Vorbemerkung
Die Idee zu diesem Buch entstand am 30. September 2010, dem Tag, der als schwarzer Donnerstag in die Geschichte Stuttgarts eingegangen ist.
Ich war früh im Schlosspark. In meinem neuen Roman sollten die Ereignisse rund um das Großprojekt Stuttgart 21 in eine Nebenhandlung münden, und zur Recherche wollte ich mir eine Demonstration Stuttgarter Schüler ansehen, die an diesem Tag einen Schulstreik unter dem Motto »Bildung statt Prestigebahnhof« organisiert hatten. Ich schloss mein Fahrrad an einem Verkehrschild in der Lautenschlagerstraße ab, rechtzeitig genug, um zu hören, dass 2000 Schüler auf den Demonstrationszug durch die Stadt verzichten und direkt zum Park gehen wollten, wo sie ohnehin ihre Abschlusskundgebung angemeldet hatten.
Dass dort gleichzeitig Hundertschaften der Polizei in Kampfanzügen ihre Plätze rund um jene jahrhundertealten Bäume bezogen, die für die Tieferlegung der Schienen gefällt werden sollten, ausgerüstet mit Pfefferspray und Tränengas, und dass Wasserwerfer anrollten, wussten weder sie noch ich.
Ich habe schreckliche Bilder gesehen. Am schlimmsten war vielleicht jene Szene, als der Schütze eines Wasserwerfers auf Jugendliche schoss, die auf die Bäume geklettert waren. Es gab dafür keinen Grund außer Mutwillen. Die Jungs und Mädchen saßen auf Ästen, etwa fünf bis acht Meter über dem Boden. Ich weiß, welch hohen Druck der Wasserstrahl hatte, denn ich wurde zweimal getroffen, als wahllos in die Menge geschossen wurde, und das aus viel größerer Distanz, und trotzdem konnte ich mich einmal nicht auf den Beinen halten.
© Manfred Grohe / Gegenlicht 21
Wären die Jugendlichen aus dieser Höhe gestürzt, sie hätten tot sein können.
Wer hatte dies befohlen, und wer war der Barbar, der diesen Befehl ausführte?
Man mag diesen Begriff für übertrieben halten, aber was ich an diesem Nachmittag erlebte, war ein Albtraum. Er begann, sobald wir den Park betraten. Als die Schüler in den Park zogen, hatte die Organisation der »Parkschützer«, die mit zum Aktionsbündnis gegen den Neubau des Bahnhofs gehörten, bereits Alarm ausgelöst. Aber es dauerte, bis die ersten Erwachsenen dazukamen. In den ersten Stunden war ich einer der wenigen Älteren unter den Demonstranten. Dann erschien die Polizei. Die Beamten bildeten Fünfergruppen, Rücken an Rücken, wie aus Menschen gebaute Wagenburgen. Es wirkte fast lächerlich, besonders angesichts einer gut gelaunten Menge von Jugendlichen, die ebenso in Party- wie in Demonstrationslaune war. Dann zogen die Polizisten in Reih und Glied durch den Park – und zogen wieder ab. All das schien improvisiert und hatte auch etwas Komisches.
Doch plötzlich tauchten zivil gekleidete Polizisten auf, junge Männer mit schwarzen Wollmützen und schwarzen Hosen, als Beamte zu erkennen an einer gelben Weste mit der Aufschrift »Polizei«. Diese fünfköpfigen Einsatzteams, immer begleitet von einem ebenfalls zivil gekleideten Kameramann, marschierten zu einzelnen Bäumen und bildeten einen Kreis um den Stamm. Die Jugendlichen umringten sie, sprachen auf sie ein; sie vermuteten, diese Bäume sollten gefällt werden. Plötzlich, ohne Vorwarnung, schlug einer dieser Polizisten einem Schüler mit voller Wucht ins Gesicht. Sein Kollege filmte den Vorgang. Zwei Kids brachten ihren verletzten Mitschüler fort. Ich fotografierte den Schläger mit der Handykamera. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, was ich sah: Das waren Eskalationstrupps. Sie wollten Schlägereien provozieren. Sie wollten Bilder gewalttätiger Demonstranten.
