Wie ich Förster wurde
Schon als kleiner Junge wollte ich Naturschützer werden. Die Familienurlaube im Allgäu oder auf den Nordseeinseln riefen in mir eine tiefe Sehnsucht nach weiten, ursprünglichen Landschaften hervor. Ging es wieder nach Hause, brach ich jedes Mal in Tränen aus. Diese Sehnsucht ist mir bis heute geblieben.
Naturschutz ist kein Studienzweig oder Lehrberuf und so schrieb ich mich nach dem Abitur für ein Biologiestudium ein, auch wenn mir nicht so richtig klar war, was ich damit später anfangen sollte. Eines Tages brachte mir meine Mutter einen Artikel aus der Tageszeitung, in dem die Bezirksregierung Koblenz Stellen für eine interne Ausbildung zum Förster ausschrieb. Neben 200 anderen Bewerberinnen und Bewerbern schwitzte ich im Auswahltest über politischen Fragen, rechnete kleine Testaufgaben und wurde schließlich vor ein dreiköpfiges Gremium geladen. Hier stellte man die üblichen Fragen, zum Beispiel warum man Förster werden wolle. Und dann wurde es brenzlig: »Waren Sie schon bei der Bundeswehr oder werden Sie noch eingezogen?« Ich wurde rot. Nein, antwortete ich, ich sei aufgrund meiner Körpergröße von 1,98 Metern freigestellt worden. Untauglich also. Dumm nur, dass die Forstverwaltungen erzkonservative Behörden waren, die das Militärische geradezu liebten. Kein Wunder, rekrutierten sich die grünberockten Waldwächter doch früher aus den soldatischen Jägerregimentern – und auch jetzt noch wurde jeder, der nicht gedient hatte, argwöhnisch beäugt.
Ich wähnte mich also durchgefallen und sah mich schon als Biologiestudent im Hörsaal sitzen. Umso mehr überraschte mich Wochen später die Zusage, zum 1. September 1983 als Dienstanfänger eingestellt zu werden. Hurra!
Am Einstellungstermin wurden wir nach Koblenz zu einem Empfang des Regierungspräsidenten eingeladen, der anders als erwartet verlief. So ließ der ergraute Politiker keinen Sekt mit Häppchen reichen, sondern ermahnte uns polternd, keine modernen Radiosender zu hören. Eingeschüchtert warteten wir auf den nächsten Programmpunkt, doch das war’s: Willkommen in der Realität!
Das Dienstanfängerjahr entpuppte sich als ein Praktikum, das dem eigentlichen Studium vorgeschaltet war. Es war eine lustige, unbeschwerte Zeit mit den anderen jungen Kollegen, wenngleich uns immer wieder klargemacht wurde, dass wir die Anfänger waren und auf der niedrigsten Stufe standen. Wir waren schließlich noch keine Beamten. Ich verbrachte viel Zeit bei den Waldarbeitern des Lehrreviers und verrichtete schwere körperliche Arbeit. Ob Holzernte, Zaunbau oder Pflanzung, bei Wind und Wetter lernte ich das Spektrum der Aufgaben kennen. Die Arbeiter freuten sich, denn ihr Akkordlohn stieg durch meine Mitarbeit, die sie einfach als ihre eigene Arbeit verbuchten.
An meinem ersten Arbeitstag wurde ich gleich mit der grünen Realität konfrontiert. Ich hatte damals als 19-Jähriger kein Auto, sondern legte die 15 Kilometer bis zum Forsthaus meines Lehrherren mit dem Fahrrad zurück. Meine Kleidung bestand aus einer blauen, wattierten Jacke und einer hellblauen Jeans. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil es mir schon in den ersten Stunden meines neuen Daseins peinlich war. Blau! Das ging gar nicht. Selbst Dienstanfänger hatten Grün zu tragen, und so kaufte ich mir am nächsten Wochenende in einem Jagdkaufhaus in Bonn eine Kniebundhose aus Cord sowie ein Jagdhemd – natürlich in Olivgrün. Meine Mutter strickte mir passende Kniestrümpfe und so konnte ich im Dienst endlich erhobenen Hauptes auftreten.
Das Jahr wurde durch mehrere Lehrgänge im Dörfchen Trippstadt in der Pfalz unterbrochen. Hier lernte ich die anderen Jahrgangsteilnehmer kennen. Der Umgang mit der Motorsäge stand ebenso auf dem Kursplan wie die Pflege von Anpflanzungen oder der Einsatz von Insektiziden.
Im Herbst des darauffolgenden Jahres wurden wir alle zu Beamten auf Widerruf ernannt und an die Fachhochschule für Forstwirtschaft in Rottenburg am Neckar versetzt, eine Einrichtung, die von mehreren Bundesländern gemeinsam betrieben wurde. Dieses verwaltungsinterne Studium mit zwei praktischen und zwei Hochschuljahren jeweils im Wechsel funktionierte ähnlich wie ein duales Studium: Wir bekamen ein Gehalt und verpflichteten uns dafür, hinterher bei unserer Forstverwaltung zu arbeiten. Die Fachhochschule war klein und übersichtlich, fast schon familiär, allerdings mit strengen Regeln. So galt für jede Vorlesung Anwesenheitspflicht; Diskussionen über den dargebotenen Stoff gab es nicht und waren auch nicht erwünscht. Erst später wurde mir klar, dass wir so alle auf Linie gebracht wurden.
