Es ist schon seltsam, wie lange sich die Legende von der amerikanischen Isolationspolitik in der offiziellen Geschichtsschreibung halten konnte. Selbst ein oberflächlicher Blick in die Geschichte der US-Außenpolitik zeigt, dass diese Mär in völligem Widerspruch zu den historischen Fakten steht. Die imperiale Politik der Vereinigten Staaten setzte eben nicht erst mit der Machtergreifung der Bush-Dynastie ein sondern bereits weit früher, keine zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit.
Schon die Gründung der Vereinigten Staaten und die spätere Ausdehnung über den nordamerikanischen Kontinent wurde nur mit der Zerschlagung zahlreicher indianischer Nationen erreicht, deren Herrschaftsgebiete oftmals durchaus der Definition eines Staates entsprachen. Die Einheimischen wurden die ersten Opfer amerikanischer Machtansprüche. Um sich ihr Land anzueignen, schlossen die Vereinigten Staaten 800 Verträge mit den verschiedenen indianischen Nationen. Rund 430 davon wurden vom Kongress nicht ratifiziert. Dennoch wurde von den Indianern erwartet, dass sie sich an die Bestimmungen dieser Verträge hielten. „Noch tragischer jedoch war, dass die USA von den 370 Verträgen, die ratifiziert wurden, nicht einen einzigen einhielten“, schrieb Daniel K. Inouye, der Vorsitzende des Senate Select Committee on Indian Affairs im Vorwort zu Oren Lyons‘ „Exiled in the Land of the Free“. Als die ersten Europäer an der Ostküste eintrafen, lebten zwischen 20 und 50 Millionen Indianer in dem Land, das später die Vereinigten Staaten wurde. Ende des 19. Jahrhunderts waren gerade noch 250 000 übrig. Es hatte ihnen nicht geholfen, dass die sogenannten Gründerväter die Indianer durchaus nicht als die Wilden sahen, die sie in den Augen der Pelztierjäger, Abenteurer, Goldgräber, Viehzüchter und Farmer waren, die sich das Land aneigneten. Sonst hätten sie wohl kaum die föderale Regierungsform der Sechs Nationen der Irokesen-Konföderation so genau studiert und sogar empfohlen, sich an diesem Modell zu orientieren. „Die Liga der Irokesen inspirierte Benjamin Franklin, sie zu kopieren, als er die Staatenföderation plante“, notierte John F. Kennedy im Vorwort zu William Brandon’s „American Heritage Book of Indians“.
Spätere Generationen folgten wieder den Vorstellungen der bigotten Pilgrim Fathers, die schon kurz nach ihrer Ankunft (1640) in einer Resolution ihre Ansprüche sehr klar formuliert hatten: „1. Die Erde und alles darin ist Gottes. 2. Gott mag die Erde oder irgendeinen Teil davon seinem auserwählten Volk geben. 3. Wir sind sein auserwähltes Volk.“[13] Schon die Vorstellungen der bescheidensten Unabhängigkeitskämpfer um George Washington beschränkten sich nicht nur auf die 13 Ostküstenstaaten, sondern sahen die Westgrenze ihres neuen Staates viel weiter im Westen, am Mississippi. 30 Jahre später träumte Thomas Jefferson schon von weiteren Eroberungen und sah die Rocky Mountains als die Westgrenze der USA. Weitere 40 Jahre später, 1845, schrieb der Essayist John L. O’Sullivan in seinem Hausblättchen, den New York Morning News: „Mehr, mehr, mehr!...Bis unsere nationale Bestimmung erfüllt ist...und der ganze grenzenlose Kontinent unser ist.“ Amerika müsse „bald die ganze Hemisphäre von der eisigen Wildnis des Nordens bis zu den fruchtbaren Regionen des lächelnden Südens“[15] umfassen, eiferte ein anderer Kolumnist zur gleichen Zeit im New York Herald. Und im Kongress wurde von einer zukünftigen Ausdehnung „vom Isthmus von Darien (Panama) bis zur Behringstraße“ schwadroniert. 1912 stellte Präsident William Howard Taft klar: „Der Tag ist nicht fern, wenn drei Stars and Stripes an drei gleichweit entfernten Punkten unser Territorium markieren werden: am Nordpol, am Panamakanal und am Südpol. Die ganze Hemisphäre wird uns gehören, tatsächlich gehört sie uns aufgrund unserer rassischen Überlegenheit moralisch schon heute.“[17]
Expansionismus und Manifest Destiny beherrschten das Denken und Handeln der Siedler wie der Präsidenten. Staaten wurden annektiert, die seit Jahrtausenden dort ansässigen Indianer mit Feuer, Hunger und Pocken-infizierten Decken ermordet, ausgerottet oder in Reservate gesperrt. Noch vor dreißig Jahren lebten über 20 Stämme in den USA, ohne die amerikanische Staatsbürgerschaft zu besitzen. In einer Art Salamitaktik eigneten sich die USA über die Jahrzehnte große Gebiete an, die zum spanischen Kolonialreich gehörten. Beinahe prophetisch lesen sich O’Sullivans weitere Ausführungen: „Wir sind die Nation des menschlichen Fortschritts, und wer wird, was kann uns auf unserem Marsch vorwärts Grenzen setzen? Die Vorsehung ist mit uns, und keine irdische Macht kann… Für diesen gesegneten Auftrag an die Nationen der Welt, die ausgeschlossen sind vom lebenspendenden Licht der Wahrheit, ist Amerika auserwählt… Wer kann daran zweifeln, dass unser Land dazu bestimmt ist, die große Nation der Zukunft zu sein?“[18]
Zwar beschrieben die Kolonialherren schon im 19. Jahrhundert ihre militärischen Interventionen in den Kolonialreichen manchmal als „Terrorismus-Bekämpfung“. Häufiger jedoch bezeichneten sie Völker, die keine Lust hatten, kolonisiert zu werden oder unter einer Kolonialherrschaft zu leben, schlicht als „Wilde“. Regierungen, die auf ihrer staatlichen Souveränität beharrten, waren „Banditen“, „islamische Fanatiker“ oder (vor allem im asiatisch-pazifischen Raum) „Piraten“.
