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E-Book

Lonesome George

oder Das Verschwinden der Arten

AutorLothar Frenz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644111912
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Gibt es noch ein Happy End für Lonesome George? Ein Weibchen für den einsamen Riesenschildkrötenmann von Galápagos? Oder ist er wirklich der Letzte seiner Art? Das Aussterben gehört seit jeher zu den natürlichsten Prozessen der Welt - wie das Entstehen neuer Spezies. Doch Wissenschaftler prophezeien, dass in den nächsten fünfzig Jahren die Hälfte aller heutigen Arten verschwunden sein wird. Schon als Kolumbus die Neue Welt betrat, begann die Globalisierung - und damit der Verlust der Vielfalt, auch in der Natur. Und das Tempo nimmt zu: Die «McDonaldisierung» der Biosphäre steht bevor. Mit welchen Folgen? Lothar Frenz erzählt ebenso überraschende wie skurrile Geschichten vom Werden und Vergehen: vom legendären Dodo (dessentwegen die Engländer nicht «mausetot» sagen, sondern «as dead as a dodo») und vom sagenumwobenen Elfenbeinspecht, von Zebras, die nur zur Hälfte gestreift waren, und von Artenfressern, die andere Spezies gleich dutzendweise vertilgen. Alle diese Geschichten sind noch nicht zu Ende, nur weil diese Tiere verschwunden sind. Sie verraten uns etwas über die Mechanismen des Lebens und Sterbens: Warum und wann kommt es zum Aussterben? Was passiert, wenn Spezies verschwinden? Ein faszinierendes Buch, das uns mit anderen Augen betrachten lässt, was derzeit geschieht.

Lothar Frenz, geboren 1964, ist als Biologe und Journalist für GEO und Naturdokumentationen häufig auf den Spuren der Artenvielfalt. So führten ihn Expeditionen nach Amazonien und Neuguinea, nach Tasmanien, Uganda oder in die Mongolei. Er veröffentlichte u.a. «Riesenkraken und Tigerwölfe. Auf den Spuren der Kryptozoologie» (2000), «Das Naturbuch für Neugierige» (2010, gemeinsam mit Loki Schmidt) und «Lonesome George oder das Verschwinden der Arten» (2012), das von der Deutschen Umweltstiftung als «Umweltbuch des Jahres» ausgezeichnet wurde. Seit 2019 ist Frenz Botschafter der Loki-Schmidt-Stiftung.

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Leseprobe

NORDAMERIKA: LEERE NEUE WELT


Marthas letzte Reisen


Martha war nicht irgendwer: Hätte man sie denn sonst nach ihrem Tod unverzüglich zur Cincinnati Ice Company gebracht, dort an den Füßen aufgehängt und kopfüber in einen großen Bottich mit Wasser getunkt, damit sie zu einem gut einhundertvierzig Kilogramm schweren Eisklotz gefriert? Dann per Expresszug auf eine Reise nach Washington, D. C. geschickt, wo man in der Smithsonian Institution, einer der angesehensten Forschungseinrichtungen der Welt, schon seit Jahren auf ihr Ableben wartete?

Kaum war Martha dort angekommen, wurde sie sorgsam aufgetaut und obduziert. Ihre sterbliche Hülle wurde präpariert, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Die Innereien wurden entnommen; Augen, Leber, Hirn – ein jedes Organ kam einzeln in ein kleines Gefäß voller Alkohol. Wie bei einem altägyptischen Pharao.

In ihren letzten Lebensjahren war Martha zu einer amerikanischen Berühmtheit geworden. Benannt war sie nach der «Mutter der Nation», der allerersten First Lady der USA: Martha Washington. Mehr als hundert Jahre später lebte Martha, die Zweite, im Zoo von Cincinnati in einer japanisch anmutenden Pagode mit rotem Dach – und grüßte von Postkarten des Zoos herab: als Letzte ihrer Art. Als sie am 1. September 1914 gegen 12.45 Uhr im Alter von neunundzwanzig Jahren verschied, berichteten am nächsten Tag überall im Lande die Zeitungen davon. Denn nun war sie endgültig zu einer Ikone geworden. Marthas Tod war das Ende eines nordamerikanischen Phänomens, eines Naturspektakels, das weltweit einzigartig war.

