2. Die Verpflanzung in die Kulturheimat Europa
Die Schweiz als ruhender Pol. Zwei Jahre lang im düsteren Nachkriegs-Österreich. Leben zwischen beiden Großeltern und Internat in der Schweiz. Zwischenstation Florenz. «Der König geht». Elternlos im musealen Kilchberg. Gymnasium und Musikstudium.
Zürich, Ende August 2005. Gang durch die verregnete Parkanlage an dem noch vom gestrigen Sturm aufgewühlten See in Richtung Hotel Baur au Lac. Ich passiere das «Rote Schloss» am General Guisan Quai. In diesem haben meine aus Deutschland geflüchteten Urgroßeltern Pringsheim zwischen 1939 und 1942 in einer der Wohnungen ihre letzten, einsamen Lebensjahre verbracht. Die geradezu gespenstische Ähnlichkeit dieses palastartigen Anwesens mit seinen vielen Türmchen und Erkern mit dem prunkvollen Palais Pringsheim an der Münchener Arcisstraße, in dem die beiden vorher fast fünfzig Jahre lang gewohnt hatten. Ich beschleunige meine Schritte und gelange, vorbei an Kongresshaus und Tonhalle, zum Baur au Lac und flüchte vor dem neu einsetzenden Regen in die Hotelhalle. Seit dem achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter Katia 1963 habe ich diese Halle nicht mehr betreten. Heute treffe ich, zum ersten Mal seit Ende meines Musikstudiums am Zürcher Konservatorium vor über vierzig Jahren, meinen Kommilitonen aus derselben Klavierklasse, Peter Aronsky, jetzt ein angesehener Pianist, der im Schweizer Musikmanagement Beachtliches auf die Beine gestellt hat.
Es ist merkwürdig, nach so langer Zeit in dem Raum zu sitzen, in dem ich mich mehrmals mit meinen Großeltern traf, wohl das erste Mal im Sommer 1947 und dann wenige Tage nach dem Tod meines Onkels Klaus im Mai 1949. Die Halle wirkt heute entschieden weniger feierlich und deutlich steriler als damals, vielleicht auch wegen des zwischenzeitlich sicher mehrfach ausgewechselten Mobiliars und der Bilder an der Wand.
Jetzt betritt Peter die Halle. Sein Gesicht ist unverändert, nur von grauen Locken umrahmt. Er trägt Blue Jeans und ein elegantes Jackett mit großer, gelber Krawatte. Wir setzen uns an einen der Tische, bestellen Tee und Obstkuchen und kommen langsam ins Gespräch. Erinnerungen an die gemeinsamen Jahre im Zürcher Konservatorium. Dann berichten wir aus unserem Leben seither. Er erzählt mir von den internationalen Musikfestivals, die er in St. Moritz organisiert, und ich ihm von meinen Bemühungen um den Aufbau eines Kultur- und Begegnungszentrums in der brasilianischen Geburtsstadt meiner Urgroßmutter Julia Mann-Bruhns-da Silva. Danach ergehen wir uns noch ein wenig in Träumereien von eventuellen gemeinsamen, zukünftigen Projekten in Europa oder Südamerika. Nach anderthalb Stunden verabschieden wir uns.
Glücklicherweise hat der Regen inzwischen nachgelassen. Am Bellevueplatz an der anderen Seite der Quaibrücke bin ich mit C. verabredet. Wir wollen zusammen zu Fuß am linken Seeufer die hübsche, mir seit der Kindheit vertraute Strecke durch das «Zürichhorn» bis Zollikon zurücklegen. Wir laufen zuerst bis zur Tram-Endstation Tiefenbrunnen. Von dort geht es über eine Autoüberführung nach Zollikon. Während meiner Kindheit musste man eine Bahnschranke passieren, die nach einem lauten Glockenton von einem Bahnwärter per Handkurbel geschlossen und geöffnet wurde. Wir gehen die Dufourstraße hoch und passieren auf der rechten Seite das große, freistehende ehemalige Haus meiner Großeltern Mams und Paps. Bis zum Verkauf des Hauses vor zwei Jahren haben wir bei allen gemeinsamen Reisen in die Schweiz seit unserer Verlobung viel Zeit dort verbracht. In den vierziger Jahren hatte es noch einen violetten Farbanstrich. Ich empfinde es beruhigend, mit C. an meiner Seite an meine alten Stätten zurückzukehren.
Wir laufen weiter, meinen früher täglich mit meinem «Schul-Tornister» auf dem Rücken und im Sommer barfuß zurückgelegten Weg entlang hoch zum Dufourplatz. Von dort geht es, am Dorfzentrum vorbei, zu meiner ehemaligen Primarschule. Anstelle des Konsum und der Bäckerei vor dem Springbrunnen am Dufourplatz, wo Mams früher oft einkaufen ging oder uns hinschickte, stehen jetzt andere Geschäfte. Nur die Tapeziererei gibt es noch. Das Schulhaus oben wurde inzwischen um einiges ausgebaut. Das Kerngebäude ist jedoch völlig unverändert. Wir gehen um das Schulgebäude herum auf den Pausenhof. Von dort kann ich durchs Fenster in mein ehemaliges, ebenerdiges Klassenzimmer blicken.
