2 It’s A Boy!
Ich bin gerade auf die Welt gekommen, der Krieg ist vorbei, aber noch nicht ganz.
»Es ist ein Junge!«, ruft jemand aus dem Rampenlicht auf die Bühne. Aber mein Vater spielt weiter.
Ich bin ein Kriegskind, auch wenn ich Krieg nie erlebt habe, geboren in eine Musikerfamilie am 19. Mai 1945, keine zwei Wochen nach der Kapitulation Deutschlands und drei Monate vor der Kapitulation Japans. Doch der Krieg und seine synkopischen Echos – die Sirenen und Saxofone, die Big Bands und Bunker, V2s und Violinen, Klarinetten und Kampfflugzeuge, Indigo-Mood-Wiegenlieder und Satin-Doll-Serenaden, die Bombardements, die Explosionen, das Heulen und Dröhnen – schaukeln, erschüttern und verunsichern mich noch im Mutterleib.
Zwei Momente werden mir für immer im Gedächtnis bleiben, wie Träume, die man nie wieder vergisst, nachdem man sich einmal an sie erinnert hat.
Ich bin zwei Jahre alt und sitze im Oberdeck einer alten Tram, die Mum und ich oben am Acton Hill in West London bestiegen haben. Die Straßenbahn zuckelt an meiner Zukunft vorbei: dem Elektrogeschäft, in dem Dads erste Platte 1955 in den Verkauf kommen wird; der Polizeiwache, wo ich mein gestohlenes Fahrrad abholen werde; der Eisenwarenhandlung, die mich mit ihren Tausenden von säuberlich beschrifteten Schubladen fasziniert; dem Odeon, wo ich mit meinen Freunden samstagnachmittags urkomische Filmvorführungen besuchen werde; der St. Mary’s Church, wo ich Jahre später mit dem Chor anglikanische Hymnen singen und dabei zusehen werde, wie Hunderte von Menschen die Kommunion empfangen, ohne es jemals selbst zu tun; dem White Hart Pub, wo ich mich 1962 zum ersten Mal richtig betrinken werde, nach einem wöchentlichen Gig mit einer Schulband namens The Detours, aus der sich eines Tages The Who entwickeln werden.
Dann bin ich schon etwas älter, mein zweiter Geburtstag liegt drei Monate zurück. Es ist der Sommer 1947, und ich befinde mich an einem Strand in hellem Sonnenschein. Zum Herumlaufen bin ich noch zu klein, aber ich sitze auf der Decke und genieße die Gerüche und Geräusche: Seeluft, Sand, ein leichter Wind, Wellen, die an die Küste plätschern. Meine Eltern kommen wie Araber auf Pferderücken angeritten, spritzen Sand in alle Richtungen, winken fröhlich und reiten wieder davon. Sie sind jung, glamourös, schön, und ihr Verschwinden ist wie die Herausforderung eines schwer zu erreichenden Grals.
Dads Vater Horace Townshend (genannt Horry) war mit dreißig schon kahl, mit seiner Adlernase und der dicken Hornbrille aber trotzdem noch attraktiv. Horry, ein halbprofessioneller Musiker/Komponist, schrieb Lieder und trat in den 1920ern während der Sommermonate in Küstenstädtchen, Parks und Varietés auf. Als gelernter Flötist konnte er Noten lesen, aber ihm gefiel das leichte Leben, und er verdiente nie viel Geld.
Horry lernte meine Großmutter Dorothy im Jahre 1908 kennen. Sie arbeiteten zusammen als Entertainer und heirateten zwei Jahre später, als Dot mit ihrem ersten Kind Jack im achten Monat schwanger war. Onkel Jack erinnerte sich daran, als Kleinkind seine Eltern beobachtet zu haben, wie sie auf dem Brighton Pier Straßenmusik machten. Eine vornehme Dame kam näher, bewunderte ihr Spiel und warf einen Shilling in ihren Hut. »Für welchen guten Zweck sammeln Sie?«, fragte sie.
»Für uns selbst«, erwiderte Dot.
Dot war eine auffallende und elegante Erscheinung. Auch sie konnte Noten lesen, trat als Sängerin und Tänzerin bei Varietévorführungen auf, manchmal an der Seite ihres Mannes, und wirkte später an Horrys Liedkompositionen mit. Sie war fröhlich und optimistisch, wenn auch ziemlich eitel und etwas überheblich. Zwischen ihren Vorstellungen zeugten Horry und Dot meinen Vater, Clifford Blandford Townshend, der 1917 geboren wurde, ein Gefährte für seinen älteren Bruder Jack.
Mums Eltern Denny und Maurice wohnten anfangs mit ihr in Paddington. Denny hatte zwar einen Sauberkeitsfimmel, passte aber nicht sonderlich gut auf ihre Kinder auf. Mum kann sich daran erinnern, wie sie sich mit ihrem Bruder Maurice Jr. auf dem Arm weit aus dem Fenster im ersten Stock beugte, um ihrem Vater zu winken, wenn er mit seinem Milchwagen vorbeifuhr. Der Kleine wäre beinahe heruntergestürzt.
Opa Maurice war ein liebenswürdiger Kerl, den Denny – nach elf Jahren Ehe – eiskalt sitzen ließ. Sie brannte ohne Vorwarnung mit einem wohlhabenden Mann durch, der sie sich künftig als Geliebte hielt. Als Mum an jenem Tag von der Schule kam, war das Haus leer. Denny hatte sämtliche Möbel außer einem Bett mitgenommen und nur einen Abschiedsbrief ohne Adresse hinterlassen. Maurice brauchte mehrere Jahre, um die eigensinnige Frau aufzuspüren, aber sie versöhnten sich nie.
