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Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters

AutorJohann Gottlieb Fichte
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl252 Seiten
ISBN9783847809814
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Herausgegeben von I. H. Fichte, Band 1-8, Berlin: Veit & Comp., 1845/1846. Der Text basiert auf der Niederschrift einer 1804/05 in Berlin gehaltenen Vorlesung. Erstdruck: Berlin (Realschulbuchhandlung) 1806. Das annotierte Inhaltsverzeichnis wurde aufgelöst und den einzelnen Vorlesungen vorangestellt.

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Leseprobe

Erste Vorlesung


[Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit sey der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte; wodurch dieses Leben in fünf Hauptepochen zerfalle.]

 

Ehrwürdige Versammlung!

 

Wir heben hiermit an eine Reihe von Betrachtungen welche jedoch im Grunde nur einen einzigen, durch sich selbst eine organische Einheit ausmachenden Gedanken ausdrücken. Könnte ich diesen Einen Gedanken in derselben Klarheit, mit der er mir beiwohnen musste, ehe ich an das Unternehmen ging, und mit welcher er mich leiten muss bei jedem einzelnen Worte, das ich sagen werde, auch Ihnen sogleich mittheilen: so würde von dem ersten Schritte au das vollkommenste Licht sich verbreiten über den ganzen Weg, den wir miteinander zu machen haben. Aber ich bin genöthigt, diesen Einen Gedanken vor Ihren Augen erst allmählig aus allen seinen Theilen aufzubauen, und aus allen seinen bedingenden Ingredientien herauszuläutern: dies ist die nothwendige Beschränkung, welche jedwede Mittheilung drückt; und durch dieses ihr Grundgesetz allein wird zu einer Reihe von Gedanken und Betrachtungen ausgedehnt und zerspalten, was an sich nur ein einziger Gedanke gewesen wäre.

Da dieses sich also verhält, so muss ich, zumal weil hier nicht alte bekannte Sachen nur wiederholt, sondern neue Ansichten der Dinge gegeben werden sollen, voraussetzen und darauf rechnen, dass es Sie nicht befremde, wenn im Anfange nichts diejenige Klarheit hat, die es nach dem Grundgesetze aller Mittheilung erst durch das nachfolgende erhalten kann: und ich muss Sie ersuchen, die vollkommene Klarheit erst am Schlusse, und nachdem die Uebersicht des Ganzen möglich geworden, zu erwarten. Dass jedoch jedweder Gedanke an seine Stelle zu stehen komme, und diejenige Klarheit erhalte, die er an dieser ihm gebührenden Stelle erhalten kann, – es versteht sich für diejenigen, die der deutschen Büchersprache mächtig, und fähig sind einen zusammenhängenden Vortrage zu folgen, – ist die Pflicht eines jeden, der es unternimmt etwas vorzutragen; und ich werde mit ernster Mühe mich bestreben, diese Pflicht zu erfüllen.

Lassen Sie uns jetzt, E. V., nach dieser ersten und einzigen Vorerinnerung, ohne weiteren, Aufenthalt an unser Geschäft gehen.

Ein philosophisches Gemälde des gegenwärtigen Zeitalters ist es, was diese Vorträge versprechen. Philosophisch aber kann nur diejenige Ansicht genannt werden, welche ein vorliegendes Mannigfaltiges der Erfahrung auf die Einheit des Einen gemeinschaftlichen Princips zurückführt und wiederum aus dieser Einheit jedes Mannigfaltige erschöpfend erklärt und ableitet. – Der blosse Empiriker, falls er an eine Beschreibung des Zeitalters ginge, würde manche auffallende Phänomene desselben, so wie sie sich ihm in der zufälligen Beobachtung darböten, auffassen und herzählen, ohne je sicher seyn zu können, dass er sie alle erfasst hätte, und ohne je einen andern Zusammenhang derselben angeben zu können, als den, dass sie nun eben in Einer und derselben Zeit beisammen seyen. Der Philosoph, der sich die Aufgabe einer solchen Beschreibung setzte, würde unabhängig von aller Erfahrung einen Begriff des Zeitalters, der als Begriff in gar keiner Erfahrung vorkommen kann, aufsuchen, und die Weisen, wie dieser Begriff in der Erfahrung eintritt, als die nothwendigen Phänomene dieses Zeitalters darlegen; und er würde in dieser Darlegung die Phänomene begreiflich erschöpft, und sie in der Nothwendigkeit ihres Zusammenhanges untereinander vermittelst ihres gemeinsamen Grundbegriffs abgeleitet haben. Jener wäre der Chronikenmacher des Zeitalters, dieser erst hätte einen Historiographen desselben möglich gemacht.

Zuvörderst: hat der Philosoph die in der Erfahrung möglichen Phänomene aus der Einheit seines vorausgesetzten Begriffs abzuleiten, so ist klar, dass er zu seinem Geschäfte durchaus keiner Erfahrung bedürfe, und dass er bloss als Philosoph, und innerhalb seiner Grenzen streng sich haltend, ohne Rücksicht auf irgend eine Erfahrung und schlechthin a priori, wie sie dies mit dem Kunstausdrucke benennen, sein Geschäft treibe, und, in Beziehung auf unseren Gegenstand, die gesammte Zeit und alle möglichen Epochen derselben a priori müsse beschreiben können. Ganz eine andere Frage aber ist es, ob nun insbesondere die Gegenwart durch diejenigen Phänomene, welche aus dem aufgestellten Grundbegriffe fliessen, charakterisirt werde, und ob somit das vom Redner geschilderte Zeitalter das gegenwärtige sey, falls er auch dieses behaupten sollte, wie wir z.B. das behaupten werden. Hierüber hat ein jeder bei sich selber die Erfahrungen seines Lebens zu befragen, und sie mit der Geschichte der Vergangenheit, sowie mit seinen Ahnungen von der Zukunft zu vergleichen: indem an dieser Stelle das Geschäft des Philosophen zu Ende ist, und das des Welt- und Menschenbeobachters seinen Anfang nimmt. Wir unseres Ortes gedenken hier nichts weiter zu seyn, denn Philosophen, und haben uns zu nichts anderem verbunden: die letztere Beurtheilung wird daher, sobald wir zur Stelle seyn werden, ganz Ihnen anheimfallen. Jetzt bleiben wir bei unserem Vorhaben, unsere Grundaufgabe erst recht festzusetzen und zu bestimmen.

