II. Die Entwicklung Afghanistans ab 1978
1. Die sowjetische Zeit
Nach dem Putsch gegen den letzten König Afghanistans, Sahir Shah[43], am 17. Juli 1973 und einer bis ins Jahr 1978 andauernden Regierungs-Episode des ehemaligen Premierministers und Cousins des Königs, Mohammad Daoud[44], übernahmen kommunistisch gesinnte und von der Sowjetunion gestützte Regierungen die Macht in Kabul. Jene Führungsriege bestand aus Babrak Karmal[45], Noor Mohammad Taraki[46] und Hafisullah Amin[47].
Das Land erlebte zahlreiche als sozialistisch zu klassifizierende Reformen sowie gleichzeitig blutige Machtkämpfe innerhalb der Regierung und ihrer Anhänger, die in der rücksichtslosen Alleinherrschaft Amins mündeten. Als sich jener schließlich Pakistan und dem Westen zuzuwenden begann und Moskau den Zusammenbruch der kommunistischen Regierung und der kommunistischen Revolution in Afghanistan befürchten musste, wurde im sowjetischen Politbüro die Wiedereinsetzung Babrak Karmals als Staatschef und die Entscheidung für den Einmarsch in Afghanistan zur Rettung der „Saur-Revolution“[48] getroffen.[49]
In der Nacht vom 25. auf den 26. Dezember 1979 begann die sowjetische Invasion mit der gezielten Tötung des afghanischen Präsidenten und Führers der regierenden Demokratischen Volkspartei, Hafisullah Amin. Kurz nach dem erfolgreichen Attentat begann der Vormarsch sowjetischer Truppen über den Fluss Amudarja – der südlichsten Grenze der UdSSR zu Afghanistan.
Die Besetzung Afghanistans bildete den Auftakt für den beinahe ein Jahrzehnt währenden Krieg, in dem sich die Interventionstruppen der Sowjetunion und die neu installierte Regierung Karmal auf der einen und ein Heer von Stammeskriegern auf der anderen Seite gegenüberstanden.[50]
Angefacht durch die ausländische Intervention, wiedererwachte das Konzept des Djihad (siehe ausführlicher das Kapitel IV.4), das schon die Zeit der Anglo-Afghanischen Kriege[51] bestimmt hatte. Eng verknüpft mit dem Begriff des Djihad (der sich in jener Zeit zu einem politischen Kampfbegriff entwickelte) und als quasi personifizierte „Identität des Widerstands“[52] standen im Zentrum des Djihad der Mudjahid[53] (der Kämpfer für den Djihad), der Muhadjir (derjenige, der das Land des Unglaubens verlässt[54] – Auswanderer oder Flüchtling) und der Shahid (Märtyrer).
Diese Kämpfer für den Djihad erkannten die Legitimation ihres Krieges in der erneuten Besetzung des eigenen Landes durch Ungläubige – die sowjetischen Truppen und ihre Unterstützer, die DVPA-Regierung.[55]
Der anfängliche Erfolg der Sowjets wich rasch ausufernden Kämpfen zwischen den beiden Lagern. Die sowjetischen Kampftruppen sahen sich in jenem Krieg einem Gegner gegenüber, der nicht als hochgerüstete Streitmacht auftrat, sondern vielmehr mit einer Guerillataktik aus dem Hinterhalt operierte – in einem Land mit geologischen Begebenheiten wie jenen in Afghanistan eine erfolgversprechende Taktik. Den Widerstandskämpfern war es dank ihrer Ortskenntnisse und einem ausgefeilten Netz an Spähern und Boten möglich, sich den sowjetischen Angriffen mittels Artilleriefeuer oder Flächenbombardements aus der Luft vielfach zu entziehen, um dann plötzlich wieder aufzutauchen und den Soldaten im direkten Kampf gegenüberzustehen.[56]
Materielle und finanzielle Unterstützung bekamen die afghanischen Glaubenskämpfer von dem großen Gegenspieler der Sowjetunion im Kalten Krieg, den USA[57], sowie von China[58] und dem pakistanischen Geheimdienst Inter Services Intelligence (ISI).[59]
Direkte kämpferische Unterstützung erhielten sie außerdem von Freiwilligen aus arabischen Ländern, die sich bereit erklärten, ihre islamischen Brüder beim Djihad gegen die ungläubigen Marxisten zu unterstützen. Die Gruppe der Freiwilligen, die schon bald als „Afghanische Araber“ bezeichnet wurden, setzte sich zusammen aus jungen Männern aus Algerien, Ägypten, Kuwait, Saudi-Arabien sowie aus Usbekistan und China. Nach der Unterstützung der Afghanen wollten sie den Djihad in ihren Heimatländern weiterführen. Die „Araber-Afghanen“ hatten sich in Pakistan auf die Kämpferliste der Hizb-e Islami (Islamische Partei)[60] setzen lassen, die von dem Favoriten des ISI, Gulbuddin Hekmatyar[61], geleitet wurde.
