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Die Kultur der Renaissance in Italien

Vollständige Ausgabe

AutorJacob Burckhardt
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl516 Seiten
ISBN9783849606107
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Burckhardts Werk wurde erstmals 1860 veröffentlicht und ist heute noch von größter Bedeutung für das Verständnis des Strukturwandels von Staat und Kirche im Ausgang des Mittelalters und die damit einhergehende Ausbildung des 'modernen', individuellen Menschen.

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Leseprobe

Zweiter Abschnitt Entwicklung des Individuums


 

In der Beschaffenheit dieser Staaten, Republiken wie Tyrannien, liegt nun zwar nicht der einzige, aber der mächtigste Grund der frühzeitigen Ausbildung des Italieners zum modernen Menschen. Daß er der Erstgeborne unter den Söhnen des jetzigen Europas werden musste, hängt an diesem Punkte.

 

Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewusstseins – nach der Welt hin und nach dem Innern des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt, der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgend einer Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches. So hatte sich einst erhoben der Grieche gegenüber den Barbaren, der individuelle Araber gegenüber den andern Asiaten als Rassenmenschen. Es wird nicht schwer sein nachzuweisen, daß die politischen Verhältnisse hieran den stärksten Anteil gehabt haben.

 

Schon in viel frühern Zeiten gibt sich stellenweise eine Entwicklung der auf sich selbst gestellten Persönlichkeit zu erkennen, wie sie gleichzeitig im Norden nicht so vorkommt oder sich nicht so enthüllt. Der Kreis kräftiger Frevler des 10. Jahrhunderts, welchen Liutprand schildert, einige Zeitgenossen Gregors VII., einige Gegner der ersten Hohenstaufen zeigen Physiognomien dieser Art. Mit Ausgang des 13. Jahrhunderts aber beginnt Italien von Persönlichkeiten zu wimmeln; der Bann, welcher auf dem Individualismus gelegen, ist hier völlig gebrochen; schrankenlos spezialisieren sich tausend einzelne Gesichter. Dantes grosse Dichtung wäre in jedem andern Lande schon deshalb unmöglich gewesen, weil das übrige Europa noch unter jenem Banne der Rasse lag; für Italien ist der hehre Dichter schon durch die Fülle des Individuellen der nationalste Herold seiner Zeit geworden. Doch die Darstellung des Menschenreichtums in Literatur und Kunst, die vielartig schildernde Charakteristik wird in besondern Abschnitten zu besprechen sein; hier handelt es sich um die psychologische Tatsache selbst. Mit voller Ganzheit und Entschiedenheit tritt sie in die Geschichte ein; Italien weiss im 14. Jahrhundert wenig von falscher Bescheidenheit und von Heuchelei überhaupt; kein Mensch scheut sich davor, aufzufallen, anders zu sein und zu scheinen als die andern .

 

Zunächst entwickelt die Gewaltherrschaft, wie wir sahen, im höchsten Grade die Individualität des Tyrannen, des Condottiere selbst, sodann diejenige des von ihm protegierten, aber auch rücksichtslos ausgenützten Talentes, des Geheimschreibers, Beamten, Dichters, Gesellschafters. Der Geist dieser Leute lernt notgedrungen alle seine innern Hülfsquellen kennen, die dauernden wie die des Augenblickes; auch ihr Lebensgenuss wird ein durch geistige Mittel erhöhter und konzentrierter, um einer vielleicht nur kurzen Zeit der Macht und des Einflusses einen grösstmöglichen Wert zu verleihen.

 

Aber auch die Beherrschten gingen nicht völlig ohne einen derartigen Antrieb aus. Wir wollen diejenigen ganz ausser Berechnung lassen, welche ihr Leben in geheimem Widerstreben, in Verschwörungen verzehrten, und bloss derer gedenken, die sich darein fügten, reine Privatleute zu bleiben etwa wie die meisten Städtebewohner des byzantinischen Reiches und der mohammedanischen Staaten. Gewiss wurde es z. B. den Untertanen der Visconti oft schwer genug gemacht, die Würde des Hauses und der Person zu behaupten, und Unzählige mögen durch die Knechtschaft am sittlichen Charakter Einbusse erlitten haben. Nicht so an dem, was man individuellen Charakter nennt, denn gerade innerhalb der allgemeinen politischen Machtlosigkeit gediehen wohl die verschiedenen Richtungen und Bestrebungen des Privatlebens um so stärker und vielseitiger. Reichtum und Bildung, soweit sie sich zeigen und wetteifern durften, in Verbindung mit einer noch immer grossen munizipalen Freiheit und mit dem Dasein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz und in der islamischen Welt, mit dem Staat identisch war – alle diese Elemente zusammen begünstigten ohne Zweifel das Aufkommen individueller Denkweisen, und gerade die Abwesenheit des Parteikampfes fügte hier die nötige Musse hinzu. Der politisch indifferente Privatmensch mit seinen teils ernsten, teils dilettantischen Beschäftigungen möchte wohl in diesen Gewaltstaaten des 14. Jahrhunderts zuerst vollkommen ausgebildet aufgetreten sein. Urkundliche Aussagen hierüber sind freilich nicht zu verlangen; die Novellisten, von welchen man Winke erwarten könnte, schildern zwar manchen bizarren Menschen, aber immer nur in einseitiger Absicht und nur soweit dergleichen die zu erzählende Geschichte berührt; auch spielt ihre Szene vorwiegend in republikanischen Städten.

