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E-Book

Die rot-grünen Jahre

Vom Kosovokrieg bis zum 11. September

AutorJoschka Fischer
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl448 Seiten
ISBN9783462300147
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Joschka Fischer - das Buch Die politischen Erinnerungen des deutschen Außenministers und Vizekanzlers Joschka Fischer an die Jahre der rot-grünen Koalition. Die deutsche Außenpolitik in Zeiten der weltpolitischen Umbrüche nach dem 11. September, zwischen innenpolitischer Reformpolitik und parteipolitischen Krisen und Kontroversen. Die sieben Jahre der rot-grünen Regierungszeit von 1998 bis 2005 sind schneller als erwartet zum Gegenstand zeitgeschichtlicher Erinnerung und Bewertung geworden. Joschka Fischer hat als Außenminister und Vizekanzler die Politik der Regierungskoalition entscheidend geprägt und getragen. In seinem großen autobiographischen Buch stellt Joschka Fischer die Außenpolitik in diesen Jahren tiefster weltpolitischer Umbrüche dar, schildert die Krisen vom Kosovo bis zum 11. September, von Afghanistan bis zum Irak-Krieg. Er zeichnet eindringlich die historischen Entscheidungssituationen nach, denen sich die Regierung ausgesetzt sah, porträtiert die internationalen Akteure von George W. Bush bis zu Jassir Arafat oder Kofi Annan und analysiert die Bedrohungsszenarien vom Nahen Osten bis zum pakistanisch-indischen Konflikt. Hinzu kommen die Auseinandersetzungen über den EU-Beitritt der Türkei, die Reform der UN, die Russland- und Chinapolitik. Eingebettet sind diese Erinnerungen in die wichtigsten innenpolitischen Ereignisse und Krisen der Zeit, parteipolitische Kämpfe und die Kontroversen etwa um die Visa-Politik und die 68er-Vergangenheit von Joschka Fischer.Joschka Fischer, der seit Sommer 2006 in Princeton an der Woodrow Wilson School als Gastprofessor Internationale Krisen-Diplomatie unterrichtet, hat ein hochlebendiges, kontroverses, kritisches und selbstkritisches Buch von großer erzählerischer und analytischer Qualität geschrieben. Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch:»Risiko Deutschland«, 1994. »Für einen neuen Gesellschaftsvertrag«, 1998. »Die Rückkehr der Geschichte. USA, Europa und die Welt nach dem 11. September«, 2005.

Joschka Fischer, geboren 1948 in Gerabronn. Von 1994 bis 2006 Mitglied des Bundestages, von 1998 bis 2005 Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. 2006/07 Gastprofessor an der Universität Princeton, USA. Joschka Fischer lebt in Berlin.  Im Verlag Kiepenheuer & Witsch sind bisher erschienen: »Risiko Deutschland« (1994), »Für einen neuen Gesellschaftsvertrag« (1998), »Die Rückkehr der Geschichte. USA, Europa und die Welt nach dem 11. September« (2005), »Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik - vom Kosovo bis zum 11. September« (2009), »I am not convinced« (2011), »Scheitert Europa?« (2014), »Der Abstieg des Westens« (2018), »Willkommen im 21. Jahrhundert«  (2020).

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Leseprobe

Beginn unter dunklen Wolken – ein Krieg zieht herauf


Am nächsten Morgen, es war der zweite Tag meiner Amtszeit, stand als Erstes die offizielle Einführung des neuen Ministers und der neuen Staatsminister in das Auswärtige Amt an. Ich wurde von meinem Vorgänger Klaus Kinkel und seiner Gattin am Aufgang des sogenannten Ministerflügels des Bonner Auswärtigen Amtes erwartet und dann in den »Weltsaal« geleitet, in dem sich zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch viele Medienvertreter, Abgeordnete des Deutschen Bundestages und die ausscheidenden wie auch die neuen Staatsminister versammelt hatten. Der dienstälteste Staatssekretär eröffnete die Zeremonie mit einer Rede, dann folgte Minister Kinkel mit seiner Ansprache, und schließlich war die Reihe an mir.

Im Zentrum meiner Rede stand vor allem das Werben um Vertrauen unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich definierte darin meine inneren Führungsgrundsätze: »Das Prinzip Ministerverantwortung gilt. Läuft etwas schief, bin ich der Verantwortliche, nach innen klären wir das dann unter uns. […] Mich interessiert nicht die parteipolitische oder weltanschauliche Orientierung […]. Mich interessieren zwei Dinge: Kompetenz und Loyalität.« Ich unterstrich, dass ich es aus meiner Zeit als hessischer Umweltminister gewohnt wäre, nicht mit einem Küchenkabinett, sondern mit den Abteilungen zu arbeiten, dass ich einen diskutierenden Stil bevorzugen und dass es mit mir keine Beschneidung der Kompetenzen des AA geben würde. In der Tat hatten das der Finanzminister (Oskar Lafontaine) mit der Europaabteilung und der neue Kulturstaatsminister im Kanzleramt (Michael Naumann) versucht, waren damit aber gescheitert.