© Guntram Gerst / Gegenlicht 21
Sie bekamen die Bilder nicht. Wenn es ein Wunder an diesem schwarzen Donnerstag gab, dann nicht nur, dass es nicht mehr Schwerverletzte – oder sogar Tote – gegeben hat, sondern auch, dass die Demonstranten die Aggressionen, die von der Polizei ausgingen, nicht mit gleicher Münze zurückgezahlt haben. Sie antworteten stets mit dem Sprechchor: »Wir sind friedlich, was seid ihr?«
Als die Wasserwerfer kamen, bildete eine große Gruppe Schüler, unterstützt von den in den Park geeilten Erwachsenen, eine Sitzblockade. Bis in den Abend zog sich die einseitige Schlacht. Ich sah ältere Damen, die der harte Strahl der Wasserwerfer hochhob und wegschleuderte. Ich sah ein etwa siebzehnjähriges Mädchen, mit grüner Strähne im Haar, schreiend vor Schmerzen, sich die Arme vor die von Pfefferspray getroffenen, brennenden Augen haltend. Ich sah einen ehemaligen Richter, der fassungslos auf das Geschehen starrte und sagte: »Bin ich froh, dass ich für diesen Staat kein Recht mehr sprechen muss.« Ich sah einen Mann, der den Notruf wählte und ins Telefon brüllte: »Sie lassen keine Sanitäter durch! Sie haben mir eben gesagt, dass die Polizei keine Sanitäter in den Park lässt.« Ich sah, wie Frauen und Männer ein notdürftiges Lazarett improvisierten, um den Dutzenden, die durch das Pfefferspray verletzt worden waren, die Augen auszuwaschen und ersten Trost zu spenden.
Irgendwann zog die Polizeikette auf der rechten Seite vor, und ich stand plötzlich unmittelbar vor einer Reihe robocopartiger Polizisten. Aus der zweiten Reihe hob sich eine Hand mit der Sprühdose und zielte genau auf mein Gesicht. So schnell ich konnte, drehte ich mich um, und diese Gelegenheit nutzte ein anderer dieser Helden in Uniform, um mir von hinten fest auf den Kopf zu schlagen. Ich hatte noch Tage später Schmerzen.
© Guntram Gerst / Gegenlicht 21
Die Schüler hielten unter einer Plane immer noch den Wasserwerfern stand. Bis heute schäme ich mich, dass ich nicht den Mut hatte, mich zu ihnen zu setzen.
Am Abend ging ich nach Hause. Ich war nass bis auf die Haut und mein neuer Wintermantel war ruiniert. Nach einer heißen Dusche schaltete ich das heute-journal ein. Marietta Slomka interviewte Innenminister Heribert Rech. Mein Gott, dachte ich, wie müssen im Innenministerium die Korken geknallt haben, wenn Rech so große Mühe hat, die klaren Fragen der Journalistin zu beantworten.
Er sagte: Aber heute sind unsere Anti-Konflikt-Teams einfach abgewiesen worden, sie wurden nicht angenommen. (…) Es waren sehr schnell sehr viele gut organisierte Demonstranten vor Ort, und die haben sich dann sehr gewaltbereit gezeigt.
Die Lüge ist genauso demütigend wie die Schläge. Und sie macht genauso wütend. Was habe ich dem entgegenzusetzen?
So entstand die Idee zu diesem Buch.
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In diesem Buch werden die unterschiedlichen Aspekte von Stuttgart 21 kritisch gewürdigt. Die Autoren untersuchen das Projekt unter bahntechnischen, ökologischen, finanziellen, denkmalschützerischen, stadtplanerischen und architektonischen Gesichtspunkten. Spätestens seit dem Polizeieinsatz am 30. September 2010 werden im Zusammenhang mit Stuttgart 21 aber auch ganz grundlegende Fragen der Weiterentwicklung und des Ausbaus des demokratischen Systems diskutiert. Deshalb ist dieses Buch in die beiden Kapitel: Der Bahnhof und Die Demokratie unterteilt. Ziel dieses Buch ist es, die Argumente gegen Stuttgart 21 zu bündeln und geschlossen vorzutragen. Es finden sich daher Beiträge, die bereits an anderen Orten veröffentlicht wurden, und Aufsätze, die speziell für dieses Buch geschrieben wurden. Nahezu alle angesprochenen Autoren haben sich trotz des enormen Zeitdrucks spontan bereit erklärt, an diesem Buch mitzuwirken. Ich danke ihnen allen sehr herzlich. Ich bedanke mich bei den Fotografen von der Initiative Gegenlicht 21 sowie bei Andreas Menke und Nils Schacht, die die Fotografien zu diesem Band beigesteuert haben. Ich bedanke mich besonders bei meinem Lektor Lutz Dursthoff, der die Beiträge in Rekordzeit druckfertig machte. In seiner letzten Mail schrieb er: »Uff, jetzt bin ich auch ein Stuttgarter.« Lieber Lutz, willkommen in einer schönen und...