Einleitung
Wenn Sie diese Worte lesen, dann haben Sie bereits den begründeten Verdacht, dass Ihr Kind hochsensibel ist. Um ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, was das bedeutet, empfehle ich Ihnen, die Checkliste auf den Seiten 17 und 64 durchzuarbeiten. Wenn viele der dort aufgelisteten Aussagen auf Ihr Kind zutreffen, lesen Sie weiter … Herzlich willkommen!
Beinahe jeder weiß, dass Kinder von Geburt an eine eigene Persönlichkeit besitzen. Das belegen Aussagen wie: „Sie wusste schon als Baby genau, was sie wollte und setzte ihren Willen durch.“, „Ob man ihn fütterte oder nicht, wickelte oder nicht – es machte keinen Unterschied: Er war immer gut gelaunt.“ Wie jedes andere Kind hat auch das Ihre seine eigene, einzigartige Kombination aus angeborenen Charakterzügen geerbt. Betrachtet man jeden einzelnen Wesenszug separat, ist er wahrscheinlich nicht einzigartig, sondern typisch für eine Vielzahl von Kindern, so dass es nicht schwerfällt, ihm ein bestimmtes Attribut zuzuweisen, wie „willensstark“, „gutmütig“ usw.
Einer dieser häufig auftretenden Charakterzüge, die Kinder erben können, ist die Hochsensibilität, die man bei 15 bis 20 Prozent aller Kinder vorfindet. (Der Prozentsatz liegt bei Jungen und Mädchen gleich hoch.) Einige Säuglinge scheint es kaum zu kümmern, womit sie gefüttert werden oder welche Raumtemperatur herrscht; es stört sie nicht, wenn die Stereoanlage laut aufgedreht ist oder das Licht sehr hell ist. Hochsensible Säuglinge scheinen jedoch jede geringe Veränderung des Geschmacks oder der Raumtemperatur zu bemerken; bei lauten Geräuschen zucken sie zusammen, und wenn ihnen helles Licht in die Augen scheint, weinen sie. Wenn sie größer werden, neigen sie auch auf emotionaler Ebene zu sensiblen Reaktionen: Sie sind schneller verletzt und brechen deshalb eher in Tränen aus als andere. Sie neigen dazu, sich mehr Sorgen zu machen, können aber andererseits auch über alle Maßen glücklich sein, so glücklich, dass „sie es kaum ertragen können“. Sie handeln nicht spontan, sondern überlegt, so dass sie auf ihre Umwelt häufig einen scheuen oder ängstlichen Eindruck machen, obwohl sie lediglich eine beobachtende Haltung einnehmen. Wenn sie älter werden, sind sie oft bemerkenswert liebenswürdig und gewissenhaft. Ungerechtigkeit, Grausamkeit oder Verantwortungslosigkeit bekümmern sie sehr.
Obwohl hochsensible Kinder (HSK) viele Eigenschaften gemeinsam haben, sollte man sich vor Verallgemeinerungen hüten. Dank einer einzigartigen Kombination aus ererbten Wesenszügen einerseits und den verschiedenen Erziehungsmaßnahmen und Schulerlebnissen andererseits ist jedes HSK etwas ganz Besonderes. So kann Ihr HSK kontaktfreudig sein oder lieber allein spielen, vielleicht ist es beharrlich, vielleicht lässt es sich aber auch leicht ablenken, es kann rechthaberisch und fordernd sein oder aber auch so angepasst, dass es „beinahe zu brav“ ist. Trotzdem gibt es einen gemeinsamen Wesenszug der Sensibilität, der all diesen Kindern gemeinsam ist, und den auch Sie in Ihrem Kind erkennen können.
Weshalb dieses Buch entstand
Jetzt ist es wohl an der Zeit, Ihnen ein wenig mehr über meine Studien über Hochsensibilität bei Erwachsenen zu erzählen, und darüber, wie es dazu kam, dass ich meine Arbeit auf Kinder und Kindererziehung ausweitete. Ich arbeite nicht nur in der Forschung, sondern bin auch approbierte klinische Psychologin. Außerdem bin ich ebenfalls eine hochsensible Person und Mutter eines solchen Kindes. Wie in Kapitel 1 beschrieben, begann ich vor zwölf Jahren, den Wesenszug der Hochsensibilität zu erforschen, und habe bislang Hunderte, vielleicht Tausende sensible Erwachsene, Eltern und Kinder interviewt und beraten. Von weiteren tausend Personen habe ich mittels eines Fragebogens Daten gesammelt. Diese Ergebnisse meiner Untersuchung wurden in führenden Fachzeitschriften veröffentlicht. Die Informationen, die Sie in diesem Buch finden, basieren mithin auf gründlichen Untersuchungen. Tatsächlich wird die Problematik der Hochsensibilität im Hinblick auf Kleinkinder und Kinder bereits seit etwa 50 Jahren näher erforscht, wobei jedoch eine andere Terminologie verwendet wurde. Die Psychologen sprachen von niedriger Reizschwelle, angeborener Schüchternheit, Introvertiertheit, Ängstlichkeit, von Hemmungen, einer negativen Grundhaltung oder Furchtsamkeit. Einer der Hauptgründe, warum ich dieses Buch schrieb, lag also in der Notwendigkeit, diesem Wesenszug einen neuen Namen zu geben, da die veraltete Terminologie den Kindern nicht gerecht wurde. Die neue Begrifflichkeit ermöglicht uns nicht nur eine wesentlich genauere Beschreibung, sondern sie eröffnet uns auch neue Wege, unsere hochsensiblen Kinder besser zu verstehen.