 

«Da kommen sie.» Neben dem sanften Rascheln der Blätter, dem Zwitschern der Vögel drängte sich aus der Ferne ein neuer Ton. Wie ein starker Wind, der dröhnt und röhrt. Und doch blieben alle Blätter an den Bäumen ruhig. Als der Sturm näher kam, verschwand das Mittagslicht wie bei einer Sonnenfinsternis. Schmelzenden Schneeflocken gleich fielen weißliche Tropfen vom Himmel und bedeckten die Landschaft mit einer hellen Schicht Exkremente. Und dann war die ganze Luft buchstäblich mit ihnen angefüllt: Tauben über Tauben, die mit großer Geschwindigkeit durchs Land zogen.

Es war im Herbst 1813, rund einhundert Jahre vor Marthas Tod, als der amerikanische Naturforscher, Ornithologe und Vogelmaler John James Audubon auf dem Weg nach Louisville im amerikanischen Bundesstaat Kentucky jenen gewaltigen Schwarm von Wandertauben erlebte.

Schon oft hatte Audubon die ungeheuren Scharen der Tauben beobachtet, aber diese hier war bei weitem die größte Ansammlung dieser Spezies, die er jemals gesehen hatte: Den ganzen Tag über flogen Legionen von Vögeln über ihm, kein einziger davon setzte auch nur einmal zur Landung an.

Audubon war hingerissen, wie elegant sich die Wolke am Himmel bewegte, als ein Habicht versuchte, ein Einzeltier aus dem Schwarm zu isolieren, um Beute zu schlagen: Da strömten die Tauben wie mit Donnerhall zu einer noch kompakteren Masse zusammen; jede versuchte, sich ins Zentrum zu drücken. Gemeinsam schossen sie vorwärts, mal in wellenartigen, mal in kantigen Bewegungen; dann stiegen sie plötzlich hinab und strichen mit unglaublicher Geschwindigkeit über dem Boden entlang, nur um alsbald zu einer beinahe senkrechten, gewaltigen Säule aufzusteigen, die sich immerfort drehte und wendete wie das Knäuel eines gewaltigen Schlangenleibes.

Unzählige Tauben, es waren wohl Hunderte von Millionen, gaben sich in diesem Augenblick synchron dem Serpentinenflug hin. Mal glitzerte die Vogelwolke azurblau, wenn alle Tauben dem Betrachter am Boden zeitgleich den Rücken zuwendeten, mal präsentierten sie beim nächsten Richtungswechsel das Bauchgefieder – und die gewaltige Masse färbte sich in tiefsten Purpur ein.

Wenn die Schwärme der Wandertauben die Sonne verdunkelten, begann das große Schießen – wie hier in Iowa.

Gegen Abend erreichte Audubon Louisville. Knapp neunzig Kilometer hatte er da zurückgelegt, und noch immer zogen die Wandertauben in unverminderter Anzahl an ihm vorbei. Noch drei Tage lang sollte das Spektakel so weitergehen.

Hunderte Millionen von Tauben! Europäische Naturkundler, die solche Berichte hörten, bezweifelten die Zahlen. Doch Audubon hatte ähnliche Spektakel schon so oft erlebt und einfach nur beschrieben, was er gesehen hatte. Als er später die Individuenzahl dieses Schwarmes in seiner Gesamtheit hochrechnete, kam er auf gut eine Milliarde Wandertauben. Der Ornithologe Alexander Wilson schätzte die Größe eines anderen Schwarms sogar auf über zwei Milliarden Vögel. Vier von zehn Vögeln des Kontinents sollen damals zur Spezies Ectopistes migratorius gehört haben. Konservativen, ganz vorsichtigen Schätzungen zufolge zogen damals insgesamt «nur» zwischen drei und fünf Milliarden Wandertauben über den amerikanischen Kontinent. Die Wandertaube war zu jener Zeit jedenfalls der am häufigsten vorkommende Vogel Nordamerikas, wahrscheinlich sogar der ganzen Welt.

Allein der Milliardenschwarm von Kentucky vertilgte täglich über dreißigtausend Kubikmeter Nahrung – das entsprach dem Fassungsvermögen von über einhundertfünfzigtausend Badewannen à zweihundert Liter voller fetthaltiger Bucheckern, Eicheln und Kastanien, aber auch Sämereien und Beeren. Auch das hat Audubon berechnet. Eiweißreiche Würmer und Insekten vervollständigten den Speiseplan der Wandertauben im Frühling und Sommer. Augenzeugen berichteten von den schlechten Manieren der Wandertauben während ihrer Mahlzeiten: Rasch stopften sie in sich hinein, was sie nur erpicken konnten, ehe es der Nachbar fraß. Manche bekamen den Kropf nicht voll genug und verschluckten viel zu viele Bucheckern auf einmal. Wenn sie dann im Gewimmel der fressenden Vögel vom Ast fielen, zerplatzten die vollgefressenen Tauben auf dem Boden wie ein prall gefüllter Sack. Wer nahrhaftere Happen fand, würgte Verschlucktes empor und schaffte so Platz für den besseren Bissen. Innerhalb von Minuten hatten die Tauben Tausende von Hektar Wald voller Eicheln oder Eckern leer gefressen. War ein Waldstück geplündert, zogen sie weiter.

