1
… UND DANN KAM AMY
Ich war von Anfang an wie vernarrt in meine Tochter, der Rest der Welt interessierte mich kaum noch. Kurz bevor Amy zur Welt kam, hatte ich meinen Job verloren – vermutlich weil ich mir für die Geburt vier Tage freinehmen wollte. Als Amy dann da war, spielte so etwas keine Rolle mehr. Obwohl ich arbeitslos war, zog ich los und kaufte eine JVC-Videokamera für fast einen Tausender. Janis war außer sich, aber das kümmerte mich nicht. Ich machte viele Stunden Filmaufnahmen von Amy und Alex; die Bänder habe ich heute noch bei mir.
Alex war großartig. Stundenlang hielt er Wache an ihrem Kinderbett. Einmal kam ich spätnachts in ihr Zimmer und fand Amy hellwach, während Alex am Boden schlief – ein toller Wächter. Ich war ein nervöser Vater und schaute oft in Amys Gitterbett, ob mit ihr alles okay war. Als sie noch ein sehr kleines Baby war, hörte ich sie einmal röcheln: „Sie atmet nicht richtig!“, schrie ich, und Janis musste mir erklären, dass alle Babys solche Geräusche machen. Ich war immer noch nicht beruhigt, also hob ich Amy hoch, und natürlich wollte sie danach nicht mehr schlafen. Aber alles in allem war sie ein braves Kind und schlief bald die Nächte durch. So fest, dass Janis sie manchmal zum Stillen wecken musste.
Badezeit für die Kinder: ein Gewirr von Armen und Beinen, und der Boden war immer tropfnass.
An ihrem ersten Geburtstag lernte Amy laufen, von da an wurde sie ein bisschen schwierig. Sie war sehr neugierig, und wenn man nicht ständig ein Auge auf sie hatte, ging sie auf Erkundungsreise. Zum Glück hatten wir Hilfe – meine Mutter, mein Stiefvater und der größte Teil meiner Familie waren fast jeden Tag da. Manchmal kam ich spät von der Arbeit, und Janis teilte mir mit, sie hätten mein Abendessen aufgegessen.
Janis war und ist eine wundervolle Mutter; Alex und Amy konnten schreiben und lesen, bevor sie zur Schule gingen, und das verdankten sie ihr. Wenn ich von der Arbeit kam, hörte ich sie oben, schlich mich rauf und stand leise vor der Tür, um sie zu betrachten. Janis las ihnen vor, die Kinder saßen eng an sie geschmiegt, mit gespanntem Blick, was wohl als Nächstes geschehen würde. Ein schönes Bild. So verbrachten sie ihre gemeinsame Zeit, und ich wünschte, ich hätte mehr dabei sein können.
Ich konnte nicht genug kriegen von den Kindern, und wenn ich abends erst um zehn oder elf heimkam, weckte ich sie manchmal auf, um Gute Nacht zu sagen. Ich ging rein, stolperte gegen das Gitterbett, „Oh, schau, sie sind wach“, und drückte sie an mich, um sie zu knuddeln. Janis machte das wahnsinnig, und zwar mit Recht.
Ich war mit Leib und Seele Vater, aber wir tobten mehr herum, als dass ich ihnen Geschichten vorlas. Alex und ich spielten im Garten Fußball, später Kricket, und Amy wollte unbedingt mitmachen – „Papa! Papa! Gib mir den Ball!“ -, aber als ich ihn ihr sachte hinstupste, griff sie fröhlich danach und warf ihn über den Zaun.
Amy tanzte für ihr Leben gern, und wie es die meisten Väter mit ihren kleinen Töchtern tun, hielt ich sie an der Hand und balancierte ihre Füße auf meinen. So schwangen wir durchs Zimmer. Am meisten gefiel es Amy jedoch, wenn ich sie herumwirbeltesie liebte es, wenn sie dabei die Orientierung verlor. Angst kannte sie nicht, sie kletterte höher, als es mir lieb war, und turnte wie wild auf einem Klettergerüst im Park herum. Aber sie spielte auch gerne zu Hause mit ihren Puppen. Sie liebte ihre Cabbage-Patch-Puppen; wir mussten sogar die „Adoptionsurkunden“ abschicken, die den Puppen beilagen, damit sie zufrieden war. Wenn Alex sie triezen wollte, fesselte er die Puppen.
Meine zwei Lieben, Alex und Amy, in der Schuluniform der Osidge Primary. Alex kümmerte sich stets um seine kleine Schwester.
Wenn ich früh genug nach Hause kam, las ich den Kindern vor: immer Noddy-Bücher von Enid Blyton. Amy und Alex waren Noddy-Experten. Amy liebte das Noddy-Ratespiel. Es war immer dasselbe und ging so:
Amy sagte: „Papi, was hatte Noddy an dem Tag an, als er Big Ears traf?“
Ich tat so, als dächte ich nach, und versuchte es: „Trug er sein rotes Hemd?“
Amy antwortete: „Nein.“
Dann sagte ich, das sei eine echt schwere Frage und ich müsse nachdenken. „Den blauen Hut mit dem Glöckchen an der Spitze?“ Wieder ein Nein von Amy. Da schnippte ich mit den Fingern und sagte: „Ich weiß es! Er hatte die kurze blaue Hose und den gelben Schal mit roten Punkten an.“
„Nein, Papi„, antwortete Amy darauf.