So neigen wir beispielsweise dazu, ein eher beobachtendes Kind für scheu oder ängstlich zu halten, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sein Verhalten die angeborene Neigung eines sensiblen Individuums ist, erst einmal innezuhalten und zu beobachten, bevor es aktiv wird. Von wieder anderen Kindern heißt es, dass sie „überreagieren“ oder „unwichtige Informationen nicht aussortieren können“, weil sie eine Antenne für jede Stimmung und jedes Detail Ihrer Umwelt haben. Aber was ist falsch daran, wenn unser Nervensystem die feinen Nuancen einer jeglichen Situation zu erkennen vermag? (Außerdem: Wer kann letztendlich beurteilen, was wirklich unwichtig ist? Menschen, die den Notausgang fest im Blick behalten, werden von ihrer Umwelt gern als zu „detailfreudig“ verurteilt – bis das Feuer ausbricht, das ihnen Recht gibt.)
Ein Grund, warum ich dieser psychologischen Disposition einen neuen Namen geben wollte, lag darin, dass ich selbst hochsensibel bin und weiß, was im Inneren eines Betroffenen vor sich geht. Es ist richtig, dass wir dazu neigen, uns in unangenehmen Situationen schüchtern oder ängstlich zu verhalten, aber ich bin davon überzeugt, dass der dafür verantwortliche fundamentale Wesenszug Sensibilität ist, und nicht Schüchternheit oder Ängstlichkeit. Des Weiteren haben sowohl meine eigenen Untersuchungen als auch die anderer Experten gezeigt, dass in erster Linie die elterliche Erziehung darüber entscheidet, ob der Ausdruck von Sensibilität einen Vorteil oder eine Quelle der Angst darstellt. Es gibt einfach zu viele hochsensible Individuen – wie bereits gesagt, sind es etwa 20 Prozent der Bevölkerung –, dass dieser Wesenszug einen bleibenden Nachteil darstellen könnte. Das hätte die Evolution nicht zugelassen. Wenn wir nicht mehr von Schüchternheit, sondern von Sensibilität sprechen, erkennen wir plötzlich die zahllosen positiven Seiten dieses Wesenszuges. Wir sehen, dass viele sensible Individuen gut und erfolgreich leben, wir sprechen in der richtigen Weise über diese Charaktereigenschaft und sind plötzlich in der Lage, als Erziehende besser auf unsere sensiblen Kinder einzugehen.
Die beste Rechtfertigung für diese terminologische Veränderung liefert jedoch die Reaktion der unzähligen Leser meiner Bücher Sind Sie hochsensibel? und Hochsensibilität in der Liebe. Oft schrieben sie mir: „Das bin ich – das passt ganz genau auf mich, und ich wusste bisher nicht, dass es auch andere Menschen mit diesen Gefühlen gibt … mit diesem starken Verlangen nach Zeit und Ruhe. Ich hatte keine Ahnung, dass andere Menschen sich ihrer Umwelt ebenfalls ständig bewusst sind und sich – genau wie ich – ständig fragen, ob sie auch wirklich alles richtig machen.“ (Derlei Aussagen sind keineswegs trivial, sondern gelten für viele Menschen. Mein erstes Buch Sind Sie hochsensibel? ist mittlerweile ein Bestseller und wurde in die holländische, japanische, chinesische, griechische und polnische Sprache übersetzt.) Viele der Menschen, die Kontakt mit mir aufnahmen, wünschten sich im Nachhinein, auch ihre eigenen Eltern hätten über Hochsensibilität Bescheid gewusst. Manche erbaten auch Ratschläge, um ihr eigenes sensibles Kind optimal zu fördern.
Deshalb erschien es mir wichtig, Das hochsensible Kind zu schreiben, vor allem, weil die Ratschläge in den vielen – meist guten, aber allgemein gehaltenen – Erziehungsratgebern die Themen vernachlässigen, die für HSK wichtig sind, wie zum Beispiel das Bedürfnis nach einem konstanten optimalen Stimulationsniveau, und der Methode, wie man dieses erreichen kann. Bei hochsensiblen Kindern ist es von ungeheurer Bedeutung, den Punkt der Erregung, also die Reaktion auf innere und äußere Reize, richtig einzuschätzen. Fehleinschätzungen führen hier oft zu ernsten Problemen. Werden in einem Buch beispielsweise disziplinarische Maßnahmen empfohlen, die HSK stark übererregen, so sind diese Kinder viel zu aufgewühlt, um die moralische Lektion hinter der Zurechtweisung zu erkennen. Deshalb sind herkömmliche Erziehungsratgeber für die Eltern von HSK nicht sinnvoll.
Vor allem habe ich dieses Buch geschrieben, weil ich weiß, dass viele von Ihnen enorme Probleme bei der Erziehung ihres hochsensiblen Sprösslings haben. Das sollte nicht so sein. Vielleicht sind Sie sogar zu dem Schluss gekommen, dass mit Ihrem Kind oder mit Ihnen als Elternteil etwas nicht in Ordnung ist. Dieses Buch wird Ihnen mit Sicherheit helfen, dieses Gefühl abzubauen. Sie werden entspannter mit Ihrem Kind umgehen, so dass auch Ihr Kind sich entspannen kann.
Gebrauchsanweisung für dieses Buch
Lesen Sie dieses Buch ganz. Die erste Hälfte handelt von Sensibilität, davon, wie Ihre Kindererziehung von Ihrem eigenen Temperament beeinflusst wird, und von den wichtigsten Problemen, die im Umgang mit HSK auftauchen, unabhängig vom Alter...