VORWORT
„Heulsuse!“
„Angsthase!“
„Sei kein Spielverderber!“
Erinnert Sie das an früher? Und wie wäre es mit dieser wohlgemeinten Warnung: „Du bist eben empfindlicher, als es gut für dich ist.“
Wenn Sie so sind wie ich, dann haben Sie vielleicht auch bereits viele solcher Sätze gehört und es hat Ihnen das Gefühl vermittelt, dass irgendetwas an Ihnen anders ist. Ich selbst war davon überzeugt, dass ich einen verhängnisvollen Makel besitze, den ich verstecken muss und der mich zu einem zweitklassigen Leben verdammt. Ich dachte, dass mit mir etwas nicht stimmt.
Tatsächlich allerdings sind Sie und ich völlig in Ordnung. Wenn Sie allerdings zwölf oder mehr Aussagen des Tests „Sind sie hochsensibel?“ (Seite 21 ff.) mit „zutreffend“ ankreuzen können oder wenn die Beschreibung in Kapitel 1 auf Sie zutrifft (was noch aussagekräftiger ist), dann sind Sie eine besondere Art von Mensch, nämlich ein hochsensibler* 1, und dieses Buch ist für Sie bestimmt. Alle, die diesen Wesenszug teilen, werde ich von jetzt an als HSM (Hochsensible Menschen) bezeichnen.
Ein empfindsames Nervensystem zu haben ist normal und Empfindsamkeit ist eigentlich ein neutrales Merkmal. Das haben Sie wahrscheinlich geerbt. Es kommt bei ungefähr 15–20 Prozent der Bevölkerung vor. Dies bedeutet, dass Sie Feinheiten in Ihrer Umgebung eher wahrnehmen – ein großer Vorteil in manchen Situationen. Dies bedeutet allerdings auch, dass Sie sich viel leichter überfordert fühlen, wenn Sie über einen zu langen Zeitraum starken Reizen ausgesetzt sind, von Geräuschen und visuellen Eindrücken bombardiert werden, bis Ihnen Ihr Nervensystem Erschöpfung signalisiert. Sensibilität hat also sowohl Vorteile als auch Nachteile.
In unserer Kulturgemeinschaft wird es jedoch nicht als Vorzug betrachtet, wenn man diese Eigenschaft besitzt und diese Tatsache hat sich wahrscheinlich besonders stark auf Sie ausgewirkt. Wohlmeinende Eltern und Lehrer haben vermutlich versucht, Ihnen zu helfen diesen Wesenszug zu überwinden, so als ob er eine Schwäche sei. Andere Kinder konnten auch nicht gerade gut damit umgehen. Als Erwachsene(r) war es wahrscheinlich auch schwierig den passenden Beruf zu finden, die richtigen zwischenmenschlichen Beziehungen einzugehen und überhaupt ein Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit zu entwickeln.
Was dieses Buch Ihnen bietet
Dieses Buch enthält grundlegende, detaillierte Informationen über diesen Wesenszug, die so nirgendwo sonst existieren. Es ist das Produkt einer fünf Jahre lang andauernden Untersuchungsreihe tiefgründiger Gespräche, klinischer Erfahrung, Kursen und individuellen Beratungen für Hunderte von HSM. Ihm liegt das gründliche Lesen zwischen den Zeilen dessen zugrunde, was die Psychologie zwar schon über dieses Persönlichkeitsmerkmal herausgefunden, aber noch nicht wirklich begriffen hat. In den ersten drei Kapiteln werden Sie alle grundlegenden Tatsachen über Sensibilität kennen und verstehen lernen. Sie werden erfahren, wie Sie mit der Überreizung und Übererregung Ihres Nervensystems umzugehen haben.
Außerdem beleuchtet dieses Buch die Auswirkung Ihrer Sensibilität auf Ihre persönliche Geschichte, Ihre berufliche Laufbahn, zwischenmenschliche Beziehungen und Ihr Innenleben. Es richtet Ihr Augenmerk auf die Vorteile, die Sie vielleicht noch nicht bedacht haben. Zudem gibt es Ratschläge zu einigen typischen Problemen, mit denen HSM zu tun haben, wie zum Beispiel Schüchternheit oder die Schwierigkeit, die richtige Art von Arbeit zu finden.
Wir werden eine ziemlich weite Reise unternehmen. Die meisten der HSM, denen ich mit Informationen aus diesem Buch geholfen habe, haben mir erzählt, dass sich ihr Leben dramatisch verändert hat – und sie haben mir gesagt, dass ich das an Sie weitergeben soll.
Ein Wort an die nicht ganz so Sensiblen
Zunächst einmal sind Sie hier besonders willkommen, wenn Sie zu diesem Buch gegriffen haben, weil Sie Eltern eines HSM sind beziehungsweise mit ihm oder ihr befreundet oder verheiratet sind. Ihre Beziehung zu HSM wird sich entscheidend verbessern.
Zweitens hat eine Telefonumfrage unter dreihundert zufällig ausgewählten Personen aller Altersgruppen ergeben, dass 20 Prozent extrem oder ziemlich sensibel sind, während weitere 22 Prozent sich als mäßig sensibel einschätzen. Diejenigen, die in diese gemäßigt sensible Kategorie fallen, werden ebenso von diesem Buch profitieren wie HSM.
