus ihrer Schwiegereltern etwas Reis im Mund behalten müssen. Dann steckt sie acht Paar Essstäbchen in die Tasche ihrer Mutter. Die verbleibenden zwei Paar, die mit Kastanien und Datteln geschmückt sind, behält sie. Diese stehen für die baldige Geburt von Söhnen.

Die Braut zittert am ganzen Leib. Tränen strömen über ihr Gesicht. Bald wird sie Ehefrau und Schwiegertochter sein und einer fremden Familie angehören.

»Dummes Kind«, schimpft ihre Mutter. »Hör auf zu weinen! Du kommst in eine Familie, in der es genug zu essen gibt. Willst du für den Rest deines Lebens Hunger leiden?« Sie wischt die Tränen ihrer Tochter behutsam weg und nimmt sie in den Arm. »Ich werde dich immer vermissen und lieben. Kümmere dich gut um deinen Mann, und er wird gut zu dir sein. Sei folgsam, und mache ihn glücklich. Schenke ihm viele Söhne, und achte deine Schwiegermutter.« Sie senkt den Schleier, verhüllt das Gesicht ihrer Tochter wieder und verlässt sie schweren Herzens.

Auf der ersten Hälfte ihrer Reise ins Dorf ihres Bräutigams schluchzt die Braut still vor sich hin. Sie ist noch nie von zu Hause fort gewesen. Sobald sie den halben Weg zurückgelegt haben, ruft einer der Träger: »Dreh deinen Spiegel um!« Sie nimmt den Handspiegel, den man ihr zuvor gegeben hat, und wendet ihn: Mit diesem symbolischen Akt soll sie ihre Vergangenheit besiegeln und in eine neue Zukunft blicken. Die Musiker spielen weiter fröhliche Musik, während die Träger ihren Weg auf der holprigen Landstraße fortsetzen.

Schließlich erreichen sie das Tor zum Anwesen des Bräutigams. In der Mitte des Innenhofs steht ein Tisch, auf ihm lodert ein Feuer in einer Metallschale. Der Bräutigam steigt aus seiner Sänfte und wartet auf seine Braut. Sie ist noch immer verschleiert, zwei seiner Schwestern müssen ihr beim Aufstehen helfen. Gemeinsam schreiten sie zu dem Tisch, während ein Dorfweiser ein altes Gedicht vorträgt. Nur wenige Anwesende verstehen seine Worte, weil kaum jemand eine Schule besucht hat. Braut und Bräutigam knien auf Bambusmatten nieder und verbeugen sich voreinander. Der Bräutigam nimmt die Hände seiner Braut und hilft ihr auf. Sie kann die Flammen nicht sehen, die in der Schüssel flackern, doch spürt sie die Hitze, die das Feuer der Leidenschaft, das Feuer der Liebe symbolisieren soll.

Bevor die Braut ihre ersten gemeinsamen Schritte mit ihrem Mann macht, fährt der vierte Bruder des Bräutigams vorsichtig mit einem Bügeleisen, das mit glühenden Holzkohlen gefüllt ist, über die Sohlen ihres Schuhwerks, um ihren Körper von den Füßen bis zum Herzen zu wärmen. Von ihrem Ehemann geführt, schreitet sie langsam zur Haustür, wo ihnen ein Sattel den Weg versperrt. Er steht für die harten Zeiten, die sie gemeinsam durchstehen müssen. Über diesen steigen sie nun gemeinsam hinweg. Durch ihren Schleier kann Reiqing nichts sehen, und sie befürchtet, sie könne stolpern. Aber ihr Ehemann drückt sachte ihre Hand. »Halt. Jetzt den Fuß heben«, flüstert er. Sie hebt ihr Gewand bis zu den Knien und steigt sicher über den Sattel. Aber sogleich fühlt sie sich ertappt. Sie hat der ganzen Welt ihre ungebundenen Füße gezeigt! Die Familie ihres Mannes wird sicher entrüstet sein.