Maurice zog mit den beiden Kindern zu seiner Mutter Ellen. Mum beteiligte sich mit ihren zehn Jahren schon am Haushalt und geriet unter den Einfluss ihrer irischen Großmutter. Sie schämte sich für die Mutter, die sie im Stich gelassen hatte, war aber stolz auf ihre Großmutter Ellen, die ihr beibrachte, wie sie ihre Sprechstimme zu modulieren hatte, um das Irische darin zu vervollkommnen. Mum war geschickt im Nachahmen unterschiedlicher Akzente und zeigte eine frühe Begabung für Musik.
Als Teenager zog sie dann zu ihrer Tante mütterlicherseits nach London. Ich habe Rose als außergewöhnliche Frau in Erinnerung, selbstsicher, intelligent, belesen; sie war lesbisch und lebte still, aber durchaus offen mit ihrer Partnerin zusammen.
Wie ich war Dad ein rebellischer Teenager. Vor dem Krieg gehörten er und sein bester Freund zu Oswald Mosleys faschistischen Schwarzhemden. Später schämte er sich natürlich dafür. Aber er verzieh sich – schließlich waren sie jung und die Uniformen ziemlich schick. Anstatt bei Prokofjews Klarinettenstudien zu bleiben, die er jeden Vormittag zwei Stunden brillant durchstürmt hatte, beschloss Dad mit sechzehn, lieber bei Bottle-Partys zu spielen, einer englischen Variante der amerikanischen Flüsterkneipen. Musikalisch verlangten ihm diese Auftritte wenig ab. Sein gesamtes Leben lang war er technisch überqualifiziert für die Musik, die er machte.
Binnen weniger Jahre trat Dad mit Billy Wiltshire und seiner Picadilly Band in ganz London auf und spielte Lounge- und Tanzmusik in Bars – Bar Stooling nannte man das. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde die ständige, unterschwellige Angst vor Auslöschung durch Kultiviertheit, Glamour und Unbeschwertheit überdeckt. Die großen Themen waren verborgen in Wolken von Zigarettenrauch und innovativer Unterhaltungsmusik. Sex war, wie eh und je, das Mittel der Wahl, um das ängstliche Herz zu besänftigen. Doch in der Zeit meines Vaters wurde sexuelle Energie in der Musik eher angedeutet als explizit dargestellt, wurde versteckt hinter der gepflegten Eleganz von Männern und Frauen in Abendgarderobe.
Der Krieg und die Musik brachten meine Eltern zusammen. 1940 meldete Dad sich zur Royal Air Force und spielte Saxofon und Klarinette in kleinen Bands, um als Teil seiner Pflichten seine Kameraden zu unterhalten. 1945 gehörte er bereits zum RAF Dance Orchestra, einem der größten der gesamten Armee. Es setzte sich aus Armeeangehörigen zusammen, die Mitglieder bekannter Gruppen gewesen waren, wurde von Sergeant Leslie Douglas dirigiert und gilt heute als eines der besten Tanzorchester, die Großbritannien je hervorgebracht hat. Auf seine Weise war es revolutionär. Seine Geheimwaffe war der Swing, der damals gesamtgesellschaftlich immer noch nicht als salonfähig empfunden, aber von den einfachen Leuten geliebt wurde. Dad hatte den Posten bekommen, weil Vera Lynns Mann, der Saxofonist Harry Lewis, trotz seiner Zugehörigkeit zur RAF Flugangst hatte und nicht nach Deutschland fliegen wollte. Und tatsächlich war Dad, als ihm der Motorradkurier die Nachricht von meiner Geburt auf die Bühne zurief, gerade in Deutschland und spielte für die Truppe Saxofon.
Mum gab ein falsches Alter an, um sich 1941 zur Armee melden zu können. Sie war eine talentierte Sängerin und wurde Vokalistin in Dads Band. Ein Konzertprogramm für den 18. Juni 1944 in der Colston Hall in Bristol führt sie als Interpretin von »Star Eyes«, »All My Life« (ein Duett mit dem gut aussehenden Sergeant Douglas) und »Do I Worry« auf. Dad wird dort als Solist bei »Clarinet Rhapsody« und »Hot and Anxious« erwähnt. Wie es im Begleitheft einer Platte heißt, richtete sich das RAF Dance Orchestra direkt ans Ohr der Öffentlichkeit. Der Sound wird als fließend und frei beschrieben, im nächsten Moment wieder akzentuiert, der Rhythmus als flexibel, was dem Solisten mehr Raum für Ausdruck gibt.
Nach dem Krieg entschied sich das Orchester, seinen bisherigen Spitznamen anzunehmen: die Squadronaires.
Mum hat die Anfangsjahre ihrer Ehe als einsam beschrieben: »Ich habe Dad kaum zu Gesicht bekommen. Er war nie da. Und wenn er mal da war, dann saß er gegenüber im White Lion oder oben im Granville.« Dad war fröhlich, gut aussehend, immer für eine Lokalrunde gut und deshalb in den Kneipen unserer Gegend beliebt, wo sein musikalischer Erfolg ihn zu einer kleinen Berühmtheit machte.
Mums Einsamkeit erklärt vielleicht zum Teil, warum es sie so wütend machte, dass mein Vater bei meiner Geburt nicht anwesend war. Da sie damals bei Dads Eltern wohnte, zeigte sie ihren Ärger, indem sie auszog. Sie kannte ein jüdisches Paar, Sammy und Leah Sharp, Musiker aus Australien, die mit ihrem Sohn in einem einzigen großen Zimmer lebten, und dort schlüpften Mum und ich ebenfalls unter. Leah übernahm mich. Ich erinnere mich nicht an sie, aber Mum beschrieb sie als »einen...