Ein stolzer Papa und seine geliebte Tochter. Wahrscheinlich war ich gerade von der Arbeit gekommen und hatte sie geweckt, sehr zum Missfallen von Janis.
Also musste ich aufgeben und Amy fragen, was er anhatte. Bevor sie ein Wort herausbekam, kicherte sie schon los: „Er hatte gar nichts an, er war … nackt!“
Für gewöhnlich hielt sie sich die Hand vor den Mund, um ihr hysterisches Lachen zu unterdrücken. Wie oft wir das Spiel auch spielten, es lief immer gleich.
Wir waren keine von den Familien, die einfach so den Fernseher laufen ließen. Bei uns lief immer Musik, und ich sang die ganze Zeit im Haus. Die Kinder führten kleine Shows für uns auf. Amy war damals etwa zwei, Alex fünf. Ich moderierte sie an, Janis klatschte, und dann sangen sie – na gut, singen ist vielleicht ein bisschen viel gesagt. Alex konnte nicht wirklich singen, aber er versuchte es, und Amy schien nur ein Ziel zu haben: lauter zu singen als er. Es war klar, dass sie das Rampenlicht liebte, und wenn es Alex langweilig wurde und er lieber was anderes machte, sang Amy weiter – sogar wenn wir ihr sagten, sie solle aufhören.
Sie liebte auch ein kleines Spiel, das ich gerne mit ihr spielte, oft im Auto. Ich fing ein Lied an, und sie sang das letzte Wort. Ich sang: „Fly me to the …“ und Amy sang: „MOON“. Ich sang weiter: „… and let me play amongst the …“, und sie sang: „… STARS“. So konnten wir uns endlos amüsieren.
Irgendwann bekam Amy einen kleinen Plattenspieler und spielte immer wieder dieselben Kinderlieder. Es war alles, was man aus ihrem Zimmer hörte. Dann bekam sie ein Xylofon und brachte sich – langsam und mühselig – bei, „Home On The Range“ zu spielen. Es schallte durchs ganze Haus: pling, pling, pling, und ich wünschte, sie würde die richtigen Töne treffen, im Takt – es war eine Qual, es wieder und wieder zu hören.
So süß sie auch war, der Satz, der in Amys frühen Jahren am häufigsten bei uns zu hören war, lautete: „Sei still, Amy!“ Sie wusste nie, wann es genug war. Wenn sie zu singen anfing, war sie nicht zu stoppen. Und wenn sie mal nicht im Mittelpunkt stand, ließ sie sich was einfallen – manchmal auf Kosten ihres älteren Bruders. Auf der Feier zu Alex’ sechstem Geburtstag stahl ihm Amy die Schau und lieferte den Gästen einen spontanen Auftritt als Sängerin und Tänzerin. Alex war ganz und gar nicht begeistert, und ehe wir eingreifen konnten, schüttete er ihr sein Getränk über den Latz. Amy brach in Tränen aus und rannte aus dem Zimmer. Ich brüllte Alex derart an, dass er zu Tode erschrak und ebenfalls weinend rauslief. Nach der Party saß Amy schmollend in der Küche auf dem Boden, und Alex wollte nicht mehr aus seinem Zimmer kommen.
Amy war ein entzückendes Baby, immer lächelnd und glücklich, und wenn sie mal nicht zufrieden war, wussten es alle. Wir fuhren schon früh mit ihr in Urlaub, und sie liebte den Strand.
Obwohl so etwas vorkam, waren sich Alex und Amy sehr nahe und machten viel gemeinsam. Sie gingen schwimmen und nahmen Stepptanzunterricht, vergnügten sich stundenlang. Auch als sie älter wurden und eigene Freundeskreise hatten, blieben sie sich sehr nahe, und das sollte sich nie ändern.
Amys Freundschaft zu ihrem Bruder hielt sie nicht davon ab, sich in den Mittelpunkt zu drängen – für Aufmerksamkeit tat sie alles. Sie konnte schelmisch, frech und übermütig sein. Bald nach Alex’ Geburtstagsfeier, als sie drei Jahre alt war, nahm Janis Amy mit in den Broomfield Park, nicht weit von zu Hause. Nach kurzer Zeit war Amy weg, und Janis konnte sie nicht mehr finden. In Panik rief sie mich in der Arbeit an, Amy sei fort. Ich raste in den Park, außer mir vor Sorge. Als ich ankam, war die Polizei bereits da, und ich war auf das Schlimmste gefasst – das ist meine Art, mit Dingen umzugehen; in meiner Vorstellung war sie nicht verschwunden, sondern entführt worden. Meine Mutter und Tante Lorna waren auch da - alle suchten nach Amy. Offensichtlich war Amy nicht mehr im Park, und die Polizei riet uns, heimzugehen, was wir auch taten. Janis und ich saßen da, heulten uns die Augen aus, und dann, fünf Stunden nach Amys Verschwinden, läutete das Telefon. Es war Ros, eine Freundin meiner Schwester Melody. Amy war bei ihr. Gott sei Dank.
Was passiert war, war typisch Amy. Ros war mit ihren Kindern ebenfalls im Park gewesen. Als Amy weglief, sah sie Ros und rannte zu ihr. Ros fragte sie natürlich, wo...