Ihr Ehemann spürt ihr Zögern. »Gehen wir zum Kang«, sagt er sanft.

Auf einer Ecke des Ofenbetts steht eine dreieckige Holzkiste. Darin befinden sich verschiedene Getreidesorten: Weizen, Mais, Reis, Hirse … sie stehen für die Hoffnung, das frisch vermählte Paar möge sein ganzes Leben lang stets genug zu essen haben.

Zuerst reicht die Braut ihrem Ehemann ein rotes Taschentuch, das ihr ihre Mutter mitgegeben hat. Er legt es in die Kiste. Dann reicht sie ihm die mit Kastanien und Datteln geschmückten Essstäbchen, die er senkrecht in das Getreide spießt.

Der Bräutigam sagt sanft: »Bu yao pa, wu bu hui shang ni.« – Fürchte dich nicht. Ich werde dir nichts tun.

Den ganzen Tag hat sich die Braut danach gesehnt, ihren Schleier endlich lüften zu dürfen. Nun, da es so weit ist, scheut sie davor zurück. Vielleicht findet ihr Mann sie abstoßend. Nervös hebt sie ihren Schleier. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehen sie sich an. Die Braut findet ihren Mann gut aussehend. Er hat etwas Ehrliches und Demütiges an sich; es ist Liebe auf den ersten Blick.

Der Bräutigam, Li Tingfan, ist von der Schönheit seiner Braut überwältigt. Sie sitzen nebeneinander, bis ihre »Weitet euer Herz«-Nudeln aufgetischt werden, die die gegenseitige Annahme ihres Schicksals und ihrer Schwächen symbolisieren. Dann folgt der »Wärmt euer Herz«-Reiswein, den sie mit verschlungenen Armen aus der Schale des jeweils anderen trinken.

Die Brüder des Bräutigams, ihre Ehefrauen und seine Schwestern treten nacheinander vor, um den Frischvermählten ein glückliches Leben zu wünschen. Die jüngste Schwester des Bräutigams, die etwa so alt ist wie Reiqing, flüstert: »Ich bin ja so froh, dass du große Füße hast! Ich habe nämlich auch welche!« Sie zwinkert ihrer neuen Schwägerin zu und wirbelt kichernd aus dem Zimmer. Reiqing ist überglücklich.

Der Bräutigam wird zum Festessen gerufen, während die Braut mit dem traditionellen »Zeit absitzen« beginnt. Drei Tage muss sie aufrecht im Lotussitz verbringen und von morgens bis abends in dieser Position verharren. In diesen drei Tagen kommen viele Verwandte, Freunde und Nachbarn zu Besuch. Am ersten Abend findet der Brauch des »Chaosstiftens« statt, bei dem die Frischvermählten viele Streiche und Scherze über sich ergehen lassen müssen, vor allem die Braut.

Schon am vierten Tag besucht die Braut zusammen mit ihrem Ehemann ihre Familie. Ihre Eltern mögen ihren neuen Schwiegersohn und freuen sich für ihre Tochter. »Sei dankbar für das, was du hast«, sagt ihre Mutter. »Sieh nicht zurück. Du gehörst jetzt zur Familie Li.«

Reiqing weiß, dass ihre Mutter recht hat. Als sie hinten in den Wagen steigt und zum letzten Mal auf ihr Heimatdorf zurückblickt, vergießt sie keine einzige Träne mehr. Sie weiß, dass sie jetzt nicht mehr Teil ihrer elterlichen Familie ist. Nicht nur ihr Name, sondern auch ihr Lebensmittelpunkt haben sich für immer verändert. Und sie begreift: Ihr Schicksal liegt vor ihr.

So begann das gemeinsame Leben dieses jungen Ehepaares, meiner Eltern, in Tsingtau im Jahre 1946. Meine Mutter blickte auf ihren starken Ehemann, der vorne im...

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