Erste Vorlesung
Über den absoluten Begriff der Wissenschaft
Die besondern Gründe kurz anzugeben, die mich bestimmen diese Vorlesungen zu halten, möchte nicht überflüssig sein; überflüssiger wäre es ohne Zweifel, sich bei dem allgemeinen Beweis lange zu verweilen, daß Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums für den studierenden Jüngling nicht allein nützlich, sondern notwendig, für die Belebung und die bessere Richtung der Wissenschaft selbst ersprießlich sind.
Der Jüngling, wenn er mit dem Beginn der akademischen Laufbahn zuerst in die Welt der Wissenschaften eintritt, kann, je mehr er selbst Sinn und Trieb für das Ganze hat, desto weniger einen andern Eindruck davon erhalten, als den eines Chaos, in dem er noch nichts unterscheidet, oder eines weiten Ozeans, auf den er sich ohne Kompaß und Leitstern versetzt sieht. Die Ausnahmen der wenigen, welchen frühzeitig ein sicheres Licht den Weg bezeichnet, der sie zu ihrem Ziele führt, können hier nicht in Betracht kommen. Die gewöhnliche Folge jenes Zustandes ist: bei besser organisierten Köpfen, daß sie sich regel-und ordnungslos allen möglichen Studien hingeben, nach allen Richtungen schweifen, ohne in irgend einer bis zu dem Kern vorzudringen, welcher der Ansatz einer allseitigen und unendlichen Bildung ist, oder ihren fruchtlosen Versuchen im besten Fall etwas anderes als am Ende der akademischen Laufbahn die Einsicht zu verdanken, wie vieles sie umsonst getan und wie vieles Wesentliche vernachlässigt; bei andern, die von minder gutem Stoffe gebildet sind, daß sie gleich anfangs die Resignation üben, alsbald sich der Gemeinheit ergeben und höchstens durch mechanischen Fleiß und mechanisches Auffassen mit dem Gedächtnisse so viel von ihrem besondern Fach sich anzueignen suchen, als sie glauben, daß zu ihrer künftigen äußeren Existenz notwendig sei.
Die Verlegenheit, in der sich der Bessere in Ansehung der Wahl sowohl der Gegenstände als der Art seines Studierens befindet, macht, daß er sein Vertrauen nicht selten Unwürdigen zuwendet, die ihn mit der Niedrigkeit ihrer eignen Vorstellungen von den Wissenschaften oder ihrem Haß dagegen erfüllen.
Es ist also notwendig, daß auf Universitäten öffentlicher allgemeiner Unterricht über den Zweck, die Art, das Ganze und die besondern Gegenstände des akademischen Studiums erteilt werde.
Eine andere Rücksicht kommt noch in Betracht. Auch in der Wissenschaft und Kunst hat das Besondere nur Wert, sofern es das Allgemeine und Absolute in sich empfängt. Es geschieht aber, wie die meisten Beispiele zeigen, nur zu häufig, daß über der bestimmten Beschäftigung die allgemeine der universellen Ausbildung, über dem Bestreben, ein vorzüglicher Rechtsgelehrter oder Arzt zu werden, die weit höhere Bestimmung des Gelehrten überhaupt, des durch Wissenschaft veredelten Geistes vergessen wird. Man könnte erinnern, daß gegen diese Einseitigkeit der Bildung das Studium der allgemeineren Wissenschaften ein zureichendes Gegenmittel sei. Ich bin nicht gesonnen, dies im Allgemeinen zu leugnen, und behaupte es vielmehr selbst. Die Geometrie und Mathematik läutert den Geist zur rein vernunftmäßigen Erkenntnis, die des Stoffes nicht bedarf. Die Philosophie, welche den ganzen Menschen ergreift und alle Seiten seiner Natur berührt, ist noch mehr geeignet, den Geist von den Beschränktheiten einer einseitigen Bildung zu befreien und in das Reich des Allgemeinen und Absoluten zu erheben. Allein entweder existiert zwischen der allgemeineren Wissenschaft und dem besondern Zweig der Erkenntnis, dem der Einzelne sich widmet, überhaupt keine Beziehung, oder die Wissenschaft in ihrer Allgemeinheit kann sich wenigstens nicht so weit herunterlassen, diese Beziehungen aufzuzeigen, so daß der, welcher sie nicht selbst zu erkennen imstande ist, sich in Ansehung der besondern Wissenschaften doch von der Leitung der absoluten verlassen sieht, und lieber absichtlich sich von dem lebendigen Ganzen isolieren, als durch ein vergebliches Streben nach der Einheit mit demselben seine Kräfte nutzlos verschwenden will.
Der besondern Bildung zu einem einzelnen Fach muß also die Erkenntnis des organischen Ganzen der Wissenschaften vorangehen. Derjenige, welcher sich einer bestimmten ergibt, muß die Stelle, die sie in diesem Ganzen einnimmt, und den besondern Geist, der sie beseelt, so wie die Art der Ausbildung kennen lernen, wodurch sie dem harmonischen Bau des Ganzen sich anschließt, die Art also auch, wie er selbst diese Wissenschaft zu nehmen hat, um sie nicht als ein Sklave, sondern als ein Freier und im Geiste des Ganzen zu denken.
