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Gebrauchsanweisung für den Gardasee

3. aktualisierte Auflage 2011

AutorRainer Stephan
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783492958127
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der Lago di Garda hat einfach alles: lebhafte Hafenstädte, aufregende Küstenstraßen und geheime Traumbuchten, die man nur über Trampelpfade erreicht, die steil aufragenden Brescianer Alpen im Norden und eine mediterrane Weite im Süden, bekömmliche Weißweine, deftige Trentiner Hausmannskost und die Spitzenküche der Lombardei, Edelhotels und Campingplätze, mondäne Luxusurlauber und sportliche Outdoorfans. Und Verona mit seinen Modemeilen und einer echten Arena für aufwendige Operninszenierungen. Wer hier gegen den Tou­ristenstrom schwimmen will, braucht diese An­leitung: Sie verrät das Geheimnis der Seesardinen und der Fallwinde - und dass Limone seinen Namen nicht den Zitrusfrüchten verdankt. Weshalb man sich in Verona erst gar nicht auf die Suche nach Julias Balkon machen sollte. Und was es mit der Angst der Deutschen vor den Deutschen auf sich hat.

Rainer Stephan, 1948 in Bonn geboren, Jurist und Journalist, lebt in München und gehört seit 1980 der Redaktion der »Süddeutschen Zeitung« an, u.a. als Streiflicht-Autor und Gastrokritiker. Er ist Herausgeber der »Kleinen Bibliothek der SZ-Kostproben«. Zuletzt erschienen von ihm die »Gebrauchsanweisung für das Elsaß« und die »Gebrauchsanweisung für den Gardasee«.

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Leseprobe

2. Der verschwundene See oder Wie die Schiffe klettern lernten


Wo, bitte, ist der See geblieben? Wir haben doch alles richtig gemacht, haben die Autobahn an der Ausfahrt Rovereto-Süd verlassen, wir sind brav den Schildern Richtung Riva gefolgt, haben uns dann über ein gutes Dutzend ampelbewehrter Kreuzungen durch das scheinbar nur aus Einkaufsmärkten bestehende Städtchen Mori gequält und schließlich Loppio erreicht. Immerhin ging es dabei bereits deutlich bergauf, also dem See entgegen. Noch haben wir ihn nicht gesehen, aber wir wissen ja: Irgendwo da oben muß er liegen.

Nein, wir reden nicht vom Gardasee – noch nicht. Zwar hat man von der Etschtalautobahn aus, auch wenn man es besser weiß, stets das Gefühl, der Gardasee liege deutlich über einem – schließlich geht es von dort aus links wie rechts ausschließlich nach oben. Und die Fahrt von der Autobahn zum Gardasee selbst scheint dieses Gefühl nur zu bestätigen: Man fährt eine knappe halbe Stunde aufwärts bis zum kleinen San-Giovanni-Paß, der den Übergang zwischen Etschtal und Gardasee bildet, braucht aber vom Paß über Nago hinunter an den See allenfalls zehn bis 15 Minuten. Und trotzdem trügt das Gefühl: In Wahrheit liegt der Gardasee, auch wenn er sich zumindest in seinem Nordteil sehr eindeutig als Bergsee präsentiert, gerade mal 65 Meter über dem Meeresspiegel, und damit noch 100 Meter tiefer als die Autobahnabzweigung bei Rovereto.

Doch wie gesagt, noch suchen wir gar nicht nach dem Gardasee, sondern nach einem der 21 – in Worten: einundzwanzig! – kleineren bis winzigen Seen, von denen der riesige Gardasee umgeben ist, dem Lago di Loppio. Nur eben, wir finden ihn nicht, obwohl wir doch hier, zwischen Loppio und dem San-Giovanni-Paß, der Landkarte zufolge gerade dicht an seinem Ufer entlangfahren müßten.