Darüber hinaus war ich mit mir zurate gegangen, ob ich strukturelle Veränderungen in diesem überaus konservativen Auswärtigen Amt vornehmen wollte, und entschied mich bewusst dagegen. Wir würden in den kommenden Monaten und Jahren als Regierung vor solch schwerwiegenden inhaltlichen Weichenstellungen stehen, dass ein Aufbrechen der vorhandenen Strukturen nur zusätzlichen und, wie ich damals meinte, unnötigen Ärger produzieren würde. »Das habe ich jetzt innerhalb weniger Tage und Stunden gelernt, dass es hier sozusagen ein Eigenleben der Institution Auswärtiger Dienst und Auswärtiges Amt gibt; das soll auch nicht geändert werden«, verkündete ich deshalb in meiner Antrittsrede. Über meine ganze Amtszeit hinweg habe ich mich an dieses Versprechen gehalten, aber Jahre später sollte es sich als ein schwerer Fehler, ja vielleicht sogar als der schwerste Fehler in meiner gesamten Amtszeit erweisen. Ich werde darauf zurückkommen.

Für die kommende Außenpolitik der neuen Bundesregierung versprach ich vor allem eines – Kontinuität. Auch hierbei ging es um das Werben um Vertrauen bei unseren Partnern, die der Außenpolitik der neuen Bundesregierung mit einiger Skepsis entgegensahen. »Wir haben zu Recht immer das Element der Kontinuität deutscher Außenpolitik betont. Warum ist die Kontinuität so wichtig? Die Kontinuität ist deswegen so wichtig, nicht nur weil von Deutschland so enorm viel abhängt in Europa, sondern weil einer der wichtigen […] außenpolitischen Faktoren die kollektive Erinnerung unserer Nachbarn an unsere Geschichte ist. Deutschland war in diesem ausgehenden 20. Jahrhundert […] die Ursache für zwei Weltkriege, und vor allem der Zweite Weltkrieg, […] die Auslieferung unseres Landes an eine verbrecherische Staatsführung, haben unsägliches Leid über unseren Kontinent und die Welt gebracht. Deswegen werden unsere Nachbarn immer sehr sorgfältig darauf achten, was sich in Deutschland tut.«

Zugegeben, in meiner ersten grundsätzlichen Positionierung über die zukünftige Außenpolitik findet sich sehr viel von Helmut Kohl wieder. Aber gerade in dieser historischen Begründung für Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit der deutschen Außenpolitik wie auch in der Europapolitik stand ich dem abgewählten Kanzler seit einigen Jahren sehr nahe, und zwar aus Überzeugung.

Inhaltlich konzentrierte ich mich in meiner Rede vor allem auf die Vollendung der Integration Europas – nach der Währungsunion galt es, an der politischen Union und ihrer Vervollkommnung zu arbeiten. Schon damals stand für mich die Frage nach der endgültigen Gestalt der Europäischen Union, die sogenannte »Finalität«, im Zentrum meiner Ausführungen. Weitere Schwerpunkte waren neben der Vertiefung die Erweiterung der EU, die Zukunft des transatlantischen Bündnisses und die europäisch-russischen Beziehungen.

Die Balkankrise und die drohende Gewitterwolke über unseren Köpfen namens Kosovo spielten dagegen in meiner Rede kaum eine Rolle, obwohl ich mir der Herausforderung einer möglichen deutschen Kriegsbeteiligung unter Rot-Grün – ein radikaler Bruch mit aller Kontinuität! – mehr als bewusst war. Noch hielt ja die Holbrooke- Miloševic-Vereinbarung für das Kosovo, nach der die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eine Beobachtermission in das Kosovo entsenden sollte. Vielleicht hatten wir ja Glück und sollten tatsächlich an einer heißen Konfrontation vorbeikommen. Zudem hätten jedes öffentliche Nachdenken oder gar Festlegungen meinerseits bereits am zweiten Tag meiner Amtszeit einen wilden Streit in Partei, Fraktion und Koalition ausgelöst und wären sehr gefährlich gewesen. Also verfuhr ich nach der Devise, immer an diese drohende Gefahr zu denken, einstweilen aber nicht öffentlich darüber zu reden.

