F. Das Maß des Freiheitsentzugs (Vollzugslockerungen) (S. 187-188)
I. Einleitung
In diesem Abschnitt ist von jenem praktisch äußerst bedeutsamen Behandlungsgeschehen die Rede, das gängigerweise unter dem Begriff der Vollzugslockerungen abgehandelt wird (Volckart/Grünebaum 2009, 171). Es geht darum, dem untergebrachten Patienten ,kleine Freiheiten‘ wie Ausgänge und Beurlaubungen zu ermöglichen, bevor das Gericht die Vollstreckung förmlich aussetzt. Nach richtigem Verständnis handelt es sich dabei um den jeweils noch vertretbaren Umfang der Freiheitsbeschränkungen in der forensischen Psychiatrie, mit anderen Worten um das Maß des Freiheitsentzugs im Maßregelvollzug (ausf Rn F 30).
Dabei soll nicht der Eindruck vermittelt werden, die Patienten seien vorrangig im Maßregelvollzug untergebracht, um Vollzugslockerungen zu erhalten (Rasch 1986, 100). Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die gesicherte Unterbringung in ,festen Häusern‘, die mehr denn je das Bild der forensischen Psychiatrie prägt (vgl Rückert 2008: „Lebensversickerungsanstalten“), zugleich eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer ebenso effektiven wie humanen Therapie im Maßregelvollzug darstellt (Schwind/Böhm/Jehle-Rotthaus/Freise § 136 Rn 3). Je länger die Einschließung in der totalen Institution ,Forensik‘ anhält, je mehr überlagern die Folgeprobleme der Prisonierung und Hospitalisierung jene psycho-sozialen Probleme, deretwegen der Patient einst eingewiesen wurde; dies gilt in besonderem Maße für die unbefristete Unterbringung (Laubenthal 1990, 368) mit ihrer fatalen Tendenz zum „Wegschließen für immer“ (Rautenberg 2001, vgl auch Schüler-Springorum 2005). Leitidee der folgenden Ausführungen sei daher in Anlehnung an die idealisierte Programmatik der Psychiatrie- Reform ebenso knapp wie undifferenziert: Freiheit heilt! – in Ergänzung der zentralen Prämisse liberaler und sozialer Kriminalpolitik: in dubio pro libertate (Pollähne Rn B 46 ff) und gegen den mainstream hypertropher Sicherheitspolitik, die sich der therapie- und rehabilitationsfeindlichen Prämisse „in dubio pro securitate“ verschrieben hat (vgl nur Tondorf 2008, Mushoff 2008, 542 ff und Schott 2007, 105).
II. Allgemeine Grundsätze
1. Juristische Konzeption
Eine adäquate Handhabung des rechtlichen Instrumentariums der Vollzugslockerungen und eine korrekte Auslegung der entsprechenden Vorschriften ist nicht möglich, ohne verfassungs- und kriminalrechtliche Grundlagen zu beachten: Ungeachtet der jeweiligen vollzugsrechtlichen Ausgestaltung von Lockerungsmaßnahmen in den Landesgesetzen hat der Patient unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf Verminderung des Freiheitsentzugs. Angesichts der Uneinheitlichkeit des Landesrechts (Welzel 1990b, 256; Pollähne 1994a, 91 ff; vgl Frisch 1990c, 784 f mwN) ist eine Rückbesinnung auf das Bundesrecht dringend erforderlich, nicht zuletzt um dem verfassungsrechtlichen Anspruch der Patienten auf Gleichbehandlung gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang verdienen auch internationale Standards verstärkt Beachtung (exempl Pollähne 2007 f und Völlm et al 2007 mwN, vgl Rn B 135 ff).
a) Verfassungsrechtliche Grundlagen
Die verfassungsrechtlichen Grundlagen für Verhängung, Vollstreckung und Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (vgl Kap B) erlangen eine besondere Bedeutung, wenn es um Vollzugslockerungen geht. Nicht nur der Freiheitsentzug an sich, der durch die Vollstreckung der Maßregel bewirkt wird, bedarf einer verfassungskonformen Legitimation (vgl Art 104 II GG): Auch das jeweils abgestufte Maß der Freiheitsentziehungen und -beschränkungen im Vollzug lässt sich im Einzelfall nur rechtfertigen durch den Nachweis einer konkreten Gefahr, die unter spezifischen Bedingungen von dem Patienten ausgeht und einen bestimmten Grad der Sicherung erforderlich macht (Frisch 1990c, 787 ff; Welzel 1990b, 254; Pollähne 1994a, 45; vgl Saar-Drs 9/2239, 8; Hbg-Drs 13/1544, 27). Anstelle des stigmatisierenden Persönlichkeitsmerkmals der „Gefährlichkeit“ (vgl auch Böllinger 2007), so wie es etwa in den §§ 63 und 66 StGB zum Ausdruck kommt (ausf Dessecker 2004), ist daher von spezifischen „Gefahren“ zu sprechen, die sich auf zukünftige erhebliche rechtswidrige Taten beziehen (OLG Karlsruhe ZfStrVo 2004, 108, ähnlich §§ 62, 64 S 1, 68 I StGB; dazu Kobbé 1996, 100 ff, NK-Böllinger/Pollähne § 61 Rn 58 sowie Kammeier Rn A 9 f mwN und ders 1996 zur historischen Entwicklung der Begrifflichkeiten; krit zum Stigmatisierungstrend Schott 2007, 102 ff).
Da den Maßregeln kein Strafcharakter zukommt (zu den grundsätzlichen Unterschieden Frisch 1990c, 769 f), ist die Aufrechterhaltung der gesicherten Unterbringung unzulässig, wenn sie über das durch die konkreten Gefahren indizierte Maß hinausgeht, etwa um der Schwere der Tat „gerecht“ zu werden, einen Schuldausgleich zu bewirken oder gar Vergeltung zu üben. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn neben der Maßregel Freiheitsstrafe verhängt worden ist, deren Vollstreckung sich an den Maßregelvollzug anschließen soll (Volckart/Grünebaum 2009, 181, vgl Rn F 84; zum Vikariierungsvollzug Pollähne/Rzepka Rn J 27 ff; zur Frage der Versagung oder des Widerrufs einer Lockerungsmaßnahme zur Disziplinierung Rn F 76, F 119, F 130).