Den Dichterfürsten Dante Alighieri und Johann Wolfgang von Goethe wäre das nicht passiert. Als die beiden hier vorbeikamen, der eine gegen Ende des 12. Jahrhunderts, der andere ein gutes halbes Jahrtausend später, hatten sie nicht die geringste Mühe, den Loppiosee zu finden. Daß sein Anblick sich in ihrem Schaffen dennoch nicht niederschlug, liegt daran, daß sie beide auf bedeutendere Ziele fixiert waren. Goethe zeigte sich, kaum daß er am 12. September 1786 auf seiner italienischen Reise die westliche Spitze des Loppiosees und damit den Paß erreicht hatte, durch den nun auf einen Schlag frei gewordenen Anblick des Gardasees »herrlich belohnt« und ärgerte sich – typisches Urlauberverhalten – lediglich darüber, daß keiner seiner zurückgebliebenen Freunde neben ihm stand, um die »Aussicht, die vor mir liegt«, gebührend zu würdigen. Ganz anders Dante, der gut 500 Jahre vorher hier war. Er verlor nicht einmal über den Gardasee ein Wort; statt dessen ließ der Dichter der »Göttlichen Komödie« sich vom gewaltigen Felssturz der Palestra di Rocca jenseits der Paßhöhe zur Beschreibung jener schauerlichen Felswüste inspirieren, die den Eingang der Hölle umgibt – Sie wissen schon: »Ihr, die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung fahren.«

Merkwürdigerweise tat sich exakt unterhalb der Stelle, an der Dante damals gestanden haben muß, tatsächlich ein unterirdischer Schlund auf – allerdings erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts, als die italienischen Behörden sich entschlossen, einen Kanaltunnel in den Bergwall zwischen Etschtal und Gardasee zu graben, um die Etsch bei Hochwassergefahr schnell entfluten zu können. Und damit sind wir endlich auf der Spur unseres verschwundenen Sees. Entflutet wurde nämlich zunächst nicht die Etsch, sondern der im Zuge der Kanalbauarbeiten angebohrte Loppiosee – und das trotz aller Berechnungen, die genau das verhindern sollten.

Deswegen erstreckt sich heute nördlich der Paßstraße anstelle des Sees ein wild bewachsenes Sumpfgebiet, und zwar eines, das durchaus einen Besuch wert ist. Der kleine Spaziergang zu dem von der tempelartigen Kapelle des heiligen Johannes Nepomuk (nach dem der Paß benannt ist) gekrönten Sumpfinselchen Elosina führt durch ein landschaftlich außerordentlich reizvolles, mittlerweile unter Naturschutz gestelltes Biotop, auf dem zahlreiche seltene und sogar einige anderswo ausgestorbene Pflanzenarten gedeihen. Und er führt zudem zum Schauplatz eines ebenso absurden wie spektakulären historischen Ereignisses, des Transports einer kompletten Kriegsflotte von der Etsch in den Gardasee – und zwar auf dem Land- respektive auf dem Gebirgsweg.

Stattgefunden hat diese Unternehmung im Jahr 1439. Ihre komplizierte Geschichte und Vorgeschichte interessiert uns hier auch deshalb, weil sie zugleich viel über die politische Geographie des Gardasees erzählt, die die Geschicke der Region jahrhundertelang geprägt hat. Auch heute noch grenzen ja drei (mittlerweile ausnahmslos italienische) Provinzen an den See: im Norden das Trentino, das seinerseits zusammen mit Südtirol die weitgehend autonome Gesamtregion Trentino-Alto Adige bildet, im Osten die zur Region Venetien zählende Provinz Verona und im Westen schließlich die lombardische Provinz Brescia.

Eben um die zuletzt Genannte ging es im Jahr 1439 vor allem. Obwohl sie im erweiterten Einzugsgebiet des mächtigen Mailand lag, gehörte die Stadt Brescia damals zu Venedig, wie übrigens fast der gesamte Gardasee selbst. Die einzige Ausnahme bildete das von den Mailändern besetzte Riva.

Der immer neu aufflammende Streit der beiden Machtzentren Venedig und Mailand um die zwischen ihnen liegenden Gebiete Oberitaliens eskalierte in jenem Jahr, als die Venezianer Riva eroberten und die vom Geschlecht der Visconti regierten Mailänder Brescia zu belagern begannen. Weil die Viscontitruppen zugleich die Gebiete südlich des Sees in ihrer Hand hatten, waren sie in der Lage, den von Venedig nach Brescia geschickten Entsatztruppen den Weg zu versperren. Und da sie inzwischen in Riva eine eigene Gardaseeflotte gebaut und vom Stapel gelassen hatten, schien damit auf Dauer auch der Besitz des Gardasees für Venedig verloren.