Sodann: jede einzelne Epoche der gesammten Zeit, deren wir soeben erwähnen, ist Grundbegriff eines besonderen Zeitalter. Diese Epochen aber und Grundbegriffe der verschiedenen Zeitalter können nur neben-und durcheinander, vermittelst ihres Zusammenhanges zu der gesammten Zeit, gründlich verstanden werden. Es ist daher klar, dass der Philosoph, um auch nur ein einziges Zeitalter, und, falls er will, das seinige, richtig zu charakterisiren, die gesammte Zeit und alle ihre möglichen Epochen schlechthin a priori verstanden und innigst durchdrungen haben müsse.

Dieses Verstehen der gesammten Zeit setzt, so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obschon allmählig sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, in welcher jedes folgende Glied bedingt sey durch sein vorhergehendes; oder, um dies kürzer und auf die gewöhnliche Weise auszudrücken: es setzt voraus einen Weltplan, der in seiner Einheit sich klär]ich begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des menschlichen Erdenlebens sich vollständig ableiten, und in ihrem Ursprunge sowie in ihrem Zusammenhange untereinander sich deutlich einsehen lassen. Der erstere, jener Weltplan, ist der Einheitsbegriff des gesammten menschlichen Erdenlebens; die letzteren, die Hauptepochen dieses Lebens, sind die eben erwähnten Einheitsbegriffe jedes besonderen Zeitalters, aus denen wiederum desselben Phänomene abzuleiten sind.

Wir haben folgendes: zuvörderst einen Einheitsbegriff des gesammten Lebens, der sich spaltet in verschiedene Epochen, die nur neben- und durcheinander begreiflich sind; sodann, jede dieser besonderen Epochen ist wiederum Einheitsbegriff eines besonderen Zeitalters, und erscheint in mannigfaltigen Phänomenen.

Erdenleben der Menschheit gilt uns hier für das gesammte Eine Leben, und die irdische Zeit für die gesammte Zeit; dies ist die Grenze, in welche die beabsichtigte Popularität unseres Vortrages uns einschränkt; indem von dem Ueberirdischen und Ewigen sich nicht gründlich reden lässt, und zugleich populär. Hier, sage ich, in diesen Vorträgen, gilt sie uns dafür; denn an sich und für den höheren Aufschwung der Speculation ist das menschliche Erdenleben und die irdische Zeit selbst nur eine nothwendige Epoche der Einen Zeit und des Einen ewigen Lebens; und dieses Erdenleben, sammt seinen Nebengliedern, lässt sich aus dem schon hienieden vollkommen möglichen Einheitsbegriffe des ewigen Lebens ableiten. Bloss unsere dermalen freiwillige Beschränkung verbietet uns, diese streng erweisende Ableitung zu unternehmen, und verstattet uns nur den Einheitsbegriff des Erdenlebens deutlich anzugeben, mit der Anmuthung au jeden Zuhörer, diesen Begriff an seinem eigenen Wahrheitsgefühle zu erproben, und ihn richtig zu finden, falls er es vermag. Erdenleben der Menschheit, haben wir gesagt, und Epochen dieses Erdenlebens der Menschheit. Wir reden hier nur vom Fortschreiten des Lebens der Gattung, keinesweges von dem der Individuen, – welches letztere durch alle diese Vorträge hindurch an seinen Ort gestellt bleibt, – und ich ersuche, dass Sie diesen Gesichtspunct sich nie verschwinden lassen.

Der Begriff eines Weltplans also wird unserer Untersuchung vorausgesetzt, den ich, aus dem angegebenen Grunde, hier keinesweges abzuleiten, sondern nur anzuzeigen habe. Ich sage daher, – und lege damit den Grundstein des aufzuführenden Gebäudes – ich sage: der Zweck des Erdenlebens der Menschheit ist der, dass sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte.

Mit Freiheit, habe ich gesagt, ihre eigene, der Menschheit Freiheit, diese Menschheit als Gattung genommen; und diese Freiheit ist die erste Nebenbestimmung, unseres aufgestellten Hauptbegriffs aus der ich zu folgern gedenke, indess ich die übrigen Nebenbestimmungen, welche wohl ebenfalls einer Erklärung bedürfen möchten, den folgenden Vorträgen überlasse. Diese Freiheit soll in dem Gesammtbewusstseyn der Gattung erscheinen! und eintreten als ihre eigene Freiheit, als wabre wirkliche That und als Erzeugniss der Gattung in ihrem Leben, und hervorgehend aus ihrem Leben; dass sonach die Gattung, als überhaupt existirend, dieser ihr zuzuschreibenden That vorausgesetzt werden müsste. (Soll eine genannte Person etwas gethan haben, so wird vorausgesetzt, dass sie vor der That um den Entschluss zu fassen, und während der That, um ihn auszuführen, existirt...

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