Die Rekrutierung radikaler Muslime aus der ganzen Welt zur Unterstützung des afghanischen Widerstands gegen die Sowjets war eine Initiative des ISI. Aus diesem Grund sowie aufgrund der räumlichen Nähe Pakistans, befand sich das Hauptquartier des Widerstand in Peshāwar – der „Grenzstadt am Fuße des Khyber-Passes“, die von den Autoren Koelbl und Ihlau als das „Haupteinfallstor der Invasoren auf dem Subkontinent seit Menschengedenken“ bezeichnet wird.[62] Gleichwohl hatten alle beteiligten Parteien Gründe, dieses Unterfangen zu stützen und voranzutreiben: Der pakistanische Präsident Mohammad Zia-ul Haq (1977-1988) beabsichtigte, die Islamische Einheit zu festigen und Pakistan zum Aufstieg als muslimische Führung in der Welt zu verhelfen; den Amerikanern war sehr daran gelegen, die breite Unterstützung der Afghanen und „seinen amerikanischen Wohltätern“[63] durch die muslimische Weltbevölkerung gegen die Sowjetunion zu demonstrieren und Saudi-Arabien erkannte in diesem Unterfangen eine Gelegenheit, den Wahabismus[64] zu stärken und gleichzeitig die eigenen Radikalen außer Landes zu schaffen. Keine jener Parteien schien mit der Möglichkeit zu rechnen, dass jene Freiwillige ihre eigenen Pläne verfolgen und ihren Hass schließlich gegen ihre eigenen Regime und die Amerikaner richten könnten.
Letzten Endes waren über 100.000 radikale Muslime aus 43 islamischen Ländern des Mittleren Ostens, aus Nord- und Ostafrika, Zentralasien und dem Fernen Osten für den afghanischen Djihad rekrutiert worden und standen in Kontakt mit Pakistan und Afghanistan und unter Einfluss der Ausbildung für den Djihad.[65]
Es ist anzumerken, dass es den Allianzen der Widerstandsgruppen an Festigkeit und Loyalität fehlte. Es gab keine einheitliche Vision von der Zukunft Afghanistans, für die man gemeinsam kämpfte. Die verschiedenen Überzeugungen und Ziele rückten nur deshalb in den Hintergrund, weil man einen gemeinsamen großen Feind hatte, den es zu bekämpfen galt: die fremden nicht-muslimischen Besatzer im eigenen Land und mit ihnen die kommunistische Regierung in Kabul. Allianzen und Absprachen wurden mit den Parteien getroffen, die ein Erreichen dieses Ziels näher zu bringen schienen. Man war auf den eigenen Vorteil bedacht – hierfür wurde in jede nur mögliche Richtung verhandelt, selbst mit den Kabuler Kommunisten und auch mit sowjetischen Truppenführern.
Ein Jahrzehnt währte dieser Krieg, der sein Ende im Abschluss des Internationalen Genfer Afghanistan Abkommens vom 14. April 1988 und schließlich im Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan bis zum 15. Februar 1989 fand. Eingebettet in die geopolitischen Veränderungen war dieser Rückzug ein Ergebnis der innenpolitischen Krise der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre, dank derer Moskau sich zu diesem Schritt gezwungen sah.
Am Ende dieses Krieges hatten 1,3 Millionen Afghanen (Zivilisten wie Kämpfer) und 15.000 sowjetische Soldaten den Tod gefunden. Obwohl technisch überlegen, war es den sowjetischen Truppen nicht gelungen, den afghanischen Widerstand zu brechen und das Land unter ihre Kontrolle zu bringen.[66]
2. Bürgerkrieg
Der Rückzug der sowjetischen Truppen und das geringfügige Interesse der USA an der Region nach dem Sieg im Kalten Krieg hinterließen ein „kritisches Machtvakuum“, in dem die „Araber, die islamistischen Extremisten in Pakistan und Afghanistan und andere Dschihadisten (– und mit ihnen das afghanische Volk) […] sich selbst überlassen (wurden)“[67]. Die Bemühungen, das Land zu stabilisieren und den Flüchtlingen zur Heimkehr[68] zu verhelfen, wurden nahezu eingestellt; es fehlte an diplomatischem Druck, einen Kompromiss zwischen den sich nun bekriegenden Mudjaheddin-Gruppen herbeizuführen. Die Afghanistan-Politik der CIA wurde vielmehr den Verbündeten in Pakistan und Saudi-Arabien überlassen.[69]
Der Politologe Samuel Huntington fasst die Situation wie folgt zusammen:
„‚Der Krieg […] hinterließ eine angespannte Koalition islamistischer Organisationen, deren Absicht es war, den Islam gegen alle nicht-muslimischen Mächte voranzutreiben. Er hinterließ auch zahlreiche Experten und erfahrene Kämpfer, Trainingslager und logistische Einrichtungen, hoch entwickelte transislamische Netzwerke aus persönlichen und organisatorischen Verbindungen, eine große Menge an militärischer Ausrüstung, […] und, vielleicht am...