Präsident Theodore Roosevelt etwa sprach und schrieb häufig über diese „verachtenswerten, kleinen Krea-turen in Bogotá“, diese „Banditen in Bogotá“, „diese Bande von Hasen (jack rabbits) in Bogotá“, denen Wa-shington wohl „eine Lektion erteilen muss.“[19] Die „Banditen“, „Hasen“ oder „kleinen Kreaturen“ waren die kolumbianische Regierung und der kolumbianische Senat, die zwar den Franzosen eine Lizenz zum Bau ei-nes Kanals durch Panama erteilt hatten, sich aber weigerten, diese Lizenz nach dem Scheitern Ferdinand de Lesseps auf die USA zu übertragen. (Panama war bis 1903 eine kolumbianische Provinz). In Lateinamerika geschieht nichts ohne das Einverständnis Washingtons. Schon 1829 schrieb Lateinamerikas Unab-hängigkeitskämpfer Simón Bolívar aus Guayaquil in einem Brief an den britischen Chargé d’Affaires in Kolumbien, Oberst Patrick Campbell: „Die Vereinigten Staaten scheinen von der Vorsehung dazu ausersehen zu sein, im Namen der Freiheit Elend über Amerika zu bringen.“[20] 65 Jahre später erklärte US-Außenminister Richard Olney offen: „Tatsächlich sind die USA praktisch der Souverän auf diesem Kontinent, und ihre Anweisungen sind Gesetz in allen Angelegenheiten, wo sie intervenieren.“
„Unsere Botschafter bei den fünf kleinen Republiken zwischen der mexikanischen Grenze und Panama... waren Berater, deren Rat in den Hauptstädten, wo sie residierten, praktisch als Gesetz akzeptiert wurde,“ notierte Robert Olds, Staatssekretär im State Department, 1927 in einem Memorandum: „Wir kontrollieren die Geschicke Mittelamerikas, und wir tun das aus dem einfachen Grund, dass das nationale Interesse einen solchen Kurs diktiert... Bis heute hat Mittelamerika immer verstanden, dass Regierungen, die wir anerkennen und unterstützen, an der Macht bleiben, während jene, die wir nicht anerkennen und unterstützen, scheitern.“[22]
Gleichzeitig operierten amerikanische Verbände zunehmend auch in entfernteren Regionen, im Mittelmeer, in Afrika, in Asien, im Pazifik und besonders im Nahen und Mittleren Osten. Eine Reihe von Übereinkünften, die die Vereinigten Staaten in den zwanziger Jahren schlossen, um die Ölförderung zu begrenzen und sicherzustellen, dass die bedeutendsten (zumeist amerikanischen) Firmen den Ölpreis auf den Weltmärkten kontrollieren konnten, kulminierte 1928 im sogenannten Red Line Agreement, das bis in die vierziger Jahre die Ölförderung und -politik im Mittleren Osten bestimmte. Standard Oil und Mobil erhielten Teile an der bislang rein britischen Iraq Petroleum Company. 1944 schlossen Washington und London das Anglo-American Petroleum Agreement, in dem die beiden Regierungen das Öl des Mittleren Ostens unter sich aufteilten. „Das persische Öl… gehört euch“, überließ US-Präsident Franklin D. Roosevelt gegenüber Londons Botschafter in Washington, Lord Halifax, den Iran großzügig Großbritannien. „Wir teilen uns das Öl Iraks und Kuweits. Was Saudi Arabiens Öl angeht, das gehört uns.“ Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs betrachteten die USA den Mittleren Osten als “die strategisch wichtigste Weltregion” und „einen der größten materiellen Preise in der Weltgeschichte“. (Wie einträglich diese Abkommen werden sollten, erwies sich später: Zwischen 1948 und 1960 erzielte amerikanisches und britisches Kapital bei Gesamtinvestitionen von 1,3 Milliarden Dollar nicht weniger als 12,8 Milliarden Dollar Gewinn aus der Förderung, der Raffination und dem Verkauf von Öl aus dem Nahen und Mittleren Osten.) Auf dass es niemand vergesse, verkündete Präsident Jimmy Carter 1980 in seiner State ofthe Union-Rede die sogenannte Carter-Doktrin und wiederholte noch einmal, wem das Öl gehört: Die strategische Bedeutung des Persischen Golfs liegt in „der überwältigenden Abhängigkeit der...