Sie erkennen aus dem eben Gesagten schon, daß eine Methodenlehre des akademischen Studiums nur aus der wirklichen und wahren Erkenntnis des lebendigen Zusammenhangs aller Wissenschaften hervorgehen könne, daß ohne diese jede Anweisung tot, geistlos, einseitig, selbst beschränkt sein müsse. Vielleicht aber war diese Forderung nie dringender als zu der gegenwärtigen Zeit, wo sich alles in Wissenschaft und Kunst gewaltiger zur Einheit hinzudrängen scheint, auch das scheinbar Entlegenste in ihrem Gebiet sich berührt, jede Erschütterung, die im Zentrum oder der Nähe desselben geschieht, schneller und gleichsam unmittelbarer auch in die Teile sich fortleitet, und ein neues Organ der Anschauung allgemeiner und fast für alle Gegenstände sich bildet. Nie kann eine solche Zeit vorbeigehen ohne die Geburt einer neuen Welt, welche diejenigen, die nicht tätigen Teil an ihr haben, unfehlbar in die Nichtigkeit begräbt. Vorzüglich nur den frischen und unverdorbenen Kräften der jugendlichen Welt kann die Bewahrung und Ausbildung einer edlen Sache vertraut werden. Keiner ist von der Mitwirkung ausgeschlossen, da in jeden Teil, den er sich nimmt, ein Moment des allgemeinen Wiedergebärungsprozesses fällt. Um mit Erfolg einzugreifen, muß er, selbst vom Geist des Ganzen ergriffen, seine Wissenschaft als organisches Glied begreifen und ihre Bestimmung in der sich bildenden Welt zum voraus erkennen. Hierzu muß er entweder durch sich selbst oder durch andere zu einer Zeit gelangen, wo er nicht selbst schon in obsoleten Formen verhärtet, noch nicht durch lange Einwirkung fremder oder Ausübung eigner Geistlosigkeit der höhere Funken in ihm erstickt ist, in der früheren Jugend also und nach unsern Einrichtungen im Anfang des akademischen Studiums.
Von wem soll er diese Erkenntnis erlangen, und wem soll er sich in dieser Rücksicht vertrauen? Am meisten sich selbst und dem bessern Genius, der sicher leitet1; dann denjenigen, von denen sich am bestimmtesten einsehen läßt, daß sie durch ihre besondere Wissenschaft schon verbunden waren, sich die höchsten und allgemeinsten Ansichten von dem Ganzen der Wissenschaften zu erwerben. Derjenige, welcher selbst nicht die allgemeine Idee der Wissenschaft hat, ist ohne Zweifel am wenigsten fähig, sie in andern zu erwecken; der einer untergeordneten und beschränkten Wissenschaft seinen übrigens rühmlichen Fleiß widmet, nicht geeignet, sich zur Anschauung eines organischen Ganzen der Wissenschaft zu erheben. Diese Anschauung ist überhaupt und im Allgemeinen nur von der Wissenschaft aller Wissenschaften, der Philosophie, im Besondern also nur von dem Philosophen zu erwarten, dessen besondere Wissenschaft zugleich die absolut allgemeine, dessen Streben also an sich schon auf die Totalität der Erkenntnis gerichtet sein muß.
Diese Betrachtungen sind es, meine Herren, die mich bestimmt haben, diese Vorlesungen zu eröffnen, deren Absicht Sie aus dem Vorhergehenden ohne Mühe erkennen. Inwieweit ich imstande sein werde, meiner eignen Idee eines solchen Vertrags und demnach meinen Absichten ein Genüge zu tun, diese Frage vorläufig zu beantworten, überlasse ich ruhig dem Zutrauen, welches Sie mir jederzeit geschenkt haben, und dessen mich wert zu zeigen, ich auch bei dieser Gelegenheit streben werde.
Lassen Sie mich alles, was doch bloß Einleitung, Vorbereitung sein könnte, abkürzen und gleich unmittelbar zu dem Einen gelangen, wovon unsere ganze folgende Untersuchung abhängig sein wird, und ohne das wir keinen Schritt zur Auflösung unserer Aufgabe tun können. Es ist die Idee des an sich selbst unbedingten Wissens, welches schlechthin nur Eines und in dem auch alles Wissen nur Eines ist, desjenigen Urwissens, welches, nur auf verschiedenen Stufen der erscheinenden idealen Welt sich in Zweige zerspaltend, in den ganzen unermeßlichen Baum der Erkenntnis sich ausbreitet. Als das Wissen alles Wissens muß es dasjenige sein, was die Forderung oder Voraussetzung, die in jeder Art desselben gemacht wird, aufs vollkommenste und nicht nur für den besondern Fall, sondern schlechthin allgemein erfüllt und enthält. Man mag nun diese Voraussetzung als Übereinstimmung mit dem Gegenstande, als reine Auflösung des Besondern ins Allgemeine oder wie immer ausdrücken, so ist diese weder überhaupt noch in irgend einem Falle ohne die höhere Voraussetzung denkbar, daß das wahre Ideale allein und ohne weitere Vermittlung auch das wahre Reale und außer jenem kein anderes sei. Wir können diese wesentliche Einheit selbst in der Philosophie nicht eigentlich beweisen, da sie vielmehr der Eingang zu aller Wissenschaftlichkeit ist; es läßt sich nur eben dies beweisen, daß ohne sie überhaupt keine Wissenschaft sei, und es läßt sich nachweisen, daß in allem, was nur Anspruch macht Wissenschaft zu sein, eigentlich diese Identität oder dieses gänzliche Aufgehen des Realen im Idealen [und umgekehrt die Möglichkeit der gänzlichen Umsetzung des Idealen ins Reale] beabsichtigt werde.
Bewußtlos liegt diese Voraussetzung allem dem, was die verschiedenen Wissenschaften von allgemeinen Gesetzen der Dinge...