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Griechische Kulturgeschichte, Band 2

Vollständige Ausgabe

AutorJacob Burckhardt
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl450 Seiten
ISBN9783849606305
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Burckhardts Werk gehört auch heute noch zu den absoluten Klassikern der Kulturgeschichte und ist ein unerschöpfliches Referenzwerk. Dies ist Band 2 mit folgendem Inhalt: Inhalt: Einleitung Dritter Abschnitt. Religion und Kultus I. Die Metamorphosen II. Die Griechen und ihre Götter III. Der griechische Heroenkultus Vierter Abschnitt. Die Erkundung der Zukunft Fünfter Abschnitt. Zur Gesamtbilanz des griechischen Lebens Nachträge

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Leseprobe

 


Andere Polytheismen sind in großen geistigen Krisen der betreffenden Völker einer Systematisierung, einer theologischen Vereinfachung anheimgefallen. Ein starkes, zusammenhängendes Priestertum, wie es die Griechen in keiner Periode ihres Daseins besaßen (so wenig als ein gemeinsames Staatswesen), hat sich erhoben und die Religion mehr oder weniger der Reflexion und Spekulation untertan gemacht. Wo eine solche Kraft Meister wird, macht sie der Mythenbildung ein Ende und stellt an die Spitze der Religion ein Götterpaar mit einem jährlich neu erzeugten und früh gestorbenen Göttersohn oder eine Trimurti oder zwei Weltprinzipien mit dämonischem Gefolge usw.; das übrige reduziert sie auf Lokalgötter, Nebendämonen und Märchengestalten. Der griechische Polytheismus hat sich dieser Systematisierung erwehrt und seine alte, aller Reflexion vorangehende Gestalt behauptet; der Theogonie blieb es unbenommen, in die gewaltige Vielheit des Götterlebens einen Zusammenhang zu bringen, aber auch sie war nicht das Werk von Theologen, sondern von volkstümlichen Sängern und änderte nichts am Wesen der Götter. Die religiöse Spekulation der Orphiker und des Pythagoras kam viel zu spät, und sie konnten dem Homer und dem Hesiod nur einen ohnmächtigen Haß widmen. Die Philosophen der Folgezeit aber, so vieles sie auch über Götter und Gottheit vorbrachten – bis zum Monotheismus und anderseits bis zur völligen Leugnung der Götter – haben auch nicht einen kleinen Gott oder Heros von seiner Stelle im Volkskultus entfernen können.

 

Zunächst wird allgemein zugegeben, daß die griechischen Anschauungen zu dem großen Grundkapital des Glaubens der arischen Völker gehören. Weit über viele Länder hinaus hat man in dem Götterwesen der Vedas nicht nur alte Verwandte von Griechengöttern erkannt, sondern sogar eine Anzahl von Namensanklängen verfolgen können; nicht zu gedenken einer großen Menge von Sagen und mythischen Anschauungen, welche die Griechen mit andern Ariern teilen. Im Grunde läge also die Forschung über den Ursprung der Griechengötter um eine große Stufe höher rückwärts. Immerhin bescheiden wir uns, in diesen bestrittenen Fragen keine eigene Ansicht zu haben.

 

Allein in den alten Stämmen, aus welchen die Hellenen hervorgegangen sind, lebte noch eine solche Bildkraft, daß auf dem Boden Griechenlands und des vordern und südlichen Kleinasiens die ganze Gestaltenwelt der Götter und göttlichen Kräfte neu umgeschaffen oder geschaffen werden konnte. Und nun knüpfen sich an den Orakelsitz von Dodona zweierlei Ansichten, welche scheinbar ein Anrecht auf hohes Alter und Ursprünglichkeit haben.

 

Die eine, von Herodot (II, 52 ff.) vertretene geht dahin, daß die als Vorfahren der Griechen geltenden Pelasger die Götter verehrt hätten, ohne deren Namen zu kennen, welche ihnen erst später aus Ägypten zugekommen seien.

 

Dies wäre unrichtig schon wegen derjenigen namentlich bekannten Götterwesen der Vedas, welche mit griechischen verwandt sind, ja deren Namen mit griechischen zusammenklingen sollen. Sodann mußte man Einzelnamen der Götterwesen haben, sobald eine Anzahl von solchen unterschieden und verehrt wurde; auch wenn die Pelasger sie nicht einmal mit Namen laut angerufen hätten, mußten sie doch unter sich von denselben sprechen und sie einzeln deutlich bezeichnen können. Auch möge man erwägen, wie unglaublich fruchtbar die Griechen schon nach den frühesten vorhandenen Zeugnissen im Erschaffen von bestimmten Einzelgestalten und deren Namen gewesen sind. Die Übertragung ägyptischer Namen endlich ist ein Irrtum, den niemand verficht.

 

Die zweite Lehre von Dodona, wie sie uns aus dem Gesang der Priesterinnen, der sogen. Peleiaden1, entgegentönt, scheidet das Göttliche und die Welt in zwei große Mächte:

 

"Zeus war, Zeus ist, Zeus wird sein, o gewaltiger Zeus du!

 

Ge bringt Früchte hervor, drum preiset als Mutter die Erde!"