 

In diesen letztern waren die Dinge wieder auf andere Weise der Ausbildung des individuellen Charakters günstig. Je häufiger die Parteien in der Herrschaft abwechselten, um soviel stärker war der einzelne veranlaßt, sich zusammenzunehmen bei Ausübung und Genuss der Herrschaft. So gewinnen zumal in der florentinischen Geschichte die Staatsmänner und Volksführer ein so kenntliches persönliches Dasein wie sonst in der damaligen Welt kaum ausnahmsweise einer, kaum ein Jacob von Arteveldt.

 

Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft in eine ähnliche Stellung wie die Untertanen der Tyrannenstaaten, nur dass die bereits gekostete Freiheit oder Herrschaft, vielleicht auch die Hoffnung auf deren Wiedergewinn ihrem Individualismus einen höhern Schwung gab. Gerade unter diesen Männern der unfreiwilligen Musse findet sich z. B. ein Agnolo Pandolfini (+ 1446), dessen Schrift »vom Hauswesen« das erste Programm einer vollendet durchgebildeten Privatexistenz ist. Seine Abrechnung zwischen den Pflichten des Individuums und dem unsichern und undankbaren öffentlichen Wesen ist in ihrer Art ein wahres Denkmal der Zeit zu nennen.

 

Vollends aber hat die Verbannung die Eigenschaft, dass sie den Menschen entweder aufreibt oder auf das höchste ausbildet. »In all unsern volkreichern Städten«, sagt Gioviano Pontano , »sehen wir eine Menge Leute, die freiwillig ihre Heimat verlassen haben; die Tugenden nimmt man ja überall hin mit.« In der Tat waren es bei weitem nicht bloss förmlich Exilierte, sondern Tausende hatten die Vaterstadt ungeheissen verlassen, weil der politische oder ökonomische Zustand an sich unerträglich wurde. Die ausgewanderten Florentiner in Ferrara, die Lucchesen in Venedig usw. bildeten ganze Kolonien.

 

Der Kosmopolitismus, welcher sich in den geistvollsten Verbannten entwickelt, ist eine höchste Stufe des Individualismus. Dante findet, wie schon erwähnt wurde ( ), eine neue Heimat in der Sprache und Bildung Italiens, geht aber doch auch darüber hinaus mit den Worten: »Meine Heimat ist die Welt überhaupt !« – Und als man ihm die Rückkehr nach Florenz unter unwürdigen Bedingungen anbot, schrieb er zurück: »Kann ich nicht das Licht der Sonne und der Gestirne überall schauen? nicht den edelsten Wahrheiten überall nachsinnen, ohne deshalb ruhmlos, ja schmachvoll vor dem Volk und der Stadt zu erscheinen? Nicht einmal mein Brod wird mir fehlen !« Mit hohem Trotz legen dann auch die Künstler den Akzent auf ihre Freiheit vom Ortszwang. »Nur wer alles gelernt hat«, sagt Ghiberti , »ist draussen nirgends ein Fremdling; auch seines Vermögens beraubt, ohne Freunde, ist er doch der Bürger jeder Stadt und kann furchtlos die Wandelungen des Geschickes verachten.« Aehnlich sagt ein geflüchteter Humanist: »Wo irgend ein gelehrter Mann seinen Sitz aufschlägt, da ist gute Heimat .«

 

Ein sehr geschärfter kulturgeschichtlicher Blick dürfte wohl imstande sein, im 15. Jahrhundert die Zunahme völlig ausgebildeter Menschen schrittweise zu verfolgen. Ob dieselben das harmonische Ausrunden ihres geistigen und äussern Daseins als bewusstes, ausgesprochenes Ziel vor sich gehabt, ist schwer zu sagen; mehrere aber besassen die Sache, soweit dies bei der Unvollkommenheit alles Irdischen möglich ist. Mag man auch z. B. verzichten auf eine Gesamtbilanz für Lorenzo magnifico, nach Glück, Begabung und Charakter, so beobachtet man dafür eine Individualität wie die des Ariosto hauptsächlich in seinen Satiren. Bis zu welchem Wohllaut sind da ausgeglichen der Stolz des Menschen und des Dichters, die Ironie gegen die eigenen Genüsse, der feinste Hohn und das tiefste Wohlwollen.

 

Wenn nun dieser Antrieb zur höchsten Ausbildung der Persönlichkeit zusammentraf mit einer wirklich mächtigen und dabei vielseitigen Natur, welche sich zugleich aller Elemente der damaligen Bildung bemeisterte, dann entstand der »allseitige Mensch«, l'uomo universale, welcher ausschliesslich Italien angehört. Menschen von enzyklopädischem Wissen gab es durch das ganze Mittelalter in verschiedenen Ländern, weil dieses Wissen nahe beisammen war; ebenso kommen noch bis ins 12. Jahrhundert allseitige Künstler vor, weil die Probleme der Architektur relativ einfach und gleichartig waren und in Skulptur und Malerei die darzustellende Sache über die Form vorherrschte. In dem Italien der Renaissance dagegen treffen wir einzelne Künstler, welche...

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