Mir fällt eine komische Situation ein. In der Parallelklasse genau über uns unterrichtete damals ein kurz vor seiner Pensionierung stehender Koloss mit grauem Bürstenschnitt und wässerigen Augen. Dieser war in den frühen zwanziger Jahren der Lehrer meiner Mutter gewesen und hatte seine Schüler vor der ganzen Klasse auf dem Katheder mit dem Lineal auf das bloße Gesäß geschlagen. Da ihm solches während meiner Grundschulzeit inzwischen untersagt war, beschränkte er sich jetzt auf ein martialisches Gebrüll, das wir während unseres Unterrichts häufig bis in unser Klassenzimmer hinunter hören konnten, wobei wir jedes Mal froh waren, nicht zu den bedauernswerten Mitschülern dort oben zu gehören. Einmal, als wieder einmal die Wände von seinem Gebrüll wackelten, verzog unser junger, sehr viel netterer Lehrer, Herr Wieser, amüsiert das Gesicht und meinte, zu unserem befreienden Gelächter: «Aha, er singt wieder!»
Unsere zweite Überfahrt nach Europa im April 1949 unternehmen meine Mutter, Toni und ich, diesmal mit unserem Hund Micky, auf einem polnischen Dampfer von New York durch die Meerenge von Gibraltar bis nach Genua. Mein Vater, der in New York noch etwas zu erledigen hat, wird bald in die Schweiz nachkommen. Beinahe hätten wir das Schiff verpasst, weil unser Plymouth auf der Fahrt durch den ganzen Kontinent fast täglich wegen neuer Motorschäden in die Werkstatt gebracht werden musste. Auf dem Schiff sind wir in einer Mehrbettkabine unter Deck untergebracht, in der man wegen des häufig recht hohen Seegangs nachts im Dunkeln die weiblichen Passagiere beten oder sich geräuschvoll übergeben hört. Nach neun Tagen ist alles überstanden, und wieder holen uns Mams und Paps am Hafen ab. Genua ist nicht so zerstört wie Rotterdam vor zwei Jahren, wirkt jedoch unglaublich schmutzig und heruntergekommen, und ich bin froh, als wir, diesmal mit Papsens Limousine, der Stadt den Rücken kehren und Richtung Gotthardpass in die Schweiz fahren.
Unsere zweite Ankunft in der Schweiz, insbesondere in Zollikon, hat sich in meiner Erinnerung sehr viel weniger eingeprägt als die erste, weil der Zauber des Neuen, Spektakulären fehlt. Ich fühle diesmal von Anfang an ein wenig Heimweh nach Amerika. Vielleicht ahne ich, dass es ein Abschied für immer sein wird. Auch sonst gestaltet sich im Laufe der Wochen und Monate vieles recht anders. Meine Eltern wohnen zwar auch diesmal im Gästezimmer auf der Zwischenetage unterhalb des Erdgeschosses, während wir Kinder wieder oben neben den Großeltern schlafen. Aber sie sind, obwohl die diesmal weiträumigeren Konzerttourneen meines Vaters quer durch Europa erst im Herbst beginnen, für uns bereits jetzt kaum mehr erreichbar.
Mams und Paps dagegen übernehmen rasch die Elternrolle. Sie sind nicht mehr die uns nur aus dem Hintergrund wohlwollend beobachtenden und verwöhnenden Großeltern wie vor zwei Jahren. Sie gestalten aufmerksam und fürsorglich, aber auch viel strenger und ungeduldiger als damals unseren Kinderalltag. Sozusagen als kompensatorisches Gegengewicht zu meinen anderen Großeltern kümmern sie sich fürsorglich um meinen Bruder Toni, ohne dass ich das Gefühl habe, von ihnen benachteiligt zu werden. Sie spüren sehr rasch, dass Toni einer besonderen Zuwendung und Rücksichtnahme bedarf. Er hat infolge einer sehr schwierigen Geburt bleibende Schäden zurückbehalten, unter anderem eine Sprachstörung und eine Sehbehinderung, wegen der er noch als Fünfjähriger besondere Hilfe beim Anziehen, beim Schuhebinden oder beim Essen benötigte. Sie werden auch nie müde, dem Jungen gut zuzureden und sein Selbstvertrauen aufzubauen, was ihnen allerdings nur schwer gelingt.
Mir fällt es nicht leicht, meine Großeltern mit ihren für mich recht andersartigen, schweizerischen Ansichten und ihrem festgefügten Lebensstil als unsere Erzieher zu akzeptieren. Die in Pacific Palisades vorherrschende Freiheit und Großzügigkeit und der luxuriöse Lebensstil des sonnigen kalifornischen Paradieses fehlten mir hier. Unser tägliches Frühstücks-Graubrot beispielsweise ist, nicht aus Geiz, sondern aus gesundheitsideologischen Gründen, so hart, dass mein Vater sich und meine Mutter frühmorgens heimlich mit frischen Frühstücksbrötchen versorgt. Er verlässt das Haus durch die Kellertüre und über den Garten, schlägt einen Bogen hoch zum benachbarten Bäcker und legt danach wieder denselben umständlichen Weg zurück. Nur am Sonntag gibt es statt des harten Brotes Milchzopf, aber pro Person genau drei abgezählte Scheiben, und wer danach immer noch Hunger hat, muss wieder mit dem harten Werktagsbrot vorliebnehmen. Unsere obligate Sonntagskleidung bei den Schweizer Großeltern besteht, je nach Jahreszeit und Witterung, aus besonderen Shorts oder feineren Knickerbockerhosen und einem Woll-Pullunder, und mit dieser Kleidung wird der ebenfalls obligate Sonntagsspaziergang mit Paps oder manchmal beiden Großeltern im Zolliker Wald absolviert.
Am Ende einer Nachtfahrt aus Italien mit meinen Eltern Anfang der sechziger Jahre. Wir kommen gerade von einigen Wochen Sommerurlaub auf Ischia in Süditalien zurück. Meine schon lange wieder nach Amerika zurückgekehrten Eltern pflegen seit ihrer Rückkehr in die USA fast jedes Jahr einige Sommermonate in Europa zu verbringen und nehmen für ihre...