Wandertauben waren Flugnomaden und auf ein besonderes Phänomen spezialisiert: Oft produzieren Buchen und Eichen, die innerhalb eines Gebietes wachsen, mehrere Jahre lang nur wenige Früchte, sie «sparen» geradezu ihre Energie auf. Dann aber, mit diesem «Anlauf», überschwemmen sie den ganzen Wald ringsum mit Eckern oder Eicheln. In solchen «Mastjahren» gibt es Früchte satt. Dann können die tierischen Bewohner des Waldes gar nicht alles auffressen: Unmengen an Samen bleiben übrig, die keimen und den Bestand des Waldes sichern. Würden die Bäume alljährlich eine gleichbleibende Menge produzieren, wären die Tiere darauf eingerichtet und fräßen jedes Jahr fast alle Früchte auf.

Die Wandertauben waren mit ihrem nomadischen Lebensstil auf genau diese Mast eingestellt. «Blauen Meteoren» gleich streiften sie quer durch den Osten Nordamerikas, immer auf der Suche nach begehrten Sämereien: Weiter, immer weiter, dorthin, wo es genug fruchttragende Bäume gab. Wenn die Vögel mit scharfem Auge Nahrung erblickten, fielen sie ein. Manchmal kamen sie mehrere Jahre nacheinander in eine Region, dann lange nicht mehr. Den Westen Nordamerikas mit den weiten Prärien aber mieden sie.

Ihr ovaler Körper, der lange, keilförmige Schwanz, die zugespitzten Schwingen und starken Brustmuskeln machten die Wandertauben zu extrem schnellen Fliegern. Mit raschen Flügelschlägen propellerten sie durch die Luft und schafften große Strecken in kürzester Zeit. Einmal wurde im Kropf frisch getöteter Tauben im Bundesstaat New York Reis gefunden – viele hundert Kilometer nördlich der nächsten Reisplantage, die irgendwo im Süden, in Georgia oder Carolina lag. Der Stoffwechsel der Wandertauben hatte einen enormen Umsatz, denn er musste für die extreme Lebensweise viel Energie liefern; innerhalb von zwölf Stunden hatten die Tauben daher aufgenommene Nahrung umgesetzt. Die Reiskörner befanden sich aber erst im Kropf, wo sie nach dem Schlucken gespeichert und eingeweicht wurden, bevor die Taube sie verdauen konnte. Also konnte dieser Reis keine sechs Stunden vorher gefressen worden sein. Die erlegten Tauben waren in dieser Zeit folglich mindestens sechshundert Kilometer geflogen, in einer Geschwindigkeit von gut einhundert Kilometern pro Stunde, so schnell wie mancher Tornado!

 

Wenn Wandertauben in einen Wald einfielen, landete jede Taube, wo sie gerade Platz fand, oft eine über der anderen, manchmal vier, fünf übereinander. Auf den Ästen bildeten sich Haufen von Vögeln, manchmal groß wie Fässer, die regelmäßig unter dem ständig zunehmenden Gewicht abbrachen, zu Boden stürzten und dabei Hunderte von Artgenossen erschlugen, die darunter Platz genommen hatten.

Ihre Nistplätze lagen vor allem in den Buchenwäldern im Bereich der Großen Seen und westlich von New York. Der Ornithologe Wilson beschrieb die Ausmaße eines Brutgebietes in der Nähe des Ortes Shelbyville in Kentucky: über sechzig Kilometer lang, mehrere Kilometer breit. Auf jedem Baum brüteten Hunderte Tauben; in jeder Astgabel, in jedem freien Winkel hatten sie ein paar Zweige zu einem einfachen Nest zusammengeklaubt. Darin lag meist nur ein reinweißes Ei, selten zwei, später eben das Taubenküken. Habichte, Bussarde und Adler kreisten in großer Zahl über dem Wald, in dem leichte Beute wartete. Die Geräuschkulisse war abenteuerlich: Abertausende von Tauben flatterten mit den Flügeln, was wie Donner grollte, ständig brach und splitterte Holz. Wegen der...

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