 

Also vermutlich ein Zeugendes und ein Empfangendes; noch Pausianas kannte (I, 24, 3) ein Bildwerk: Gäa, den Zeus um Regen flehend. In erweiterter Auffassung mag Zeus den Äther, die großen und kleinen Himmelslichter und alles Meteorische umfaßt haben2, Gäa, die Herrin der unterirdischen Kräfte und der in den Gräbern noch lebend gedachten Menschen, auch der Orakel geworden sein. Wahrscheinlich eine jener in sehr alter Zeit mit gewaltiger Mühe gewonnenen Abstraktionen, welche doch nicht ein ganz Ursprüngliches sind. Solche können dann nahe und ferne großen Eindruck auf das Volk machen3, ohne doch dessen sonstigen Glauben aus den Angeln zu heben. Dieser aber wird bei den Griechen (soweit wir überhaupt mit unsern Ahnungen reichen) doch eher ein Polytheismus gewesen sein; Naturreligionen, wie es die arischen im Grunde sind, werden wohl am ehesten begonnen haben mit Sonne und Mond, mit Wetterdämonen schrecklicher und günstiger Art, mit Gottheiten des Krieges und der Entbindung, mit der Verehrung von Quellen und Flüssen, und wo man an einem Strande lebte, mit den Gestalten der Meeresflut. Diese alle mögen vorhanden gewesen sein vor und neben jener Weltteilung zwischen Zeus und Gäa.

 

Immerhin hat die neuere Forschung4 wenigstens an jenes Wort des Herodot wieder anzuknüpfen gesucht: "Zeus war für jene Zeit nicht bloß der oberste Gott, sondern er war auch der einzige, dem dieser Name zukommt. Denn die namenlosen Götter, von welchen Herodot berichtet, was konnten sie anders sein als eine Schar pandämonischer Vorstellungen zweiten Grades? Und als sie dann Namen erhielten, da waren es Hermes, Poseidon und die Dioskuren, Hera, Hestia und Themis, die Chariten und Nereiden – elementare Gestalten und Gattungswesen." Allein namenlose höhere Einzelmächte sind wohl, wie gesagt, überhaupt für keine Zeit anzunehmen, und selbst, wenn diese Einzelmächte, welche später Hermes, Poseidon usw. geworden sein sollen, keine Namen gehabt hätten, wer will beweisen, daß sie nicht bereits ihre Kulte der Verehrung oder der Angst genossen? d.h. wer kann ihnen das Prädikat der Göttlichkeit streitig machen und überhaupt "Grade" unterscheiden? Mit Unrecht aber sind hier in der nämlichen Reihe auch Chariten und Nereiden mitgenannt, denn diese, samt unzähligen andern Wesen meist elementarischer Bedeutung, lebten in der griechischen wie in andern Religionen als ganze Kategorien, und auf diese Kollektivwesen pflegt man auch wohl den Namen "Dämonen" zu beschränken. Diese haben dann allerdings entweder nie oder erst beträchtlich später, und nicht durch den Glauben, sondern durch Poesie und Kunst Namen, d.h. Individualität erhalten, bis zuletzt die Vasenmaler sogar den einzelnen Satyrn Eigennamen beischrieben.

 

Höchst wahrscheinlich lebten und bestanden in jenen Urzeiten der noch nicht völlig ausgeglichenen griechischen Nationalität sehr verschiedene Gestalten von Götterglauben und Götterdienst je nach Gegenden und Bevölkerungsschichten nebeneinander, ein Vorbehalt, welchen man nie wird aus den Augen lassen dürfen. Und nun wird zuzugeben sein, daß Zeus in alter Zeit wirklich ein Primat anderer Art besessen habe als später. Es ist möglich, daß dieser Glaube in Dodona zuerst eine Art von abstrakter theologischer Fassung annahm und jenes Bild eines Weltgötterpaares hervorbrachte, während vielleicht anderswo andere Verherrlichungen Geltung erlangten. Zu einer "reinern Urreligion" aber, womit man die ältesten Griechen hat beehren wollen, reicht jene wesentlich höhere Stellung des Zeus noch bei weitem nicht hin. Neben allen sonstigen Ungewißheiten wird man überdies durch eine konkurrierende Gestalt beständig irre gemacht. Derjenige Zeus nämlich, dessen Geburt und Jugend (seit der Höhle auf Kreta und ihren Wundern) erzählt und an mehrern Orten lokalisiert wurde, ist offenbar von Hause aus ein ganz anderes Wesen als der Himmels- und Äthergott. Noch Spätern dämmerte etwas hiervon, und es hieß, der Zeus von Kreta sei nur der Großonkel des Weltherrschers Zeus gewesen5.

 

Die älteste zusammenhängende Überlieferung griechischer Religiosität, welche wir überhaupt besitzen, ist wichtig für Zeus sowohl als für den Glauben an dämonische Kollektivwesen. Auch, was wir hier erfahren, braucht keineswegs eine allgemeine Ansicht gewesen zu sein; sicher ist nur, daß in alter Zeit böotische Landleute so glaubten, und daß Hesiod in seinen "Werken und Tagen" der Dolmetsch dieser Lehre ist.

 

Zwar sind bei ihm schon große andere Götter vorhanden; der Wein ist (V. 612) das Geschenk des freudenvollen Dionysos, und der Dorfschmied heißt (429) der Knecht der Athene; Poseidon kann die Schiffe verderben (665), auch ist von der Gesamtheit der Götter die Rede, "welche den Olymp inne haben". Allein Zeus ist der große allgemeine Gott, der Führer des Jahres, besonders der Regenspender, der Herr des Menschenlebens und aller seiner Schicksale und Mühen6, wenn auch dazwischen die Unsterblichen, die Glückseligen, die Ewigen insgesamt als Lebensherrscher genannt werden. Neben Zeus ist dann die Erde, die ehemalige Gäa, bereits zur Demeter geworden, und ihnen beiden gilt das Gebet um Gedeihen der Saatfrucht7; Demeter, die Schönbekränzte, füllt dem Fleißigen die Scheune. Gott des Rechtes auf Erden ist Zeus nicht von sich aus, sondern er bedarf dazu (256 ff.) seiner Tochter Dike, welche, wenn irgendwo gefrevelt wird, sich erst neben ihn setzt und klagt8....

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