Nach dem Ende der Zeremonie zeigte mir mein Amtsvorgänger mein persönliches Büro und stellte mich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministerbüros vor. Zwei Büsten von Adenauer und Heuss nebst einem Ölgemälde von Stresemann wachten darin Tag und Nacht über die deutsche Außenpolitik und über die jeweiligen Minister. Ansonsten war das Büro ein dunkler, fast düster zu nennender Raum mit Blick auf den Rhein.

Die wichtigsten Personalfragen im neuen Amt hatte ich im Vorfeld bereits geregelt. Ich übernahm die meisten der persönlichen Mitarbeiter meines Amtsvorgängers im Ministerbüro, neuer Büroleiter wurde Achim Schmillen, der bisherige Leiter meines Abgeordnetenbüros. Martin Kobler, ein Beamter des AA, wurde sein Stellvertreter. Sylvia Tybussek, meine vertraute Sekretärin im Bundestag, wie auch Nicole Menzenbach, dort meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, folgten mir ebenfalls ins Ministerbüro. Staatssekretär Hans-Friedrich von Ploetz blieb in seinem Amt, Wolfgang Ischinger, der bisherige Politische Direktor und Leiter der Politischen Abteilung, wurde zweiter Staatssekretär. Gunter Pleuger, der bisherige Abteilungsleiter Vereinte Nationen (VN), wurde sein Nachfolger als Politischer Direktor. Zum Leiter des Planungsstabes berief ich Georg Dick, damals stellvertretender hessischer Regierungssprecher der Regierung Eichel und ein enger und langjähriger politischer Weggefährte von mir. Der Pressesprecher meines Amtsvorgängers, Martin Erdmann, blieb ebenfalls bis auf weiteres auf seinem Platz.

Bereits am Nachmittag begann dann für mich der Ernst der praktischen Außenpolitik. Ich machte mich auf den Weg zum militärischen Teil des Flughafens Köln/Bonn, um von dort aus, in einem Airbus der Luftwaffe und begleitet von einem großen Medientross, meine europäische Antrittsreise als neuer Bundesaußenminister zu beginnen. Die Reise führte mich innerhalb von drei Tagen über Paris und London nach Warschau. Diese Planung hatte ich bereits in der Übergangszeit mit den kommenden Mitarbeitern aus dem Amt vorgenommen. Und auch persönlich war mir dieser diplomatische Auftakt sehr wichtig.

Eine jüngere Generation hatte jetzt in Deutschland die Schalthebel der Macht übernommen. Gerhard Schröder, am 7. April 1944 geboren, hatte den Krieg nicht mehr bewusst erlebt, und ich selbst war erst am 12. April 1948, drei Jahre nach dem Ende des Kriegs und wenige Wochen vor der Währungsreform in den Westzonen, geboren worden. Unter all den offenen Fragen an unsere neue Regierung im Ausland war die geschichtspolitische Frage, wie es eine historisch nicht mehr erfahrungsbelastete jüngere Generation Deutscher mit der Fortgeltung unserer historischen und moralischen Verantwortung für die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland halten würde, sehr ernst zu nehmen.

Die Einbeziehung Warschaus in meine Antrittsreise, gemeinsam mit Paris und London, sollte daher auch ein Symbol für unsere fortgeltende historische und moralische Verantwortung für die deutschen Verbrechen sein, zugleich aber auch unsere Bereitschaft bekunden, sowohl die Politik der Aussöhnung mit unserem östlichen Nachbarn als auch die Unterstützung für den polnischen Beitritt in die EU energisch fortzuführen. Zugleich verkörperten diese drei Staaten unsere wichtigsten Partner in Europa, und darüber hinaus wurde durch den Zeitpunkt und die Abfolge der besuchten Hauptstädte das neue, das erweiterte Europa nach 1989 und seine Bedeutung für die deutsche Außenpolitik in den Mittelpunkt gestellt.

Die deutsch-französischen Beziehungen blieben auch in Zukunft und unter den Bedingungen eines wesentlich größer gewordenen Europas zentral für dessen Zukunft und waren und sind innerhalb der EU durch nichts Vergleichbares zu ersetzen. Frankreich bleibt unser wichtigster, ja unverzichtbarer Partner diesseits des Atlantiks. Beide Seiten konnten und können nicht aufeinander verzichten, wenn sie in und mit Europa erfolgreich sein wollen, da ein offen aufbrechender deutsch-französischer Konflikt das europäische Projekt sofort in eine Blockade oder gar in eine ernste Krise führen würde.

Der...

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