Ein Highlight war die Ausgabe der Uniformen. Jetzt sahen wir endlich wie richtige Förster aus! Grüne Jacken mit dunkelgrünen Aufschlägen, grüne Schulterstücke, die uns als Anwärter auswiesen, sowie ein Försterhut, natürlich auch in Grün, mit dem Landeswappen von Rheinland-Pfalz – so ausgestattet fühlten wir uns wichtig. Bei manchen Exkursionen war das Tragen der Dienstkleidung Pflicht und wir folgten dieser Anweisung gern.
Nach einem Jahr Büffeln folgte die Zwischenprüfung, der ich mit gemischten Gefühlen entgegensah, da ich etwas faul gewesen war und kaum gelernt hatte. Mein Kumpel Wolfgang, ebenfalls nicht besonders fleißig, bekam auch langsam Bedenken, je näher der Termin rückte. Kurz entschlossen opferten wir ein Wochenende und blieben an der Fachhochschule, um noch einmal die Sammlungen durchzugehen. Hier standen Holzstücke der wichtigsten Baumarten fein säuberlich auf Tischen sortiert und an den Wänden hingen Geräte für Waldarbeiter. Daneben fanden sich Tierpräparate, die uns aus Glasaugen anstarrten, und, ganz besonders wichtig, die Insektensammlung. Hunderte von Käfern waren mit Nadeln auf Schaumstoffkissen gespießt und einzeln in Schächtelchen gesetzt. Daneben lag ein Stück Holz oder Rinde mit dem Fraßbild der Schädlinge. Ein Student, der sich und uns mit der Stofffülle, die er für das absolut zu beherrschende Minimum hielt, verrückt machte, schien so oft hier zu sein, dass wir uns fragten, ob er im Ausstellungsraum auch übernachtete. Als er uns hereinkommen sah, dozierte er gleich ungefragt über Borkenkäfer. Ein Name kam mir besonders bizarr und auch völlig unwichtig vor. »Das hier ist das typische Fraßbild des Fichtenrindenbastkäfers.« Ich konnte ein Kichern kaum unterdrücken und blickte zu Wolfgang, dem es ähnlich ging. Wir verdrehten die Augen und verließen die staubige Sammlung, um noch ein Eis essen zu gehen.
Tags darauf fand die mündliche Prüfung im Fach Forstschutz statt, zu dem auch die Insektenkunde gehörte. Und was wurde mir vom Professor vorgelegt? Der Fichtenrindenbastkäfer. Volle Punktzahl! Dieser eine Name hat sich seither in mein Gedächtnis eingebrannt. Wichtiger aber war, ich bestand die Zwischenprüfung und durfte endlich wieder in den Wald!
Im dritten Jahr mussten wir, jeder an einer anderen Dienststelle, beweisen, was wir gelernt hatten. Ich wurde einem Eifelforstamt zugewiesen, in dem die Uhren noch etwas langsam gingen. Es war von einem riesigen Waldgebiet in Staatsbesitz geprägt und hatte entgegen dem gesetzlichen Auftrag, sich schwerpunktmäßig um die Bäume zu kümmern, offensichtlich die Jagd als wichtigstes Betätigungsfeld. Hier wurden Hirsche und Muffelschafe in großer Zahl gehegt, was mir damals aber nicht seltsam vorkam, sondern aufregend. Für mich als kleines Licht gab es nur beschränkte Abschussmöglichkeiten. Struppige Rehe, die kurz vor dem Verhungern waren, gestand man dem forstlichen Nachwuchs zu. Die dicken Hirsche mit den ausladenden Geweihen waren für andere reserviert: Diese begehrten Tiere durften Beamte des Ministeriums, Jagdgäste aus der Wirtschaft oder der Forstamtsleiter erlegen. Normale Förster kamen in der Regel nur einmal bei solchen Trophäenträgern zum Zug, und zwar am Ende ihrer Dienstzeit. Dann erhielten sie die Freigabe für einen »Pensionshirsch«. Damals empfand ich diese Art des Wildmanagements als etwas völlig Logisches und den Jagdbetrieb selber als wichtigen Bestandteil meines künftigen Berufs.
Ich selbst hatte kein Jagdglück. Nur einmal, während einer Treibjagd, wäre es fast passiert. Denn bei einer solchen Gelegenheit darf jeder Schütze, also auch Studenten, alles Wild aufs Korn nehmen, das die behördlichen Abschusspläne freigegeben haben.
Schon von Weitem hörte ich die Hunde bellen, die in meine Richtung unterwegs waren. Da sie irgendetwas vor sich her zu treiben schienen, machte ich mich schussfertig. Es knackte im Unterholz und dann sah ich einen jungen Hirsch hervorbrechen. Mit kleinem Geweih zwar, aber für mich als Jungspund eigentlich eine Nummer zu groß. Etwa 100 Meter von mir entfernt stand der zuständige Revierleiter. Er war bekannt dafür, Hirsche zu füttern und zu schonen, bis sie eines Tages als mächtige Geweihträger geschossen wurden. Ihm musste das Herz bluten, dass sein geliebtes Rotwild so dezimiert werden sollte. Und ausgerechnet mir als einem der Rangniedrigsten lief so ein Tier vor die Büchse. Also ließ er den Hund, der bis dahin brav neben ihm gelegen hatte, blitzartig von der Leine. Und der Vierbeiner wusste genau, was er zu tun hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich ihn spurten, geradezu fliegen, hinüber zu mir. Das Gewehr im Anschlag auf den Hirsch wähnte ich mich schon als erfolgreichen Schützen, da bemerkte er den Hund und machte auf den Hinterbeinen kehrt. Aus der Traum, weg war er.
Als Jäger durfte ich mich an diesem bitterkalten Wintertag trotzdem noch betätigen. Zusammen mit anderen...