Monistische Studien über menschliche und vergleichende Ontogenie.
Übereinstimmung in der Keimbildung und Entwicklung des Menschen und der Wirbeltiere.
In noch höherem Maße als die vergleichende Anatomie und Physiologie ist die vergleichende Ontogenie, die Entwicklungsgeschichte des Einzeltieres oder Individuums, ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Wie entsteht der Mensch im Mutterleibe? Und wie entstehen die Tiere aus den Eiern? Wie entsteht die Pflanze aus dem Samenkorn? Diese inhaltschwere Frage hat zwar auch schon seit Jahrtausenden den denkenden Menschengeist beschäftigt; aber erst sehr spät, 1828, zeigte uns der Embryologe Baer die rechten Wege, um tiefer in die Kenntnis der geheimnisvollen Tatsachen der Keimesgeschichte einzudringen; und noch viel später, 1859, lieferte uns Darwin durch seine Reform der Deszendenztheorie den Schlüssel, mit dessen Hilfe wir die verschlossene Pforte ihres Verständnisses öffnen und zur Erkenntnis ihrer Ursachen gelangen können. Da ich diese hochinteressanten, aber auch schwierig zu verstehenden Verhältnisse schon in meiner Keimesgeschichte des Menschen (im ersten Teile der Anthropogenie, 1874) einer ausführlichen Darstellung unterzogen habe, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zusammenfassung und Deutung nur der wichtigsten Erscheinungen. Wir wollen dabei zunächst einen historischen Rückblick auf die ältere Ontogenie und die damit verknüpfte Präformationstheorie werfen.
Wie für die vergleichende Anatomie, so sind auch für die Entwicklungsgeschichte die klassischen Werke des Aristoteles, des vielseitigen »Vaters der Naturgeschichte«, die älteste uns bekannte wissenschaftliche Quelle (im vierten Jahrhundert v. Chr.). Nicht allein in seiner großen Tiergeschichte, sondern auch in einer besonderen kleinen Schrift: »Fünf Bücher von der Zeugung und Entwicklung der Tiere«, erzählt uns der große Philosoph eine Menge von interessanten Tatsachen und stellt Betrachtungen über deren Bedeutung an; viele davon sind erst in unserer Zeit wieder zur Geltung gekommen und eigentlich erst wieder neu entdeckt worden. Natürlich sind aber daneben, auch viele Fabeln und Irrtümer zu finden, und von der verborgenen Entstehung des Menschenkeimes war noch nichts Näheres bekannt. Aber auch in dem langen, folgenden Zeiträume von zwei Jahrtausenden machte die schlummernde Wissenschaft keine weiteren Fortschritte. Erst im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts fing man wieder an, sich damit zu beschäftigen; der italienische Anatom Fabricius ab Aquapendente (in Padua.) veröffentlichte 1600 die ältesten Abbildungen und Beschreibungen von Embryonen des Menschen und einiger höherer Tiere, und der berühmte Marcello Malpighi in Bologna, gleich bahnbrechend in der Zoologie wie in der Botanik, gab 1687 die erste zusammenhängende Darstellung von der Entstehung des Hühnchens im bebrüteten Ei.
Alle diese älteren Beobachter waren von der Vorstellung beherrscht, daß im Ei der Tiere, ähnlich wie im Samen der höheren Pflanzen, der ganze Körper mit allen seinen Teilen bereits fertig vorhanden sei, nur in einem so feinen und so durchsichtigen Zustande, daß man sie nicht erkennen könne; die ganze Entwicklung sei demnach nichts weiter als Wachstum oder »Auswicklung« (Evolutio) der eingewickelten Teile. Diese falsche Lehre, die bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts fast allgemein in Geltung blieb, nennen wir am besten die Vorbildungslehre oder Präformationstheorie; oft wird sie auch »Evolutionstheorie« genannt; allein unter diesem Begriffe verstehen viele neuere Autoren, besonders in England, auch die ganz verschiedene Transformationstheorie.
In engem Zusammenhange mit der Präformationslehre und in berechtigter Schlußfolge aus derselben entstand im siebzehnten Jahrhundert eine weitere Theorie, welche die denkenden Biologen lebhaft beschäftigte, die sonderbare »Einschachtelungslehre«. Da man annahm, daß im Ei bereits die Anlage des ganzen Organismus mit allen seinen Teilen vorhanden sei, mußte auch der Eierstock des jungen Keimes mit den Eiern der folgenden Generation darin vorgebildet sein, und in diesen wiederum die Eier der nächstfolgenden usw., in infinitum! Daraufhin berechnete der berühmte Physiologe Haller, daß der liebe Gott vor 6000 Jahren – am sechsten Tage seines Schöpfungswerkes – die Keime von 200000 Millionen Menschen gleichzeitig erschaffen und sie im Eierstock der ehrwürdigen Urmutter Eva kunstgerecht eingeschachtelt habe. Kein Geringerer als der hochangesehene Philosoph Leibniz schloß sich diesen Ausführungen an und verwertete sie für seine Monadenlehre; und da dieser zufolge sich Seele und Leib in ewig unzertrennlicher Gemeinschaft befinden, übertrug er sie auch auf die Seele; – »die Seelen der Menschen haben in deren Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfang der Dinge (!), immer in der Form organisierter Körper existiert«.