Übrigens meinten 42 Prozent, sie seien überhaupt nicht sensibel, was darauf hindeutet, dass ein HSM das Gefühl haben muss, mit dem größten Teil der Menschheit nicht Schritt halten zu können. Denn es ist natürlich genau dieser Teil der Bevölkerung, der das Radio viel zu laut aufdreht oder ständig auf die Hupe drückt.
Außerdem kann man mit Sicherheit sagen, dass jeder Mensch zuweilen höchst empfindsam werden kann – beispielsweise nach einem Monat Abgeschiedenheit in einer Berghütte. Menschen werden auch mit zunehmendem Alter sensibler. Wahrscheinlich haben die meisten Leute, ob sie es nun zugeben oder nicht, eine Seite, die ungemein feinfühlig sein kann, die aber nur in bestimmten Situationen in Erscheinung tritt.
Einige Mitteilungen für Nichtsensible
Manchmal fühlen sich die Nicht-HSM ausgeschlossen und verletzt durch die Vorstellung, dass wir anders sind als sie und vielleicht so klingen, als glaubten wir irgendwie besser zu sein. Sie sagen dann: „Meinst du, ich wäre nicht sensibel?“ Ein Problem liegt darin, dass sensibel auch bedeutet einfühlsam zu sein und Dinge bewusster wahrzunehmen. Diese Qualitäten können sowohl HSM als auch Nicht-HSM besitzen und sie werden optimiert, wenn wir uns wohl fühlen und aufmerksam gegenüber Feinheiten sind. Wenn sie gelassen sind, können HSM aber noch viel feinere Nuancen wahrnehmen als andere. Wenn ihre Nerven jedoch überreizt sind, was ein häufiger Zustand bei HSM ist, sind sie alles andere als verständnisvoll oder sensibel. Stattdessen fühlen sie sich überfordert, stehen neben sich und wollen allein sein. Im Gegensatz dazu benehmen sich Ihre unsensibleren Freunde in solch chaotischen Situationen anderen gegenüber noch immer verständnisvoll.
Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht, wie ich diese Eigenschaft eigentlich nennen könnte. Ich wollte nicht den Fehler wiederholen, sie mit Introvertiertheit, Schüchternheit, Gehemmtsein oder einer Menge anderer fälschlicher Bezeichnungen zu verwechseln, die andere Psychologen uns auferlegt haben. Keiner der Begriffe drückt nämlich den neutralen und erst recht nicht den positiven Aspekt dieser Eigenschaft aus. Der Begriff „Sensibilität“ macht auf neutrale Weise die größere Empfänglichkeit gegenüber Reizen deutlich. Es schien an der Zeit, mit der Voreingenommenheit gegenüber HSM abzurechnen, indem eine Bezeichnung gewählt wurde, die uns gerecht wird.
Andererseits ist die Tatsache hochsensibel zu sein, für einige alles andere als positiv. Während ich in meinem Haus ganz in Ruhe sitze und dies zu einer Zeit schreibe, da niemand dieses Persönlichkeitsmerkmal thematisiert, gebe ich Folgendes zu bedenken: Dieses Buch wird mehr als genügend verletzende Witze und Bemerkungen über HSM hervorrufen. Denn die Vorstellung, hochsensibel zu sein, besitzt bereits ein enormes Diskussionspotenzial in der Gesellschaft, das fast so stark ist wie die Faszination, die von Fragen rund um die viel diskutierten Geschlechterdifferenzen ausgeht. Diese beiden Themenkomplexe werden übrigens häufig miteinander vermischt: Es gibt genauso viele sensible männliche wie weibliche Neugeborene. Angeblich aber besitzen Männer diese Eigenschaft nicht, sondern nur Frauen. Beide Geschlechter zahlen einen hohen Preis für dieses Missverständnis. Schützen Sie also sowohl Ihre Sensibilität als auch Ihr gerade entwickeltes Verständnis dafür, indem Sie, sofern Ihnen das vielleicht am vernünftigsten erscheint, erst gar nicht darüber reden.
Genießen Sie einfach das Bewusstsein, dass es da draußen viele Gleichgesinnte gibt. Wir haben uns zwar noch nicht kennen gelernt, aber das tun wir jetzt und sowohl wir als auch die Gesellschaft wird davon profitieren. In den Kapiteln 1, 6 und 10 werde ich dazu Stellung nehmen, wie wichtig HSM für die Gesellschaft sind.
Was Sie brauchen
Ich habe herausgefunden, dass HSM von einer Vorgehensweise in vier Schritten profitieren und habe diese deshalb auch für dieses Buch übernommen:
1. Selbsterkenntnis: Sie müssen verstehen, was es bedeutet, ein HSM zu sein, wie dies mit Ihren anderen Persönlichkeitsmerkmalen zusammenpasst und wie sich die negative Haltung der Gesellschaft auf Sie ausgewirkt hat. Außerdem sollten Sie Ihren empfindlichen Körper sehr gut kennen. Ignorieren Sie die Signale Ihres Körpers nicht länger, nur weil er...