Die naheliegende Gegenmaßnahme, schnellstens auch eine venezianische Flotte auf den See zu schicken, mußte daran scheitern, daß die Mailänder die einzige Wasserverbindung im Süden des Sees, den Mincio, jederzeit zu sperren in der Lage waren. Für einen unterirdischen Kanal von der Etsch zum Gardasee hätten sie in dieser Situation mit Sicherheit sehr viel gegeben – aber an ein derartiges Projekt war zu jener Zeit nicht einmal zu denken. Unvorstellbar, ja wahnwitzig erschien den Venezianern allerdings auch das Unternehmen, das der aus Kreta stammende venezianische Offizier Nicolò Sorbolo statt dessen vorschlug. Sorbolos Plan nimmt sich auch aus heutiger Sicht noch höchst bizarr aus, bizarrer noch als der fast ein halbes Jahrtausend später von Brian Sweeney, genannt Fitzcarraldo, geplante Transport eines Passagierschiffs über einen brasilianischen Urwaldberg. Anders als Fitzcarraldo (dem Werner Herzog in seinem gleichnamigen Film ein Denkmal schuf) setzte sich Sorbolo nämlich in den Kopf, gleich eine ganze Flotte über die Berge in den Gardasee zu schaffen. Natürlich haben ihn die venezianischen Befehlshaber zunächst einmal ausgelacht; doch bald stellte sich heraus, daß sie keine andere Wahl hatten, wenn sie nicht Brescia und den Gardasee aufzugeben bereit waren.

Quizfrage zwischendurch: In welchen Fluß mündet eigentlich die Etsch? In den Po? In den Tiber? In den Mincio? Oder in keinen von den dreien? Bitte riskieren Sie an dieser Stelle nicht die Publikumsfrage! Denn das Publikum, jedenfalls das deutsche, wird mit geschätzten 85 bis 95 Prozent auf den Po tippen. Doch das ist, ähnlich wie der »oben zwischen den Bergen« liegende Gardasee, wieder nur eine der geographischen Täuschungen, denen wir als notorische Kfz-Reisende unterliegen. Schließlich fährt jeder, der über die Brennerautobahn (oder über den Reschenpaß) in Richtung Süden unterwegs ist, zunächst stundenlang durch das Etschtal und überquert danach den Po. In welchen anderen Fluß sollte die Etsch also münden? Aber nichts da – richtig wäre die Antwort d gewesen. Denn die scheinbar kleine Etsch, die wir von der autostrada aus häufig nur als eine Art kräftigeren Gebirgsbach wahrnehmen, ist in Wahrheit nach dem Po Italiens zweitgrößter Fluß. Daß wir sie unterschätzen, liegt daran, daß sie die wenigen Kilometer zwischen Verona und dem Po nutzt, um unseren motorisierten Wahrnehmungsorganen ein Schnippchen zu schlagen, sich jäh nach links zu wenden und schließlich nicht in irgendeinen anderen Fluß, das wäre unter ihrer Würde, sondern direkt in die Adria zu münden.

Im Mittelalter, wo die Flüsse als Transportwege eine weit wichtigere Rolle spielten als heute, war man sich der Bedeutung der Etsch sehr wohl bewußt. Ganz besonders galt das für die Venezianer; denn die Etschmündung liegt nahe bei Chioggia, und Chioggia wiederum (nebenbei gesagt: ein außerordentlich reizvolles, wie Venedig von zahlreichen Kanälen durchzogenes Städtchen) liegt am Südende der venezianischen Lagune.

Damit war der größte Teil des Weges vorgezeichnet, den die zum Gardasee aufbrechenden sechs großen Galeeren, zwei Galeonen und 26 Kriegsbarken der venezianischen Flotte im Jahr 1439 einzuschlagen hatten: von Venedig nach Chioggia und in die Etsch, danach flußaufwärts über Verona nach Mori. Zwischen diesen beiden Städten lag und liegt die enge und strudelbewehrte Veroneser Klause – ein durchaus gefährliches Hindernis, aber nicht der Rede wert im Vergleich zu dem, das die Flotte bei Mori erwartete: die erst über Wiesen und Äcker, dann über steinige Bergpfade in den Loppiosee (der damals noch ein echter See war), anschließend über eine brüchige, bis...

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