Im November 1759 verteidigte in Halle ein junger 26 jähriger Mediziner, Kaspar Friedrich Wolff (- der Sohn eines Berliner Schneiders -), seine Doktordissertation unter dem Titel »Theoria generationis«. Gestützt auf eine Reihe der mühsamsten und sorgfältigsten Beobachtungen, wies er nach, daß die ganze herrschende Präformations- und Skatulationstheorie falsch sei. Im bebrüteten Hühnerei ist anfangs noch keine Spur vom späteren Vogelkörper und seinen Teilen vorhanden; vielmehr finden wir statt dessen oben auf der bekannten gelben Dotterkugel eine kleine, kreisrunde, weiße Scheibe. Diese dünne »Keimscheibe« wird länglich rund und zerfällt dann in vier übereinanderliegende Schichten, die Anlagen der vier wichtigsten Organsysteme: zuerst die oberste, das Nervensystem, darunter die Fleischmasse (Muskelsystem), dann das Gefäßsystem mit dem Herzen und zuletzt der Darmkanal. Also, sagt Wolff richtig, besteht die Keimbildung nicht in einer Auswicklung vorgebildeter Organe, sondern in einer Kette von Neubildungen, einer wahren »Epigenesis«; ein Teil entsteht nach dem anderen, und alle erscheinen in einer einfachen Form, welche von der später ausgebildeten, ganz verschieden ist; diese entsteht erst durch eine Reihe der merkwürdigsten Umbildungen. Obgleich nun diese große Entdeckung – eine der wichtigsten des achtzehnten Jahrhunderts! – sich unmittelbar durch Nachuntersuchung der beobachteten Tatsachen hätte bestätigen lassen, und obgleich die darauf gegründete »Theorie der Generation« eigentlich gar keine Theorie, sondern eine nackte Tatsache war, fand sie dennoch ein halbes Jahrhundert hindurch nicht die mindeste Anerkennung. Besonders hinderlich war die mächtige Autorität von Haller, der sie hartnäckig bekämpfte mit dem Dogma: »Es gibt kein Werden! Kein Teil im Tierkörper ist vor dem anderen gemacht worden, und alle sind zugleich erschaffen.« Wolff, der nach Petersburg gehen mußte, war schon lange tot, als die vergessenen, von ihm beobachteten Tatsachen von Lorenz Oken in Jena (1806) aufs neue entdeckt wurden.
Nachdem durch Oken die Epigenesistheorie von Wolff bestätigt und durch Meckel (1812) dessen wichtige Schrift über die Entwicklung des Darmkanals aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt war, warfen sich in Deutschland mehrere junge Naturforscher mit großem Eifer auf die genauere Untersuchung der Keimesgeschichte. Der bedeutendste und erfolgreichste derselben war Karl Ernst Baer; sein berühmtes Hauptwerk erschien 1828 unter dem Titel: »Entwicklungsgeschichte der Tiere, Beobachtung und Reflexion.« Nicht allein sind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollständig beschrieben, sondern auch zahlreiche geistvolle Spekulationen daran geknüpft. Vorzugsweise ist zwar die Embryobildung des Menschen und der Wirbeltiere genau dargestellt, aber daneben auch die wesentlich verschiedene Ontogenie der niederen, wirbellosen Tiere berücksichtigt. Die zwei blattförmigen Schichten, welche in der runden Keimscheibe der höheren Wirbeltiere auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in je zwei Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich in vier Röhren, die Fundamentalorgane: Hautschicht, Fleischschicht, Gefäßschicht und Schleimschicht. Durch sehr verwickelte Prozesse der Epigenesis entstehen daraus die späteren Organe, und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbeltieren in wesentlich gleicher Weise. Ganz anders verhalten sich darin die drei Hauptgruppen der wirbellosen Tiere, unter sich wieder sehr verschieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis dahin hatte man beim Menschen, wie bei allen anderen Säugetieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock finden. Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in diesen Bläschen, den »Graafschen Follikeln« eingeschlossen und viel kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu sehen. Auch entdeckte er zuerst, daß aus dieser kleinen Eizelle der Säugetiere sich zunächst eine charakteristische Keimblase entwickelt, eine Hohlkugel mit flüssigem Inhalt, deren Wand die dünne Keimhaut bildet.
Zehn Jahre, nachdem Baer der Embryologie durch seine Keimblätterlehre eine feste Grundlage gegeben, entstand für dieselbe eine neue wichtige Aufgabe durch die Begründung der Zellentheorie (1838). Wie verhalten sich das Ei der Tiere und die daraus entstehenden Keimblätter zu den Geweben und Zellen, welche den entwickelten Tierkörper...